Greifen und BeGreifen

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Symptome, die auf einen stark fortbestehenden Tonischen Labyrinthreflex (vorwärts) hindeuten:

1. Schlechte Haltung – krummer Rücken.

2. Hypotonie (schwacher Muskeltonus).

3. Probleme, die mit dem Gleichgewichtsorgan zusammenhängen:

– Schwach entwickelter Gleichgewichtssinn

– Neigung zu Reiseübelkeit (besonders im Auto)

4. Abneigung gegen sportliche Aktivitäten, Sportunterricht, Laufen etc.

5. Okulomotorische Dysfunktionen:

– Visuelle Wahrnehmungsprobleme.

– Räumliche Wahrnehmungsprobleme.

6. Schwächen im Erkennen und Einhalten von Abfolgen.

7. Schwach ausgebildetes Zeitgefühl.

Symptome, die auf einen stark fortbestehenden Tonischen Labyrinthreflex (rückwärts) hindeuten:

1. Schlechte Haltung – Neigung, auf Zehenspitzen zu gehen.

2. Schlechte Balance und Koordination.

3. Hypertonie: steife, ruckartige Bewegungen, da die Streckmuskeln größeren Einfluss ausüben als die Beugemuskeln.

4. Probleme, die mit dem Gleichgewichtsorgan zusammenhängen:

– Schwach entwickelter Gleichgewichtssinn.

– Neigung zu Reiseübelkeit.

5. Okulomotorische Dysfunktionen:

– Schwierigkeiten bei der visuellen Wahrnehmung.

– Räumliche Wahrnehmungsprobleme.

6. Schwächen im Erkennen und Einhalten von Abfolgen.

7. Schwach ausgebildete Organisationsfähigkeit.

Der Symmetrische Tonische Nackenreflex

Beugung


Entstehung: bei der Geburt präsent.

Hemmung: 8–11 Monate nach der Geburt.

Wenn das Kind sich in der Vierfüßlerposition befindet, führt das Beugen des Kopfes zu einer Beugung der Arme und zur Streckung der Beine.

Streckung


Entstehung: bei der Geburt präsent.

Hemmung: 8–11 Monate nach der Geburt.

Das Heben des Kopfes führt zu einer Beugung der Beine und zur Streckung der Arme.

Der Symmetrische Tonische Nackenreflex ist nur eine sehr kurze Zeitspanne nach der Geburt präsent, um dann zwischen dem 8. und 11. Lebensmonat vorübergehend erneut aufzutreten. Möglicherweise soll er, ähnlich wie der Schreitreflex, durch seine kurzzeitige Präsenz das Neugeborene dazu befähigen, sich gleich nach seiner Geburt über den Bauch der Mutter zur Brust hoch zu bewegen. Videoaufnahmen wacher neugeborener Babys, deren Mütter während der Geburtswehen keine Schmerzmittel erhielten, zeigen, wie diese Babys zur Brust „kriechen“ und dabei offenbar eine Kombination des Schreitreflexes (mit den Füßen stoßen) und des Symmetrisch Tonischen Nackenreflexes nutzen (Anbeugen der Beine, um den Körper vorwärts zu stoßen). Dasselbe Video zeigt, wie Babys, deren Mütter während der Geburt Schmerzmittel erhielten, einfach zu müde waren, um diese Reise aus eigener Kraft zu bewältigen.

Später dann hilft dieser Reflex dem Baby die Schwerkraft zu bewältigen, wenn es sich zwischen dem 8. und 11. Lebensmonat aus der Bauchlage auf Hände und Knie aufrichtet.

Capute (1981) hat darauf hingewiesen, dass wir es hier eventuell nicht mit einem echten Reflex zu tun haben, sondern mit einer entscheidenden Phase des Tonischen Labyrinthreflexes. Ganz sicher erleichtert er die Hemmung des Tonischen Labyrinthreflexes und bildet eine Brücke auf dem Weg zur nächsten Stufe der Fortbewegung: dem Krabbeln auf Händen und Knien. Während er allerdings dem Kind erlaubt, eine Vierfüßlerhaltung einzunehmen, verhindert er eine Vorwärtsbewegung in dieser Haltung. Das Baby ist den Bewegungen seines Kopfes ausgeliefert. Es ist nicht in der Lage, sich sinnvoll zu bewegen, da in dieser Phase seiner Entwicklung die Haltung des Kopfes die Haltung der Gliedmaßen bestimmt (Bobath/Bobath, 1955).

Gesell beschreibt den Fortschritt durch die Stadien der frühen Halte- und Stellreflexe so:

„Mit 20 Wochen ist das Kind in der Lage, aus der Rückenlage auf die Seite zu rollen, indem es die obere Körperhälfte herumdreht und dann die Hüften beugt und die Beine zu der Seite herumwirft, auf die es sich drehen will (Segmentärer Rollreflex). Diese Leistung stellt die erste bedeutende Verschiebung in der Körperhaltung dar. Mit 28 Wochen kann das Kind die Kriechhaltung einnehmen (vollständiges Strecken der Arme und Amphibienreflex) und das Gewicht der oberen Körperhälfte mit einem oder beiden Armen stützen. Es kann ein Knie parallel zum Rumpf nach vorn bewegen, ohne jedoch den Bauch anheben zu können. Die Vorwärtsbewegung beginnt mit etwa 32 Wochen. Das Kind dreht sich mit Hilfe seiner Arme. Mit 36 Wochen kann es sich in die Krabbelhaltung hochstemmen (Symmetrischer Tonischer Nackenreflex), allerdings ist es bis zum Alter von 44 Wochen nicht in der Lage, sich auf Händen und Knien vorwärts zu bewegen. In diesem Stadium geschieht es, dass die gegengleichen Bewegungen der Arme und Beine beginnen.“

Während der Tonische Labyrinthreflex den Muskeltonus im gesamten Körper beeinflusst, teilt der Symmetrisch Tonische Nackenreflex den Körper an der horizontalen Mittellinie deutlich in zwei Hälften. Wenn der Kopf angehoben ist, streckt sich die obere Körperhälfte und der untere Teil beugt sich. Ist der Kopf gesenkt, läuft die umgekehrte Reaktion ab: Die Arme beugen sich und die Beine strecken sich. Der Symmetrisch Tonische Nackenreflex scheint den Tonischen Labyrinthreflex für eine kurze Zeit in der Beckenregion „aufzubrechen“ – gerade lange genug, um es dem Kind zu ermöglichen, die Schwerkraft zu überwinden, den Vierfüßlerstand einzunehmen und beide Körperhälften unabhängig voneinander zu benutzen. Die Fortbewegung sowohl in der quadrupeden wie der bipeden Position erfordert jedoch die Synchronisierung beider Körperhälften. Daher nimmt man an, dass das Hin- und Herschaukeln vieler Kinder, kurz bevor sie loskrabbeln, den Symmetrisch Tonischen Nackenreflex hemmen hilft, indem es die Zusammenarbeit der sakralen und der okzipitalen Bereiche synchronisiert und damit das Kind befähigt zur nächsten Entwicklungsstufe des Krabbelns zu gelangen.

Kinder mit einem fortbestehenden Symmetrisch Tonischen Nackenreflex krabbeln selten auf Händen und Knien. Stattdessen bewegen sie sich häufig im „Bärengang“ oder auf dem Po rutschend fort, oder sie ziehen sich einfach zum Stand hoch und laufen los. (Allerdings bewegen sich kleine Mädchen, die in ein hübsches Kleid gesteckt wurden, auch ohne Symmetrisch Tonischen Nackenreflex manchmal im Bärengang fort, um nicht mit ihren Knien das Kleid zu berühren, was die Vorwärtsbewegung beeinträchtigen würde.) Diejenigen aber, die doch krabbeln, tun dies häufig in auffallenden Mustern: Sie rotieren dann zum Beispiel die Hände nach außen, um die Ellenbogen am Einknicken zu hindern, und/oder die Füße sind angehoben. Das Krabbelmuster ist vielleicht unsynchronisiert, weil das Timing der Bewegungen von Ober- und Unterkörper nicht aufeinander abgestimmt ist.

Es gibt unterschiedliche Gründe dafür, dass ein Kind nicht krabbelt: Umwelt-, Entwicklungs- und neurologische Faktoren. So wuchs ein Mädchen, das im Alter von drei Jahren adoptiert wurde, in seinen ersten drei Lebensjahren in einem sehr ungünstigen Umfeld auf. Es hatte weder Gelegenheit noch Raum zum Krabbeln. Als es mit sieben Jahren aufgefordert wurde zu krabbeln, zeigte es einen vollständig erhaltenen Symmetrisch Tonischen Nackenreflex. Ähnlich ergeht es den Kindern, die in den ersten acht Lebensmonaten zu wenig Gelegenheit hatten, auf dem Boden zu spielen. Häufig überspringen sie die Phasen des Kriechens und Krabbelns, weil sie nicht genügend Zeit hatten, die motorischen Fähigkeiten in der Bauchlage zu entwickeln, die der Fähigkeit des Krabbelns vorausgehen.

Man nimmt an (Blythe 1992), dass der Symmetrisch Tonische Nackenreflex dabei hilft, das Training der Augenmotorik zu vervollständigen. Wenn die Beine als Folge des Kopfanhebens sich beugen, hilft dies dem Kind dabei, seine Augen in die Ferne zu „fixieren“. Werden die Arme als Folge des Kopfsenkens (unter die Wirbelsäulenlinie) angebeugt, dann bringt dies den Fokus des Kindes automatisch zurück zur Nahdistanz. Dies trainiert die Akkommodation. Der Asymmetrisch Tonische Nackenreflex beginnt das Augentraining, indem er die Sehweite des Kindes von etwa 17 Zentimeter bei der Geburt auf Armeslänge ausdehnt. Wenn der Asymmetrisch Tonische Nackenreflex um den sechsten Lebensmonat gehemmt ist, ist das Gesichtsfeld auf entfernte Objekte ausgedehnt. Der Symmetrisch Tonische Nackenreflex bringt dann den Visus wieder auf Nahdistanz zurück und trainiert die Akkommodation. Das Krabbeln entwickelt die visuellen Fähigkeiten, die das Kind bisher gelernt hat, weiter, indem es diese mit den Informationen der anderen Sinne integriert.

Das Krabbeln ist eines der wichtigsten Bewegungsmuster in dem langen Prozess, in welchem die Augen lernen, die Körpermittellinie zu kreuzen. Die Babys schauen nicht nur nach vorn, sondern üben durch die Bewegungen ihrer Hände auch die Auge-Hand-Koordination. So fokussieren die Augen immer mal wieder von einer Hand zur anderen, wobei die Hände als sich bewegende Stimuli agieren. Später ist diese Fähigkeit die Voraussetzung dafür, zu lesen, ohne die Wörter in der Mitte der Zeile zu verlieren, und beim Schreiben der sich bewegenden Hand mit den Augen folgen zu können. Durch das Krabbeln werden das vestibuläre, das propriozeptive und das visuelle System miteinander verbunden und zum ersten Mal zur Zusammenarbeit gebracht. Ohne diese Integration können sich Gleichgewichtssinn sowie Raum- und Tiefenwahrnehmung nicht optimal entwickeln.

 

Die Entfernung, in der das Kind beim Krabbeln fokussiert, und die Hand-Augen-Koordination, die hierbei auch eine Rolle spielt, stellen genau die Entfernung der Augen vom Papier dar, wenn es später liest und schreibt. Man hat herausgefunden (Pavlides, 1987), dass viele Kinder, die Leseschwierigkeiten haben, während ihrer Kleinkindzeit die Phasen des Kriechens und Krabbelns übersprungen haben.

Studien über primitive Stämme haben erwiesen, dass diese Menschen über eine außerordentlich scharfe Fernsicht verfügen, jedoch nie eine eigene Schriftsprache entwickelt haben. Die Xinguana-Indianer können einen Pfeil mittels eines Blasrohres mit tödlicher Genauigkeit mehrere hundert Meter weit schießen, aber sie können weder lesen noch schreiben. Innerhalb des Dschungelgeländes, in dem sie leben, verbringen die Kinder die meiste Zeit ihres ersten Lebensjahres am Körper der Mutter, die sie herumträgt. Der Boden ist eine einzige große Gefahrenquelle, dort wimmelt es von giftigen Insekten, Schlangen und Pflanzen. Folglich dürfen sie nie auf dem Boden kriechen oder krabbeln. Veras (1975) vertritt die Auffassung, dass es eine wesentliche Verknüpfung zwischen Kriechen und Krabbeln einerseits und andererseits der Fähigkeit, eine geschriebene Sprache zu verstehen und zu gebrauchen, gibt:

„Das Krabbeln stellt nicht nur eine wichtige Stufe in der Bewegungsfähigkeit eines Kindes dar; es ist auch ungeheuer wichtig für die Entwicklung der Sehfähigkeit des Kindes. Bei allen primitiven Völkern, bei denen wir waren, dürfen die Kinder niemals kriechen oder krabbeln, und keines von ihnen kann seine Augen auf eine Entfernung scharf stellen, die kürzer ist als Armeslänge. Sie sind alle weitsichtig. Wir sind der Auffassung, dass sich die Nahsicht entwickelt, wenn das Kind kriecht und krabbelt.“

Rosanne Kermoian und Kollegen am Reed-College haben 1988 eine Studie durchgeführt und dabei herausgefunden, dass viele kognitive Fertigkeiten, wie zum Beispiel Formkonstanz und räumliche Wahrnehmung, exakt während der Krabbelperiode gelernt werden – nicht früher und nicht später.

Obwohl der Symmetrische Tonische Nackenreflex dem Baby ermöglicht, sich vom Fußboden aufzurichten, erlaubt es ihm nicht, sich auf allen Vieren zu bewegen. Normalerweise machen Babys eine Phase durch, in der sie auf Händen und Knien vor und zurück „schaukeln“. Hierdurch wird der Symmetrische Tonische Nackenreflex nach und nach gehemmt. Bleibt er sehr stark aktiv, ist es möglich, dass die Krabbelphase, die jetzt folgen sollte, ausbleibt. Möglicherweise lernt das Baby, auf dem Po zu rutschen, vielleicht entwickelt es einen „Bärengang“, oder es steht eines Tages einfach auf und fängt an zu laufen.

Bein-Wierzbinski (2001) benutzte ein computergestütztes Infrarot-Eye-track-Gerät und fand heraus, dass der Symmetrisch Tonische Nackenreflex bei Kindern mit Augenfolgeproblemen eine markante Rolle spielte: Während andere Reflexe mit Problemen bei horizontalen Folgebewegungen verbunden sind, wirkt er sich besonders auf vertikale Augenfolgebewegungen aus. Vertikale Augenfolgebewegungen sind notwendig für das korrekte Addieren und Subtrahieren von Zahlenkolonnen. Nach einem Reflexausreifungs- und -hemmungsprogramm verbesserte sich die Augenmuskelmotorik deutlich.

Bei anderen Kindern zeigt sich der Einfluss des Symmetrischen Tonischen Nackenreflexes später in einer gebeugten Haltung, einem extrem „latschenden“ Gang oder einem langsamen Beugen der Arme, wenn sie an einem Schreibtisch sitzen: Das Beugen des Kopfes lässt die Arme sich ebenfalls beugen oder „einklappen“. Beim Schreiben liegen diese Kinder am Ende einer Schulstunde fast auf dem Tisch.

Kinder mit einem beibehaltenen Symmetrischen Tonischen Nackenreflex sind manchmal unbeholfene Kinder, die Schwierigkeiten mit der Koordination von Händen und Augen haben, sich vor dem Sportunterricht fürchten und für die alle Ballspiele eine Katastrophe sind. Es kann sein, dass sie den sich bewegenden Ball aus dem Blick verlieren. Zu dem Zeitpunkt, an dem sie den Ball wieder in ihrem Nahsichtbereich wahrnehmen, ist es dann zu spät, ihn noch angemessen zu schlagen oder zu fangen. Ganz grundlegende Fertigkeiten wie das Essen werden zu einem unschönen Bewegungschaos, da sich die Hand nie an der richtigen Stelle befindet um den Mund zu finden. Auch die Haltung am Tisch wird nicht besonders gut sein.

In einer von Miriam Bender (1976) durchgeführten Studie wurde in einer Gruppe von lernbehinderten Kindern, die mit einer Kontrollgruppe ohne Lernschwierigkeiten verglichen wurde, bei 75 Prozent ein erhaltener Symmetrisch Tonischer Nackenreflex entdeckt. Am Bender-Institut fanden O’Dell und Cook (1996) heraus, dass ein fortbestehender Symmetrisch Tonischer Nackenreflex ein signifikanter Faktor bei Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen (ADS) mit und ohne Hyperaktivität war. Beide Gruppen machten große Fortschritte nach einem spezifischen Bewegungsprogramm zur Hemmung des STNR.

Symptome, die auf einen stark fortbestehenden Symmetrischen Tonischen Nackenreflex hindeuten

1. Schlechte Haltung.

2. Die Tendenz, beim Sitzen zusammenzusacken, vor allem beim Sitzen am Tisch oder Schreibtisch.

3. Affenähnlicher Gang.

4. „W“-Beinhaltung beim Sitzen auf dem Boden.

5. Schlechte Koordination zwischen Händen und Augen:

– Kleckern beim Essen.

– „Tollpatsch“-Syndrom.

6. Schwierigkeiten mit der Wiederherstellung des beidäugigen Sehens. (Das Kind ist nur unter Schwierigkeiten in der Lage, den Fokus von der Tafel auf das Schreibpult umzustellen.)

7. Es kann nur langsam abschreiben.

8. Schwierigkeiten das Schwimmen zu lernen oder schlecht synchronisierte Bewegungen, wenn der Kopf über Wasser gehalten wird. (Häufig schwimmen Kinder mit einem STNR besser unter Wasser, wo die Auswirkung der Schwerkraft reduziert ist und das Gewicht des Wassers den Körper auf einer Ebene hält.)

9. Kann die Aufmerksamkeit beeinträchtigen, weil die Beibehaltung einer Sitzposition anstrengend und unbehaglich ist.

Kapitel 2
Vom frühkindlichen Reflex zur Haltungskontrolle

Wie die frühkindlichen Reflexe Grundlagen für alle späteren Funktionen schaffen, so schaffen die Halte- und Stellreflexe die Rahmenbedingungen, innerhalb derer die anderen Systeme wirkungsvoll funktionieren können. Der Übergang von der frühkindlichen Reflexreaktion zur Haltungskontrolle geschieht nicht automatisch. Es gibt keine festgelegten Zeitpunkte, zu denen ein späterer Reflex die Kontrolle über einen früheren übernimmt; dieses ist vielmehr ein abgestufter Prozess von Zusammenspiel und Integration, in dessen Verlauf beide Reflexe für kurze Zeit gemeinsam operieren.

Die Bewegungen, die auf Grund der Reflextätigkeit ausgeführt werden, unterstützen die Myelinisierung der Nervenbahnen des Gehirns auf ganz ähnliche Weise, wie das Straßennetz eines Landes ausgebaut wird.

Da bestimmte Bewegungsabläufe immer und immer wieder ausgeführt werden, können mit der Zeit reifere Reaktionsmuster die frühkindlichen Reflexreaktionen überlagern. (Die Erforschung der Haltungsreflexmechanismen begann bereits 1824, als Flourens die Bewegungs- und Haltungsstörungen bei einer Taube beobachtete, deren Bogengänge zerstört waren. Haltungsreflexe könnte man besser noch als Bewegungsreflexe bezeichnen. Es sind jene Reflexe, die die Grundlage für die Entwicklung der Willkürmotorik und angepasster Reaktionen bereitstellen, die auf subkortikaler Ebene unbewusst verfügbar sein sollten, damit man jederzeit in Reaktion auf Umweltveränderungen darauf zurückgreifen kann.)

Diese Periode des Wachstums, der Veränderungen und der Vervollkommnung funktioniert auf ganz ähnliche Weise wie eine in sich drehende Spirale, durch die natürlich sichergestellt ist, dass primitive Überlebensstrategien so lange verfügbar bleiben, bis reifere Halte- und Stellreflexe automatisch geworden sind.

Die Halte- und Stellreflexe

Die Steuerung der Halte-und Stellreflexe geschieht von der Ebene des Mittelhirns aus. Ihr Erscheinen kennzeichnet die aktive Einbeziehung höherer Hirnstrukturen über Hirnstammaktivität und ist ein Zeichen wachsender Reife des Zentralen Nervensystems (ZNS). Einige Stellreflexe sind von Bedeutung für das Lernen. Sie können (nach Fiorentino, 1981) in zwei Gruppen geteilt werden:

1. Die Stellreflexe (vierfüßig).

2. Gleichgewichtsreaktionen (zweifüßig).

Beide Reflexgruppen haben mit Haltung, Bewegung und Stabilität zu tun. Die Stellreaktionen treten zuerst im Alter von drei bis zwölf Monaten auf und sollten das ganze Leben hindurch aktiv sein, bis Krankheiten oder Alter ihre Aktivität einschränken. Sie ermöglichen dem Kind, Kopf und Rumpf in einer bestimmten Haltung stabil zu halten, wenn die Körperhaltung in irgendeiner Weise verändert wird. Das Aktivwerden der Halte- und Stellreflexe erleichtert die Bewegung durch Rollen, Krabbeln und Robben; später werden sie koordinierte grobmotorische Bewegungen ermöglichen.

Zur Gruppe der Stellreaktionen gehören der Augen- und der Labyrinthstellreflex, der Amphibienreflex, der Landau-Reflex und die Segmentären Rollreflexe.

Gleichgewichtsreaktionen werden vom Kortex kontrolliert. Sie treten zuerst mit drei bis sechs Monaten auf und bleiben während des ganzen Erwachsenenlebens aktiv.

Sie bestehen aus den Schutz- und Kippreaktionen, die ausgelöst werden, wenn das Kind die Balance verliert oder wenn das Zentrum der Schwerkraft verändert wird. Zu diesen Reaktionen werden der Schreckreflex (Strauss-Reflex) und Parachute-Reflex (Abstützreaktion) gezählt.

Für das Lernen ist das Vorhandensein dieser Reflexe und Reaktionen nicht von unmittelbarer Bedeutung, außer dass das Fehlen von Gleichgewichtsreaktionen auf eine unzureichende Entwicklung des Zentralen Nervensystems deutet. Im Zusammenleben jedoch können die Auswirkungen enorm sein. Da sich betroffene Kinder tollpatschig und unkoordiniert bewegen, werden sie zur Zielscheibe für Hänseleien und können von ihrer Gruppe isoliert werden. Auch die organisatorischen Fertigkeiten werden leiden, da das Gleichgewicht betroffen ist; die daraus resultierenden Schwindelgefühle behindern die Konzentration.

Manchmal zeigt eine Person ein Profil, bei dem die primitiven Reflexe gehemmt, die Haltungsreflexe jedoch unterentwickelt sind. Diese Kinder scheinen gut kompensieren zu können und entwickeln häufig erst zu einem relativ späten Zeitpunkt ihrer Entwicklung Probleme – manchmal erst als junge Erwachsene und noch später. Paradoxerweise sind es gerade diese Kinder, die zu einem früheren Zeitpunkt von einem Bewegungstrainingsoder sensorischen Integrationsprogramm profitiert hätten. Die spezifischen Probleme dieser Gruppe sind typischerweise solche, die sich auf Anpassungsfähigkeit, Anwendung bekannter Konzepte (Problemlösung), Erstellen von Verbindungen, Multi-Processing, Erkennen von Abfolgen und Bewältigen großer Informationsmengen beziehen – lauter Fähigkeiten, die in höheren Klassenstufen (Sekundarstufe und höher) Bedeutung gewinnen.

Weitere damit verbundene Probleme bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind möglicherweise folgende: eine Vorgeschichte mit feinmotorischen Schwierigkeiten; niedrige Energielevel, die einer Depression ähneln, aber nicht durch Medikamente behoben werden; schlechte Rumpfrotation und Probleme damit, komplexe Bewegungsmuster auszuführen, die bei Kampfsportarten und bestimmten Tanzfiguren erforderlich sind. Häufig äußern solche Personen, dass sie erst die Bewegungsabfolgen „durchdenken“ müssen und dass sie Probleme dabei haben, sich an schnelle Veränderungen in der Abfolge anzupassen. (Beuret 2000)

Die Auswirkung unterentwickelter Haltungsreflexe ist mit der eines begrenzten Umwelt- und sozialen Vokabulars vergleichbar. Der Betroffene kommt so lange klar, wie die Regeln unverändert bleiben und er eine erlernte Fähigkeit weiterhin anwenden kann. Wenn sich jedoch entsprechend der Situation die Regeln ändern, muss er die neuen Regeln neu lernen und einüben, anstatt sich den veränderten Umständen mühelos anzupassen. Das führt häufig zu einem Gefühl der Unbeholfenheit, der persönlichen und sozialen Unzulänglichkeit und zu einer gesteigerten Neigung zu Ängstlichkeit.

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