Buch lesen: «In einem Monat, in einem Jahr»

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Françoise Sagan

In einem Monat,

in einem Jahr

Roman

Aus dem Französischen

von Helga Treichl


Titel der Originalausgabe: »Dans un mois, dans un an«

Copyright © Editions Julliard, Paris, 1957

Copyright © der deutschen Übersetzung 1958 by Ullstein Buchverlage, Berlin

Erschienen im Ullstein Verlag

Copyright © dieser Ausgabe bei Eder & Bach GmbH, 2015

Umschlaggestaltung: hilden_design, München

Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-945386-24-8

Guy Schoeller gewidmet

Dieser Taten muss

Man so nicht denken; so macht es uns toll.

Macbeth II. Akt

ERSTES KAPITEL

Bernard betrat das Café, zögerte einen Moment unter den Blicken einiger Gäste, die im Neonlicht entstellt aussahen, und drehte sich wieder zur Kassiererin um. Er liebte die Kassiererinnen von Cafés, üppig, würdevoll und in einen Traum versunken, der nur von Kleingeld und Zündhölzern unterbrochen war. Sie reichte ihm seinen Telefongroschen, ohne Lächeln, mit einer müden Geste. Es war fast vier Uhr früh. Die Telefonkabine war schmutzig und der Hörer feucht. Er wählte Josées Nummer und wurde sich klar darüber, dass sein nächtlicher Gewaltmarsch durch Paris ihn zu nichts anderem geführt hatte: nur zu dem Augenblick, da er müde genug sein würde, diese Bewegungen mechanisch auszuführen. Es war außerdem dumm, ein junges Mädchen um vier Uhr früh anzurufen. Sicher, sie würde diese Ungezogenheit mit keinem Wort erwähnen, aber sein Verhalten hatte einen Beigeschmack von »enfant terrible«, den er verabscheute. Er liebte sie nicht, das war zweifellos das Schlimmste, aber er wollte doch wissen, was sie machte, und dieser Gedanke hatte ihn den ganzen Tag verfolgt.

Das Telefon läutete. Er lehnte sich an die Wand, schob die Hand in die Tasche und tastete nach seinen Zigaretten. Das Signal verstummte, und eine verschlafene Männerstimme sagte: »Hallo.« Dann sofort die Stimme von Josée: »Wer spricht?«

Bernard erschrak, rührte sich nicht. Wenn sie erriet, dass er es war, wenn sie ihn dabei ertappte, dass er sie ertappte! Es war ein entsetzlicher Augenblick. Dann zog er seine Zigaretten aus der Tasche und legte den Hörer auf. Wieder wanderte er die Kais entlang und murmelte Grobheiten vor sich hin. Und zugleich beruhigte ihn eine innere Stimme, die er verabscheute: »Schließlich ist sie dir ja nichts schuldig. Du hast nichts von ihr verlangt, sie ist reich, frei, du bist nicht ihr offizieller Liebhaber.« Doch er spürte schon all die Qual und Unruhe in sich, die ihm bevorstand, dieses Drängen zum Telefon, diese Besessenheit, die künftig alles überschatten würde.

Er hatte den jungen Mann gemimt, hatte mit Josée über das Leben gesprochen, über Bücher, hatte eine Nacht mit ihr verbracht, und alles war in einer geschmackvollen, etwas zerstreuten Form geschehen, zu der sich Josées Wohnung ausgezeichnet eignete. Jetzt würde er nach Hause gehen, würde auf seinem Schreibtisch verstreut seinen schlechten Roman und in seinem Bett seine schlafende Frau vorfinden. Sie schlief immer um diese Zeit, ihr kindliches, blondes Gesicht zur Tür gewandt, als fürchte sie, er werde nie nach Hause kommen. Sie wartete auf ihn im Schlaf, so wie sie immer, den ganzen Tag auf ihn wartete, ängstlich, unruhig.

*

Der junge Mann legte den Hörer wieder auf, und Josée unterdrückte ihren Zorn. Es hatte sie geärgert, ihn das Telefon abheben und antworten zu sehen, als sei er zu Hause.

»Ich weiß nicht, wer es ist«, sagte er mürrisch, »er hat abgehängt.«

»Warum denn ›er‹?«, fragte Josée.

»Wenn jemand nachts eine Frau anruft und dann abhängt«, sagte der junge Mann gähnend, »ist es immer ein Mann.«

Sie blickte ihn neugierig an und fragte sich, was er hier zu suchten habe. Sie verstand nicht, warum sie zugelassen hatte, dass er sie nach dem Essen bei Alain nach Hause brachte und dass er dann zu ihr heraufkam. Er sah ganz gut aus, aber er war gewöhnlich und uninteressant. Viel weniger intelligent als Bernard, in gewisser Weise sogar weniger anziehend. Er setzte sich im Bett auf und griff nach seiner Uhr.

»Vier Uhr«, sagte er. »Das ist eine scheußliche Tageszeit.«

»Warum eine scheußliche Tageszeit?«

Er antwortete nicht, sondern drehte sich zu ihr um und sah sie über die Schulter an, unverwandt. Sie erwiderte seinen Blick, dann versuchte sie, ihre Bettdecke wieder hinaufzuziehen. Aber sie blieb mitten in der Bewegung stecken.

Sie erriet seine Gedanken. Er hatte sie nach Hause gebracht, hatte sie brutal genommen und war an ihrer Seite eingeschlafen. Er blickte sie ruhig an. Es kümmerte ihn wenig, wie sie war und was sie über ihn dachte. Jetzt, in dieser Sekunde, gehörte sie ihm. Und sie empfand weder Ärger über seine Sicherheit noch Zorn, sondern eine ungeheure Demut.

Er hob die Augen zu ihrem Gesicht und befahl ihr mit ernster Stimme, die Bettdecke wieder wegzuschieben. Sie gehorchte, und er betrachtete sie eingehend und voller Gelassenheit. Sie schämte sich und konnte sich nicht rühren, und ihr fiel nicht eine jener ungezwungenen Redensarten ein, die sie zu Bernard oder zu einem anderen gesagt hätte, während sie sich auf den Bauch herumdrehte. Er hätte nicht verstanden, nicht gelacht. Sie ahnte, dass er eine fertige, ursprüngliche und unveränderliche Vorstellung von ihr hatte, die er nie aufgeben würde. Ihr Herz klopfte in starken Schlägen, sie dachte: Ich bin verloren, mit einem Gefühl von Triumph. Der Mann neigte sich zu ihr, auf seinen Lippen lag ein geheimnisvolles Lächeln. Mit starren, reglosen Augen sah sie ihn näher kommen.

»Zu irgendetwas muss das Telefon ja gut sein«, sagte er und ließ sich hastig, ungestüm auf sie niederfallen. Sie schloss die Augen.

Ich werde nie mehr darüber scherzen können, dachte sie, es wird nie mehr diese leichte nächtliche Sache sein, immer wird es mit diesem Blick verbunden sein, mit irgendetwas in diesem Blick.

*

»Du schläfst nicht?«

Fanny Maligrasse stieß einen Seufzer aus.

»Mein Asthma! Alain, sei lieb, bring mir eine Tasse Tee.«

Alain Maligrasse kletterte mühevoll aus dem Doppelbett heraus und hüllte sich sorgfältig in einen Schlafrock. Die Maligrasse waren viele Jahre lang, bis zum Krieg von 1940, ein recht gut aussehendes und verliebtes Paar gewesen. Dann, als sie sich nach vierjähriger Trennung wieder sahen, waren sie beide sehr verändert und trugen beide die Spuren ihrer fünfzig Jahre. Und das hatte, unbewusst, eine recht rührende Schamhaftigkeit in ihnen erweckt – jeder wollte vor dem anderen die Spuren der vergangenen Jahre verbergen – und zugleich auch ein sehr lebhaftes Interesse für die Jugend. Sie lieben die Jugend, sagte man wohlwollend von den Maligrasse, und dieses Wohlwollen war ausnahmsweise berechtigt. Denn sie liebten die Jugend nicht, weil sie ihnen Zerstreuung bot und sie ihr unnütze Ratschläge geben konnten, sondern weil sie sie mehr interessierte als das reife Alter. Und keiner von beiden zögerte, dieses Interesse in die Tat umzusetzen, wenn sich dazu eine Gelegenheit bot, denn die Freude an der Jugend ist immer von einer natürlichen Zärtlichkeit für das frische, junge Fleisch begleitet.

Fünf Minuten später stellte Alain das Tablett auf das Bett seiner Frau und blickte sie mitleidig an. Ihr kleines Gesicht, mager und schwermütig, war gespannt vor Müdigkeit, nur die Augen blieben unverändert schön, lebhaft, funkelnd, von einem herzzerreißenden Blaugrau.

»Ich finde, dass es ein hübscher Abend war«, sagte sie und nahm ihre Tasse. Alain sah zu, wie der Tee durch ihre ein wenig schlaffe Kehle rann, und dachte an gar nichts. Er gab sich einen Ruck:

»Ich verstehe nicht, warum Bernard immer ohne seine Frau kommt«, sagte er. »Man kann nicht leugnen, dass Josée im Augenblick sehr verführerisch ist.«

»Béatrice auch«, sagte Fanny mit einem Lachen.

Alain lachte mit ihr. Seine Bewunderung für Béatrice war für ihn und seine Frau immer ein Anlass zum Scherzen. Und sie konnte nicht wissen, welche Qual dieser Scherz für ihn geworden war. Jeden Montag, nach ihrem – wie sie ihn im Spaß nannten – »Montagsempfang«, ging er fiebernd zu Bett! Béatrice war schön und ungestüm; wenn er an sie dachte, drängten sich ihm diese beiden Eigenschaftsworte auf, und er konnte sie sich endlos wiederholen. »Schön und ungestüm«: Béatrice, die ihr schwermütiges, tragisches Gesicht verbarg, wenn sie lachte, weil Lachen ihr nicht stand, Béatrice, die voll Zorn von ihrem Beruf redete, weil sie noch keinen Erfolg hatte, Béatrice, die ein wenig törichte, wie Fanny sagte. Töricht, ja, sie war ein wenig töricht, aber mit Poesie. Alain arbeitete seit zwanzig Jahren in einem Verlag, er war schlecht bezahlt, kultiviert und seiner Frau sehr verbunden. Wie hatte »der Scherz Béatrice« zu diesem ungeheuren Gewicht werden können, unter dessen Last er sich jeden Morgen erheben musste, zu diesem Gewicht, das er Tag für Tag, bis zum Montag, mit sich herumschleppte? Denn am Montag kam Béatrice zu dem reizenden alten Ehepaar, zu Fanny und ihm, und er spielte seine Rolle als zarter, geistvoller und zerstreuter Fünfziger. Er liebte Béatrice.

»Béatrice hofft, in dem nächsten Stück von X eine kleine Rolle zu bekommen«, sagte Fanny. »Reichten die Sandwiches?«

Um ihren Montagsempfang zu sichern, mussten die Maligrasse finanzielle Gewaltakte vollbringen. Als Whisky Mode wurde, bedeutete das für sie eine Katastrophe.

»Ich glaube«, sagte Alain. Er blieb auf dem Bettrand sitzen, seine Hände hingen zwischen den mageren Knien herab. Fanny betrachtete ihn voller Zärtlichkeit und Mitleid.

»Dein kleiner Vetter aus der Normandie kommt morgen«, sagte sie. »Ich hoffe, dass er ein reines Herz hat, eine große Seele, und dass Josée sich in ihn verliebt.«

»Josée verliebt sich in niemanden«, sagte Alain. »Vielleicht könnten wir versuchen, zu schlafen?«

Er nahm das Tablett von den Knien seiner Frau, küsste sie auf die Stirn, auf die Wange und legte sich wieder hin. Er fror trotz der Zentralheizung. Er war ein alter Mann, der fror. Und die ganze Literatur nützte ihm nichts.

*

»In einem Monat, in einem Jahr,

wie werden wir leiden!

Herr, dass so viele Meere mich von Euch scheiden!

Dass der Tag beginne, der Tag wieder gehe

Und Titus gleichwohl Bérénice nicht sehe.«

Béatrice stand im Morgenrock vor dem Spiegel und betrachtete sich. Die Verse fielen aus ihrem Munde wie Blumen aus Stein (»Wo habe ich das nur gelesen?«), und sie fühlte, wie unendliche Traurigkeit sie überkam. Zugleich mit einem gesunden Zorn. Schon fünf Jahre lang rezitierte sie Bérénice; erst für ihren Ex-Gatten und seit Kurzem für ihren Spiegel. Sie hätte gern vor diesem dunklen, schäumenden Meer, dem Zuschauerraum eines Theaters, gestanden, nur um zu sagen: »Madame, es ist angerichtet«, wenn es wirklich nichts anderes für sie geben sollte.

»Dafür würde ich alles tun«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, und das Spiegelbild lächelte ihr zu.

*

Der Cousin aus der Normandie aber, der junge Edouard Maligrasse, bestieg eben den Zug, der ihn in die Hauptstadt bringen sollte.

ZWEITES KAPITEL

Bernard erhob sich zum zehnten Mal an diesem Morgen von seinem Stuhl, ging zum Fenster und lehnte sich hinaus. Er konnte nicht mehr. Schreiben demütigte ihn. Das, was er schrieb, demütigte ihn. Als er die letzten Seiten noch einmal durchlas, überkam ihn ein unerträgliches Gefühl der Zwecklosigkeit. Da stand nichts von dem, was er sagen wollte, nichts von dem, was er manchmal als wesentlich zu erkennen glaubte. Bernard verdiente sich sein Leben mit Kritiken für Zeitschriften und mit Lektoraten für ein paar Zeitungen und für den Verlag, in dem Alain arbeitete. Er hatte vor drei Jahren einen Roman veröffentlicht, den die Kritik als »farblos, mit gewissen psychologischen Qualitäten« bezeichnet hatte. Er wünschte sich zwei Dinge: einen guten Roman zu schreiben und, seit Kurzem, Josée. Jedoch die Worte ließen ihn weiterhin im Stich, und Josée war verschwunden. Manchmal packte sie plötzlich irgendeine Neigung für ein Land oder für einen Burschen – wofür, wusste man nie genau –, und sowohl das Vermögen ihres Vaters als auch ihr Charme erlaubten ihr eine umgehende Befriedigung ihrer Launen.

»Geht’s nicht?«

Nicole war hinter ihn getreten. Er hatte sie gebeten, ihn arbeiten zu lassen, aber unter dem Vorwand, dass sie ihn nur vormittags sehe, kam sie ununterbrochen in sein Arbeitszimmer, sie konnte nicht anders. Er wusste es, begriff aber nicht, dass sie ihn sehen musste, um leben zu können, dass sie ihn, nach drei Jahren, täglich mehr liebte – es erschien ihm fast ungeheuerlich. Denn sie zog ihn nicht mehr an. Nur an das Bild, das er von sich selber aus der Zeit ihrer Liebe in Erinnerung hatte, dachte er gern und an die merkwürdige Entschlossenheit, sie zu heiraten. Entschlossenheit bei ihm, der seither nie mehr irgendeinen festen Entschluss hatte fassen können!

»Nein, es geht überhaupt nicht. So, wie ich die Sache anfange, besteht auch wenig Aussicht, dass es je gehen wird.«

»O doch, ich bin überzeugt davon.«

Dieser zärtliche Optimismus in Bezug auf seine Person reizte ihn mehr als alles andere. Wenn Josée das gesagt hätte oder Alain, hätte es ihm vielleicht ein gewisses Selbstvertrauen gegeben. Aber Josée verstand nichts von Büchern, wie sie selber zugab, und Alain ermutigte ihn zwar, tat aber sehr keusch mit der Literatur. »Das Wesentliche ist das, was man nachher sieht«, sagte er. Was sollte das um alles in der Welt heißen? Bernard tat, als ob er es verstünde. Aber dieses ganze Gefasel ärgerte ihn. »Schreiben bedeutet ein Blatt Papier, einen Federhalter und den Schatten einer Idee für den Beginn«, sagte Fanny. Er hatte Fanny sehr gern. Er hatte sie alle sehr gern. Er liebte niemanden. Josée reizte ihn. Er musste sie haben. Das war alles. Genug, um sich umzubringen.

Nicole war immer da. Sie machte Ordnung, sie verbrachte ihre Zeit damit, die sehr kleine Wohnung, in der er sie den ganzen Tag allein ließ, aufzuräumen. Sie kannte weder Paris noch die Literatur; beide erweckten in ihr Bewunderung und Schaudern. Ihr einziger Schlüssel zu all diesen Dingen war Bernard, und er entglitt ihr. Er war intelligenter als sie und anziehender. Man bemühte sich um ihn. Und sie konnte gegenwärtig keine Kinder bekommen. Sie kannte nur Rouen und die Apotheke ihres Vaters. Bernard hatte ihr das einmal gesagt, und dann hatte er sie angefleht, ihm zu verzeihen. In solchen Augenblicken war er schwach wie ein Kind, den Tränen nahe. Aber seine überlegten Grausamkeiten waren ihr lieber als die große, tägliche Grausamkeit, wenn er nach dem Mittagessen fortging, sie zerstreut küsste und erst sehr spät wieder nach Hause kam. Bernard und seine Ruhelosigkeit waren für sie immer ein erstaunliches Geschenk gewesen. Man heiratet keine Geschenke. Sie konnte ihm deshalb nicht böse sein.

Er blickte sie an. Sie war recht hübsch, recht traurig.

»Willst du heute Abend mit mir zu den Maligrasse gehen?«, sagte er weich.

»Ja, gern«, sagte sie.

Auf einmal sah sie glücklich aus, und Bernard wurde von Reue gepackt, aber es war eine so alte, so abgenützte Reue, dass sie nie lange anhielt. Und er riskierte ja auch nichts damit, sie mitzunehmen, Josée würde nicht da sein. Josée hätte ihn nicht beachtet, wenn er mit seiner Frau gekommen wäre. Oder aber sie hätte nur mit Nicole gesprochen. Sie täuschte gern Gutmütigkeit vor, ohne zu wissen, dass dies überflüssig war.

»Ich werde gegen neun Uhr vorbeikommen und dich abholen«, sagte er. »Was machst du heute?«

Dann, da er wusste, dass sie nichts antworten konnte, sagte er schnell:

»Vielleicht kannst du dieses Manuskript für mich lesen, ich komme ja doch nie dazu.«

Er wusste sehr gut, dass es völlig sinnlos war. Nicole hatte einen derartigen Respekt vor dem geschriebenen Wort, eine solche Bewunderung für die Arbeit anderer, so unzulänglich sie auch sein mochte, dass sie nicht zu dem geringsten kritischen Urteil fähig war. Überdies würde sie sich verpflichtet fühlen, das Manuskript zu lesen, in der Hoffnung, ihm vielleicht einen Dienst zu erweisen. Sie wäre so gern unentbehrlich, dachte er wütend, während er die Treppe hinunterging, das große Steckenpferd der Frauen … Unten angekommen, überraschte ihn der grimmige Ausdruck in seinem Gesicht, und er schämte sich. Was war das alles für ein grässliches Durcheinander!

Als er in den Verlag kam, fand er dort Alain außerordentlich erregt vor.

»Béatrice hat dich angerufen; du möchtest sofort zurückrufen.«

Bernard hatte gleich nach Kriegsende eine recht stürmische Liaison mit Béatrice gehabt. Er brachte ihr einen Rest von herablassender Zärtlichkeit entgegen, die Alain offensichtlich beeindruckte.

»Bernard?« Béatrice schlug ihren allzu getragenen Ton für besondere Tage an. »Bernard, kennst du X? Werden nicht seine Stücke bei dir verlegt?«

»Ich kenne ihn flüchtig«, sagte Bernard.

»Er hat mich im Gespräch mit Fanny für sein nächstes Stück genannt. Ich muss ihn treffen und mit ihm reden. Bernard, tu das für mich.«

Etwas in ihrer Stimme erinnerte Bernard an die besten Tage ihrer Jugend nach dem Krieg, als jeder von ihnen ein stilles, bürgerliches Heim aufgegeben hatte und sie sich auf der Suche nach hundert Francs für ein Abendessen wiederfanden. Béatrice hatte einmal den Wirt eines kleinen Lokals, der für seine Knauserei bekannt war, überredet, ihnen tausend Francs vorzustrecken. Nur mit dieser Stimme. Ein derart ausgeprägter Wille war zweifellos eine seltene Sache geworden.

»Ich werde es in die Wege leiten. Ich rufe dich am späten Nachmittag an.«

»Um fünf Uhr«, sagte Béatrice entschieden. »Bernard, ich liebe dich, ich habe dich immer geliebt.«

»Zwei Jahre lang«, sagte Bernard und lachte.

Immer noch lachend, drehte er sich zu Alain um und war überrascht von dem Ausdruck in seinem Gesicht. Sofort wandte er sich wieder ab. Béatrices Stimme drang bis ins Zimmer. Er sprach weiter:

»Gut. Und ich sehe dich heute Abend bei Alain?«

»Ja, natürlich.«

»Er steht neben mir, willst du ihn sprechen?«, sagte Bernard. (Er wusste nicht, warum er das fragte.)

»Nein, ich habe keine Zeit. Sag ihm, ich lasse ihn umarmen.«

Die Hand von Maligrasse war schon nach dem Hörer ausgestreckt. Bernard, der ihm den Rücken zuwandte, sah nur diese Hand, gepflegt, mit vorspringenden Adern.

»Ich werde es ihm bestellen«, sagte er, »auf Wiedersehen.«

Die Hand fiel wieder herab. Bernard wartete einen Moment, bevor er sich umwandte.

»Sie lässt dich umarmen«, sagte er schließlich, »es wartet jemand auf sie.«

Er fühlte sich sehr unglücklich.

*

Josée hielt vor dem Haus der Maligrasse in der Rue de Tournon. Es war Nacht; der Staub auf der Kühlerhaube und die Mücken, die an der Windschutzscheibe klebten, funkelten im Licht der Straßenlampe.

»Also genug, ich komme nicht mit«, sagte der Jüngling. »Ich weiß nicht, was ich mit ihnen reden soll. Ich werde arbeiten gehen.«

Josée fühlte sich zugleich erleichtert und enttäuscht. Diese acht Tage mit ihm auf dem Lande waren recht anstrengend gewesen.

Er war entweder völlig stumm oder übertrieben lebhaft. Und seine Ruhe, seine halb vulgäre Art erschreckten sie schließlich ebenso wie sie sie anzogen.

»Wenn ich fertig bin mit meiner Arbeit, werde ich bei dir vorbeikommen«, sagte der junge Mann. »Schau, dass du nicht zu spät nach Hause kommst.«

»Ich weiß nicht, ob ich nach Hause komme«, sagte Josée verärgert.

»Na gut, dann sag es mir«, antwortete er. »Es hat keinen Sinn, dass ich umsonst komme, ich hab’ kein Auto.«

Sie wusste nicht, was er dachte. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter:

»Jacques«, sagte sie.

Er blickte ihr still ins Gesicht. Sie zeichnete mit der Hand seine Züge nach, und er runzelte ein wenig die Stirn:

»Gefalle ich dir?«, fragte er und lächelte.

Es ist seltsam, er scheint zu denken, dass er mich betört hat, oder so etwas Ähnliches. Jacques F., Student der Medizin, mein Ritter. Das Ganze ist sehr komisch. Es ist nicht einmal eine physische Angelegenheit, und ich weiß nicht, was mich anzieht, die Art, wie ich mich mit seinen Augen sehe, oder dass ich mich gar nicht mit seinen Augen sehe – oder er selber. Aber er ist uninteressant. Sicher ist er nicht einmal grausam. Er existiert – das ist es.

»Du gefällst mir ganz gut«, sagte sie. »Es ist noch nicht die große Leidenschaft, aber …«

»Die große Leidenschaft gibt es wirklich«, sagte er ernst.

Mein Gott, dachte Josée, er scheint in ein junges blondes Mädchen mit Idealen verliebt zu sein. Könnte ich eifersüchtig auf ihn sein?

»Hast du schon eine große Leidenschaft gehabt?«, fragte sie.

»Ich nicht, aber ein Kamerad von mir.«

Sie lachte laut heraus, er blickte sie an, zögerte, ob er gekränkt sein sollte, und lachte dann auch. Sein Lachen war nicht fröhlich, sondern rau, fast zornig.

*

Béatrice hielt einen triumphalen Einzug bei den Maligrasse, und sogar Fanny war frappiert von ihrer Schönheit. Nichts steht manchen Frauen besser als die Krisen des Ehrgeizes. Die Liebe macht sie schlaff. Alain Maligrasse stürzte ihr entgegen und küsste ihr die Hand.

»Ist Bernard da?«, fragte Béatrice.

Sie suchte unter dem Dutzend Menschen, die schon gekommen waren, nach Bernard und wäre, um ihn zu finden, glatt über Alain hinweggegangen. Alain zog sich zurück, das Gesicht verzerrt von einem Rest von Freude und Liebenswürdigkeit, die so plötzlich verlöscht waren, dass sie wie Grimassen wirkten.

Bernard saß auf einem Diwan neben seiner Frau und einem unbekannten jungen Mann. Trotz ihrer Eile erkannte Béatrice Nicole wieder, und Mitleid ergriff sie; sie saß sehr gerade, die Hände auf den Knien, ein schüchternes Lächeln auf den Lippen. Ich muss ihr beibringen, wie man lebt, dachte Béatrice mit einer Regung, die sie als Güte empfand.

»Bernard«, sagte sie, »du bist ein schrecklicher Mensch. Warum hast du mich nicht um fünf Uhr angerufen? Ich habe zehnmal versucht, dich im Büro zu erreichen. Guten Tag, Nicole.«

»Ich war bei X«, sagte Bernard triumphierend. »Morgen um sechs Uhr treffen wir drei uns zu einem Aperitif.«

Béatrice ließ sich auf den Diwan fallen und drückte dabei den unbekannten jungen Mann ein wenig zur Seite. Sie entschuldigte sich. Fanny kam herbei:

»Béatrice, kennst du den Vetter von Alain, Edouard Maligrasse?«

Jetzt erst schenkte sie ihm einen Blick und ein Lächeln. Er hatte etwas Unwiderstehliches in seinem Gesicht, einen Ausdruck von Jugend, von überraschender Güte. Und er blickte sie mit einem solchen Erstaunen an, dass sie zu lachen begann. Bernard stimmte ein.

»Was ist los? Bin ich so schlecht frisiert, oder sehe ich so verrückt aus?«

Béatrice hatte es gern, wenn man sie für verrückt hielt. Aber diesmal wusste sie bereits, dass der junge Mann sie schön fand.

»Sie sehen gar nicht verrückt aus«, sagte er. »Ich wäre untröstlich, wenn Sie glauben könnten …«

Er sah so verwirrt aus, dass sie sich geniert abwandte. Bernard blickte sie lächelnd an. Der junge Mann stand auf und begab sich mit unsicheren Schritten zum Tisch im Speisezimmer.

»Er ist verrückt nach dir«, sagte Bernard.

»Hör auf, du bist verrückt, ich bin doch gerade erst gekommen.« Aber sie war bereits davon überzeugt. Sie glaubte leicht, dass man verrückt nach ihr war, ohne dass sie daraus übrigens eine besondere Eitelkeit schöpfte.

»So etwas gibt es nur in Romanen, aber dieser junge Mann ist aus einem Roman«, sagte Bernard. »Er kommt aus der Provinz, um in Paris zu leben, er hat noch nie geliebt und bekennt es voller Verzweiflung. Aber er wird diese Verzweiflung gegen eine andere eintauschen. Er wird durch unsere schöne Béatrice leiden.«

»Erzähl mir lieber von X«, sagte Béatrice. »Ist er Päderast?«

»Béatrice, du hast zuviel Fantasie«, sagte Bernard.

»Das nicht«, sagte Béatrice, »aber ich verstehe mich sehr schlecht mit Päderasten. Sie sind mir lästig, ich mag nur gesunde, normale Menschen.«

»Ich kenne keine Päderasten«, sagte Nicole.

»Das macht nichts«, sagte Bernard, »übrigens sind hier gleich drei …«

Aber er brach plötzlich ab. Josée war gekommen, sie stand in der Tür, lachte mit Alain und warf dabei einen Blick in den Salon. Sie sah müde aus und hatte einen schwarzen Fleck auf der Wange. Sie sah ihn nicht. Bernard empfand einen dumpfen Schmerz.

»Josée, wohin warst du verschwunden?«, rief Béatrice, und Josée drehte sich um, sah sie, kam auf sie zu und lächelte kaum.

Sie sah erschöpft aus und glücklich zugleich. Mit fünfundzwanzig hatte sie noch immer etwas von einer leicht verwilderten Halbwüchsigen; darin glich sie Bernard.

Er stand auf:

»Ich glaube nicht, dass Sie meine Frau kennen«, sagte er, »Josée Saint-Gilles.«

Josée lächelte und zuckte; nicht mit der Wimper. Sie küsste Béatrice und setzte sich. Bernard blieb vor ihnen stehen, trat von einem Bein aufs andere und dachte immer nur: Wo kommt sie her? Was hat sie in den letzten zehn Tagen gemacht? Wenn sie nur kein Geld hätte!

»Ich war zehn Tage auf dem Lande«, sagte sie. »Alles war rotgold.«

»Sie sehen müde aus«, sagte Bernard.

»Ich würde gern aufs Land fahren«, sagte Nicole. Sie blickte Josée voller Sympathie an, sie war der erste Mensch, der sie nicht einschüchterte. Josée flößte nur dann Angst ein, wenn man sie gut kannte; dann hatte ihre Liebenswürdigkeit etwas Tödliches.

»Sind Sie gern auf dem Lande?«, sagte Josée.

Da haben wir es, dachte Bernard voller Wut, jetzt wird sie sich mit Nicole beschäftigen und liebenswürdig mit ihr plaudern. Sind Sie gern auf dem Land? Arme Nicole, sie sieht schon eine Freundin in ihr. Er ging zur Hausbar, entschlossen, sich zu betrinken.

Nicole folgte ihm mit den Augen, und Josée empfand bei diesem Blick eine Mischung aus Ärger und Mitleid. Bernard hatte anfangs eine gewisse Neugierde in ihr erweckt, aber sehr schnell hatte sich gezeigt, dass er ihr zu ähnlich war, zu unbeständig, um sich an ihn zu binden. Und anscheinend ging es ihm genauso. Sie versuchte, auf Nicole einzugehen, aber sie langweilte sich. Sie war müde, und alle diese Menschen erschienen ihr wie leblose Schatten. Die Woche auf dem Land war sehr lang gewesen, sie hatte das Gefühl, als kehre sie von einer weiten Reise in das Land der Sinnlosigkeit zurück.

»… und da ich niemanden kenne, der ein Auto hat«, sagte Nicole, »kann ich nie hinausfahren und im Wald spazieren gehen.«

Sie brach ab und sagte brüsk:

»Übrigens auch niemanden, der kein Auto hat.«

Die Bitterkeit dieser Worte bestürzte Josée.

»Sind Sie einsam?«

Aber schon verbesserte sich Nicole aufgeregt:

»Nein, nein, ich habe das nur so ins Blaue hinein gesagt, und – ich habe die Maligrasse sehr gern.«

Josée zögerte einen Moment. Noch vor drei Jahren hätte sie sie ausgefragt, hätte versucht, ihr zu helfen. Aber sie war müde. Sie hatte sich satt, sie hatte ihr Leben satt. Was bedeuteten dieser brutale Bursche und dieser Salon? Sie wusste auch schon, dass es nicht mehr darum ging, eine Antwort zu finden, sondern darum, zu warten, dass die Frage verstummte.

»Wenn Sie wollen, hole ich Sie ab, wenn ich das nächste Mal spazieren gehe«, sagte sie einfach.

Bernard hatte erreicht, was er wollte: Er war leicht betrunken und fand großen Gefallen an der Konversation des jungen Maligrasse, die ihn, da sie sich nur um ein einziges Thema drehte, eigentlich hätte langweilen müssen:

»Sie sagen also, dass sie Béatrice heißt? Sie spielt Theater, aber wo? Ich gehe morgen hin. Sehen Sie, es ist sehr wichtig für mich, sie gut kennenzulernen. Ich habe ein Stück geschrieben, und ich glaube, sie würde sich sehr gut für die Hauptrolle eignen.«

Edouard Maligrasse sprach voller Eifer. Bernard begann zu lachen:

»Sie haben kein Stück geschrieben. Sie sind nur drauf und dran, sich in Béatrice zu verlieben. Lieber Freund, Sie werden zu leiden haben. Béatrice ist reizend, aber sie ist der personifizierte Ehrgeiz.«

»Bernard, reden Sie nicht schlecht über Béatrice, sie betet Sie heute Abend an«, schaltete sich Fanny ein. »Und außerdem möchte ich gern, dass Sie sich die Musik dieses Jungen anhören.«

Sie zeigte auf einen jungen Mann, der sich am Klavier zu schaffen machte. Bernard begab sich zu Josée und ließ sich zu ihren Füßen nieder, er fühlte sich gelöst, das Leben schien sehr einfach. Er würde zu Josée sagen: Meine liebe Josée, es ist sehr lästig, aber ich liebe Sie, und das wäre zweifellos die Wahrheit. Plötzlich erinnerte er sich an die Art, wie sie den Arm um seinen Hals gelegt hatte, als er sie das erste Mal in der Bibliothek ihrer Wohnung geküsst hatte, an diese Art, sich in seine Arme zu schmiegen – und das Blut strömte in sein Herz zurück. Sie würde es nicht fertigbringen, ihn nicht zu lieben.

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