am Ende bleibt nichts

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Sabine Penckwitt





AM ENDE

BLEIBT NICHTS





Roman







Impressum



Am Ende bleibt nichts



Sabine Penckwitt



Copyright: © 2018 Sabine Penckwitt



Published by neopubli GmbH, Berlin



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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die über den Rahmen des Zitatrechtes bei korrekter vollständiger Quellenangabe hinausgeht, ist honorarpflichtig und bedarf der schriftlichen Genehmigung des Autors.




1945 müssen Martha und Hanna aus Stolp in Pommern fliehen und erreichen die „Goya“, eines der vielen Flüchtlingsschife. Durch russischen Torpedobeschuss sinkt das Schif und eine der Frauen nutzt spontan das Chaos des Untergangs, um die ewige Rivalin loszuwerden.



Ob es jemals zu einer Strafe kommt und zu welcher erfährt man im zweiten Teil des Romans, der das Leben der Mörderin bis zum Ende 2018 erzählt.



Sabine Penckwitt, geboren in Halle-Saale, übt den Beruf der Radiologie-Assistentin aus. Sie absolvierte bei der Hamburger Axel-Anderson-Akademie einen zweijährigen Lehrgang in Belletristik. Kurzgeschichten verschiedener Thematik wurden 2006 und 2008 veröffentlicht. Für

 www.kulturinfo-lippe.de

 schreibt sie Kurzgeschichten. „Achtzehn Stufen“, ihr erster Roman, erschien 2016 bei epubli. Sie ist verheiratet und lebt in Detmold.





www.sabinepenckwitt.de








Für Rosemarie und Ulrich Penckwitt






Prolog



Das Paar, das am 10. Januar 2018 einen Spaziergang am Strand von Flensburg unternahm, sah den Strandkorb nah an die Dünen geschmiegt.



Ein vergessenes Stück Sommer.



Die Öffnung des Korbes war halb dem Meer und halb der Düne zugewandt.



Als die beiden näher kamen sahen sie die tote Frau.



Ein paar Tage später stand in der Zeitung, dass die alte Frau wahrscheinlich Anfang des Jahres im Strandkorb verstorben sei.



Die Polizei meldete, dass es keine Vermisstenanzeige gegeben habe.




Teil 1




Kapitel 1



Die Zeit dieser Nachmittage in Marthas Bett war himmlisch.



Er genoss es, wenn sie starr unter ihm lag, während des ersten Eindringens. Nur für die Dauer die Liebende erwarten, dass für sie die Welt den Atem anhält. Dann warf sie den Kopf nach hinten und gurrte: „Ich kann nicht, ich kann nicht vor lauter Wonne!“



Die Welt holte wieder Atem und Marthas Starre wandelte sich in wunderbar sanfte Bewegungen, die in hohen Wellen über ihnen zusammenschlugen.



Kein einziges Signal des Lebens vor Marthas Fenster, kein Ton der Weltgeschichte drang zu ihnen. Sie waren eine Seele, ein Verstehen.



Nun spazierten sie in der Abenddämmerung im Rosengarten.



„Kann es jemals anders sein mit uns?“, fragte Georg.



Die Rosen im Mittelfeld hielten noch immer die Wärme des Tages, um ihre Düfte in den Abend abzugeben.



„Für mich nicht! Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich liebe, wie sehr ich mir wünsche, dass du glücklich bist.“



„Ich bin nicht glücklich, weil ich nicht ehrlich bin zu Hanna. Mit dir ist alles so einfach, so selbstverständlich. Tief innen fühle ich, dass wir uns verstehen, ohne Worte. Es ist einfach ein Gleichklang, dem nichts hinzuzufügen ist.“



„Aber?“



„Ich will eigentlich nicht mit dir über Johanna sprechen. Aber ich sage dir, dass ich auch sie liebe. Nur nicht mit dieser Wucht, dieser Intensität, wie dich. Sie hat sich nicht verändert, sie ist fröhlich wie immer, zu mir aufrecht und liebt mich.“



Martha blieb stehen und wandte sich Georg zu.



„Dann bleibt nur eins. Johanna war vor mir da und wir kennen uns erst seit acht Wochen. Du wirst sie heiraten und mich lassen. So bist du unglücklich.“



Georg sah sie entgeistert an: „Das kannst du nicht wollen, Martha. Wir kennen uns nicht nur seit acht Wochen, wir lieben uns wie wahnsinnig seit acht Wochen! Warum sagst du das?“



Sie gingen bis zu den Bänken und setzten sich.



„Das hört sich so an, als liebte ich dich wenig. Am Anfang dachte ich, es ist deine Sache, sieh zu, wie du mit zwei Frauen zurechtkommst. Nun meine ich du musst zu Johanna zurück, um deine Ruhe zu finden.“



„Martha, so ein Gedanke würde mir gar nicht einfallen. Du bist selbstlos um meinetwillen. Es ist trotzdem keine Lösung, weil es dich gibt.



„Du kannst dir die Qual einer Entscheidung nicht ersparen.“



Als Georg sie nach Hause begleitet hatte, stand Martha noch lange am offenen Fenster ihres Zimmers. Sie dachte, wie alles begonnen hatte und wie hoffnungslos es geworden war. Musste sie ausgerechnet Hannas Verlobten kennenlernen und ihn lieben, wie niemals im Leben erhofft, so lieben zu können?



Acht Wochen, die das Leben von Georg und ihr, aber auch Hannas verändert hatten.



Acht Wochen zuvor, am zweiten Juli 1938, kam Johanna Walter aus der Klinik am Bismarckplatz 20, als ein gewaltiger Platzregen einsetzte.



Ihr erster Gedanke war, zurück in die Klinik zu gehen, als sie Edgar Schmidt vorbeifahren sah. Sie gestikulierte wild, um sich bemerkbar zu machen.



„Hanni“, rief er: „wo willst du bei dem Wetter hin?“



„Nimm mich ein Stück mit, ich will nach Hause.“



Er meinte, das träfe sich gut, er habe gerade eine Fahrt in die Arnoldstraße.



„Hanni, dafür musst du am Sonntag mit mir ausgehen.“



„Nein, du weißt doch, dass ich verlobt bin. Gib es auf, ich bin nicht mehr zu haben!“, sagte sie mit strenger Miene.



„Georg Albrecht kann mich nicht davon abhalten um dich zu werben. Er ist sowieso nicht der Richtige für dich.“



Inzwischen waren sie an der Synagoge in der Arnoldstraße vorbei gefahren und nach kurzer Zeit in der Friedrichstraße 22 angelangt.



„Nenn mich nicht immer Hanni, Edgar! Die Kinderzeiten sind vorbei, verstehst du!“



Sie stieg aus und verschwand hinter der braunen schweren Holztür ihres Elternhauses. Ihr Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Stolz und Ärger. Was der sich denkt, der Möbelfritze! Pah! Georg ist im Amtsgericht beschäftigt und wird bald Gerichtssekretär. Außerdem ist Georg 28 und Edgar gerade mal 19 geworden.



Sie betastete mit beiden Händen ihre Frisur und versuchte die nass gewordenen, tiefschwarzen langen Locken zu ordnen. Ein Kämmchen hatte sie offenbar verloren.



Dann löste sie sich von der Haustür und stieg ein paar Stufen hoch, die in die elterliche Wohnung führten.



Ihre Mutter deckte gerade den Tisch und rief, dass Hanna und Vater sich zum Abendbrot setzen sollten.



Die Waltersche Wohnung war klein und das schmale Zimmer Hannas war lang mit einem hohen Fenster zum Innenhof, in welchem alte Bäume standen. Alle Höfe des Karrees waren eng, sodass nicht viel Licht in ihr Zimmer drang.



Das Bett, ein kleiner Schreibtisch und eine Kommode standen hintereinander. Ein Sessel hatte vor dem Schreibtisch Platz. Das war ihr Lieblingsplatz, an dem sie jeden Tag Briefe an Georg schrieb, die sie nie abschickte und hier arbeitete sie mit Leidenschaft an Bleistiftzeichnungen.



„Hanna wo bleibst du? Vater und ich warten auf dich!“, kam der Ruf aus dem Wohnzimmer.



Auf dem Tisch standen Brot, ein paar Scheiben Mortadella, Leberwurst und schon wieder das „Stolper Jungchen“. Sie hasste diesen Käse, eine Art Camembert, aber doch anders im Geschmack. Immerhin hatte Mutter ein Glas Sauergurken aufgemacht.



Familie Walter lebte sehr bescheiden und Johanna beklagte sich oft darüber.



Sie wollte ein anderes Leben und hatte eine genaue Vorstellung wie sie später ihren Haushalt führen würde.



Ihr Vater war Kellner in „Kleins Hotel“, einem stattlichen Bau am Bahntor.



Nie war im Beisein Hannas davon die Rede, dass er Empfangschef oder wenigstens Oberkellner werden könnte.



Sie wusste, dass es zwischen den Eltern darüber oft Streit gab. Vater meinte, Kellner sei ein guter Beruf. Sie hätten alle drei ihr Auskommen und nun, da Hanna etwas von ihrem Schwesternlohn abgebe, sehe er keinen Grund unzufrieden zu sein.



Johanna wird eines Tages heiraten und wegziehen, argumentierte ihre Mutter regelmäßig.



Vater lachte nur und meinte, dass sein Geld dann erst recht für zwei reiche.



Später, beim Abwasch sagte Hanna: „Am Sonntag gehe ich mit Georg in den Waldkater zum Tanz.“



„Im Waldkater ist es zum Tanztee recht teuer. Sei froh, dass Georg so gut verdient!“



„Ja, das finde ich auch. Ich möchte später nicht einen Haushalt führen der so schlicht und einfach ist. Vati könnte längst Empfangschef sein!“



„Johanna!“, rief ihre Mutter: „etwas mehr Dankbarkeit Vater gegenüber könntest du aufbringen. Er hat es ermöglicht, dass du eine gute Schwesternausbildung absolvieren konntest und nun die gute Stelle bei Doktor Witt hast.“



Hanna erwiderte nichts.



Am Abend in ihrem Zimmer zeigte sich immer noch die Zornesfalte zwischen den Brauen. Sie konnte einfach nicht verstehen, wieso Vater nicht vorwärts kommen wollte, er tat sich im Hotel gar nicht hervor.



Missmutig streifte sie sich den blauen Rock, die Bluse mit dem winzigen Blumenmuster und die Unterwäsche ab.



Ein leise klickendes Geräusch ließ sie nach unten sehen. Ach, da lag ja das verloren geglaubte Kämmchen auf dem Linoleumboden.



Am nächsten Morgen war schon zu spüren, dass es wieder ein heißer Julitag werden würde. Der Gewitterguss vom Vortag hatte keine Abkühlung gebracht.

 



Hanna war um sechs Uhr früh aufgestanden, hatte in der Küche einen Becher Milch getrunken und ging zu Fuß um viertel vor sieben zur Klinik. Sie sah Martha Brandes gerade mit dem Rad vom Bismarckplatz in die Hindenburgstraße einbiegen.



Sie winkte Hanna zu und rief, dass sie es schon wieder eilig habe.



Hanna nickte grüßend und dachte, dass Martha wahrscheinlich häufig zu spät zum Dienst ins Städtische Krankenhaus kam. Sie musste noch die ganze Hindenburgstraße hochradeln und dann am Friedhof rechts abbiegen bis zur Plantage.



Hanna war gerade achtzehn geworden und Martha ein Jahr älter.



Die beiden hatten sich während ihrer Schwesternausbildung kennengelernt.



Vier Minuten später betrat Johanna Walter die Klinik für Hals-Nasen- und Ohrenleiden und verschwendete keinen Gedanken mehr an Martha.



Die hingegen trat kräftig in die Pedale und schalt sich selbst, dass sie immer auf die letzte Minute aufstand. Sie wohnte in der Amtsstraße 2 zur Untermiete.



Hedwig, wie sie ihre warmherzige und fürsorgliche Wirtin nennen durfte, stand schon vor Martha auf und brühte ihr einen Kaffee.



„Schnell, schnell der Doktor wartet nicht!“, rief sie vor Marthas Tür.



Auch an diesem Morgen kam sie wieder zehn Minuten zu spät auf ihre Station.



Sie wurde zur Oberschwester gerufen.



Martha rutschte das Herz in die Hose, denn die Oberschwester hatte ihr schon zweimal gesagt, dass sie den Herrn Professor unterrichten werde, wenn sie weiterhin so oft zu spät käme.



„Fräulein Brandes, es wird mir berichtet, dass Sie eine merkwürdige Dienstauffassung haben. Sie kommen wenigstens zweimal pro Woche zu spät.“, sagte Professor Kriete, ohne dass sich Martha setzen durfte. Auch die Oberschwester stand etwas abseits vom Schreibtisch.



„Es ist nur, weil ich immer so müde bin“, druckste Martha.



„Dann gehen Sie wohl zu spät zu Bett?“



„Ja, sehr oft.“



„Warum?“, fragten Oberschwester und Professor gleichzeitig.



Martha schaute auf ihre Schuhspitzen und wusste nicht, was sie antworten sollte.



„Schwester Martha!“, rief die Oberschwester streng und auffordernd.



„Ich“, sagte Martha leise: „zweimal wöchentlich gehe ich abends noch zu Reinolds putzen.“



Professor Kriete kam hinter seinem Schreibtisch hervor und fragte spitz: „Bei dem Käsefritzen, am Abend? Hat die gnädige Frau Fabrikant kein Personal?“



„Doch, aber ich putze die Büroräume.“



Die Oberschwester stellte fest, dass die Klinik nichts anginge, was die Angestellten abends täten. Morgens hätten sie pünktlich zu sein!



„Nun, nicht so streng Oberschwester“, sagte Professor Kriete und forschte nach: „Was sagen Ihre Eltern dazu?“



Er bot ihr und der Oberschwester Platz an und verschwand wieder hinter seinem wuchtigen Schreibtisch.



Martha erzählte, dass sie seit vier Jahren allein sei. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt und ihre Mutter sei vor vier Jahren hier im Städtischen im Absonderungshaus an Tuberkulose verstorben. Die Wohnung musste sie aufgeben, hatte aber bei Frau Hedwig eine Unterkunft gefunden.



Für die Schwesternausbildung, die sie unbedingt hatte machen wollen, lieh sie sich Geld von Frau Hedwig und daraufhin habe diese ihr die Putzstelle bei Herrn Reinold vermittelt. Herr Reinold sei sehr freundlich und gebe einen guten Lohn.



Martha wollte im Boden versinken und Einsamkeit überfiel sie wie ein zu groß geratener schwerer Mantel.



Sie käme in Armut, wenn sie ihre Stelle verlieren würde.



Professor Kriete räusperte sich und sprach zur Oberschwester: „Nun, nun, ich denke wir könnten von einer Disziplinarmaßnahme absehen. Was meinen Sie, sind Sie mit Schwester Marthas Arbeit ansonsten zufrieden?“



„Daran gibt es nichts auszusetzen. Martha ist das Herz unserer Station. In ihrem Fach ist sie gut, sie braucht natürlich noch Erfahrung, aber sie ist jung und um ihr Wissen ist mir nicht bang. Sie tut den Patienten gut, die doch oft sehr unglücklich sind und sie setzt sich mitunter auch in ihren Pausen an ein Krankenbett und hört zu, um zu trösten“, war die Antwort.



Martha sah sie staunend an. Mit solch einem Urteil hatte sie nicht gerechnet.



Professor Kriete strich sich einige Male über das Kinn. Er trommelte verhalten mit den Fingern auf seinen Schreibtisch und schwieg.



Das Schweigen verursachte ein Summen in den Ohren und nicht nur Martha, auch die Oberschwester sah beklommen über den Teetisch aus dem Fenster. An dem abseitigen Teetisch saßen bei Besprechungen die Assistenzärzte mit ihrem Chef in kleinen Biedermeiersesselchen.



Martha musste doch ein wenig lächeln, als sie sich vorstellte, wie wohl der dicke Dr. Brahms in einem der Sessel Platz nahm.



„Nun“, rief Professor Kriete so plötzlich, dass die beiden Frauen aufschreckten.



„Nun“, wiederholte er: „ich denke, Oberschwester, es wird sich im Hause eine Tätigkeit finden lassen, ähnlicher Art wie bei Reinolds, die unsere Schwester nach Feierabend verrichten könnte.“



An Martha gewandt sagte er: „ Das hätte den Vorteil, dass Sie abends nicht mehr raus bis zur Fabrik müssten. Oder haben wir ein freies Schwesternzimmer? Ich würde keine Miete berechnen. Es tut mir Leid, was Sie schon so jung erleiden mussten und ziehe den Hut, dass Sie die Ausbildung ohne jede Hilfe geschafft haben und nun in allen Ehren Ihre Schulden abzahlen. Respekt!“



Damit erhob er sich und auch die beiden Schwestern standen auf.



„Darf ich noch etwas sagen?“, fragte Martha.



„Bitte!“



„Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Professor. Aber ich möchte bei Frau Hedwig bleiben. Sie ist der einzige Mensch, der sich um mich kümmert.“



„Gut, dann wird die Oberschwester Ihnen eine Arbeit zuweisen, bei der Sie etwas Geld verdienen. Ich möchte unterrichtet werden“, fügte er mit einem Kopfnicken hinzu.



Martha ging zur Station zurück, wo ihre beste Freundin sie schon erwartete.



Das Gesicht von Erika war ein einziges Fragezeichen, das sich abrupt aufhellte, als sie sah, dass Martha ihr mit einem Lächeln und einem Hüpfer entgegenkam.



Die beiden Freundinnen beschlossen zur Feier des Tages nach Dienstschluss in der „Waldkatze“ Kaffee zu trinken.



„Komm, ich lade Dich ein. Keine Widerrede!“



Gegen vier Uhr nachmittags radelten zwei junge Mädchen, mit im Fahrtwind flatternden Sommerkleidern, in die Petristraße und weiter in die Poststraße.



Nun noch die Lachsschleuse bewältigen und dann waren sie bei der „Waldkatze“.



„Puh“, rief Martha ihrer Freundin zu, als sie die Räder an der Hauswand abstellten.



„Bei der Hitze den weiten Weg zu machen, verdient einen Eisbecher!“



„Ja, du kannst alles vertragen. Aber ich kann noch so viel radeln, ich werd` nicht dünner.“, erwiderte Erika.



„Komm, dann trinken wir eben nur Limonade“



Ein junger Mann, der gerade mit zwei älteren Herrschaften aus dem Garten des Lokals ging, kam auf sie zu: „Meine Damen, ich will nicht schuld sein, wenn Sie am Abend nicht zurück radeln können. Ihre Räder lehnen an der Hauswand und ich weiß, dass der Wirt das gar nicht gern sieht und schon manches Rad weggesperrt hat.“



Er zeigte auf ein weißes Emailleschild, auf dem stand:



Betteln und Hausieren verboten! Räder an der Hauswand abstellen verboten!



Martha sah auf und sah in die schönsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte.



Sie fühlte einen Stich in der Brust, wie einen elektrischen Schlag. Ein unmerkliches Zittern durchlief ihren Körper, das sie nicht deuten konnte.



Erika stellte übermütig fest: „Soso, das ist ja wohl Ihre eigene Erfahrung, Herr …!“



„Georg Albrecht“, stellte er sich vor und sah dabei Martha unverwandt an: „Ganz Recht, das ist meine eigene Erfahrung. Deswegen will ich Sie ja vor dem Verlust Ihrer Räder bewahren.“



„Pfs, den Rat brauchen wir ja nun nicht, aber trotzdem danke!“, erwiderte Erika.



Martha meinte: „Da Herr Albrecht uns aber so nett aufmerksam gemacht hat, frage ich mich, wie wir uns revanchieren können.“



Der antwortete abschlägig, indem er auf seine Eltern wies und erklärte, dass er jetzt mit ihnen – leider – zurückfahren müsse. Er grüßte die Mädchen und ging zum Wagen, in dem das ältere Paar bereits wartete.



„Was war denn das Martha? Wolltest du den zum Eis einladen?“



„Ja“, sagte sie versonnen und starrte ihm nach. „Hast du die Augen gesehen und die blitzweißen geraden Zähne?“



„Natürlich! Aber auch den altmodischen braunen Anzug und dann noch eine Weste darunter, bei der Hitze.“, stellte Erika pragmatisch fest.



„Wie war sein Name?“



„Martha, ist das wahr? Dich hat der Blitz getroffen! Oder wie sagt man? Amors Pfeil! Georg Albrecht.“



„Hast du ihn schon mal gesehen? Ob er aus Stolp ist? Und hast du auch gesehen, was er für schöne lange Wimpern hat?“



Doch Erika zuckte mit den Schultern, sie war nur noch an der Limonade interessiert.



Am Sonntagnachmittag holte Georg Hanna zu Hause ab. Sie wollten zur Hindenburg-Kampfbahn. Es sollte um drei Uhr einen Wettkampf geben.



Georg war in seiner Freizeit ein guter Läufer, hatte es aber trotzdem nie so weit gebracht, wie sein Freund Paul, der ganz aktiv im Sportverein war. Pauls Verein trat heute gegen den Turnverein Lauenburg an und Georg wollte Paul natürlich vom Platz aus anfeuern.



Hanna hatte Vorbehalte geäußert, weil an diesem Sonntag Tanztee im Waldkater wäre.



Aber dann hatte sie sich schick gemacht und war stolz an Georgs Arm in das Menschengewühl eingetaucht.



Fröhlich schwatzte sie auf ihn ein, sprach viel von ihrer Arbeit in der Klinik. Von ihren Eltern erzählte sie wenig, denn ein bisschen schämte sie sich, dass ihr Vater nur Kellner war.



Georgs Vater war Apotheker und sein Stammtisch war ausgerechnet in „Kleins Hotel“.



„Aber Hanna, meine Eltern mögen dich!“, wiederholte Georg zum x-ten Mal, wenn sie die sozialen Unterschiede zur Sprache brachte.



„Und ich möchte später auch so leben, wie deine Eltern.“



Inzwischen standen sie im dichten Gewühl vor den Einlassschranken.



Johanna nicht vom Arm lassend, sah Georg weit nach vorn. Er war groß und überragte die meisten anderen Leute.



„Wir haben es gleich geschafft“, sagte er. Sie erwiderte etwas, wiederholte es und sah zu Georg auf, weil er nicht antwortete.



Ein paar Reihen weiter vorn sah er sie!



Sie drängte sich mit ihrer kessen, pummligen Freundin nach vorn. Aha, sie ist sportinteressiert. Ob sie Stolperin ist?



Er hatte sich in den vergangenen Tagen dabei ertappt, dass er an dieses Mädchen mit dem Fahrrad denken musste.



Sie trug das halblange braune Haar an einer Seite hochgesteckt.



Nur an einer Seite, sehr apart, dachte er. Sie hatte ein rotes Kleid an, das über und über mit weißen Segelschiffchen bedruckt war. Es war nach der neuen Mode in der Taille gesmokt, darüber eine rote figurbetont geschnittene Jacke.



„Georg, du hörst mir ja gar nicht zu!“, rief Hanna.



„Entschuldige Hanna, ich sah gerade einen Bekannten. Was sagtest du?“



Nachdem sie im Stadion waren und ihre Plätze auf einer der Tribünen gefunden hatten, bemerkte er, dass er im Augenwinkel die ganze Zeit das rote Kleid wahrnahm.



Er sah Hanna bewusst ins Gesicht und drückte fest ihren Arm: „Wie sehr ich dich lieb habe, das weißt du“, sagte er unvermittelt.



Aber irgendwie kamen ihm die Worte in diesem Augenblick falsch vor. Er konnte nicht sagen woher dieses Gefühl kam. Plötzlich war es da, nur einen Herzschlag lang.



Hanna wusste genau was sie wollte. Sie war hübsch, strebsam und temperamentvoll. Er würde Johanna heiraten!



Und doch fühlte er sich unsicher, hatte keine Kontrolle über seine Gedanken und jetzt, ja jetzt suchte er, wo das Mädchen in dem roten Kleid geblieben war.



Der Einmarsch der beiden Turnvereine begann, sodass sich Georg wieder besann und nun ganz Auge und Ohr für den Wettkampf war.



Auf dem Rückweg nach dem Turnier war er in Hochstimmung. Lauenburg hatte in den ersten Runden die Nase vorn, dann hatte der Stolper Sportverein die Konkurrenten in den Schatten gestellt.



„Hanna hat es dir auch ein bisschen Spaß gemacht? Hast du gesehen wie gut Paul in Form war?“, er umschlang ihre Taille und gab ihr einen Kuss auf die Wange.



„Du bist verrückt, dass dich der Sport so begeistert“, lachte sie. „Du könntest die Sportveranstaltungen aus Berlin verfolgen, im Rundfunk!“

 



„Wenn wir mal eine eigene Wohnung haben, kaufen wir uns sofort einen Radioapparat!“, antwortete er.



„Aber wann Georg, wann heiraten wir? Ich kann es kaum erwarten, wir sind schon fast ein halbes Jahr verlobt“, sagte sie.



„Ich habe Hoffnung, dass ich befördert werde. Dann halte ich ganz förmlich um deine Hand an.“



Hanna sah ihn fragend an?



„Zukünftige Frau Albrecht, ich weiß, dass ich irgendwann die Stelle eines Amtsgerichtssekretär innehaben werde.



Das verspricht einen guten Verdienst und ich kann dir ein Leben bieten, wie du es dir wünschst.“



„Georg“, rief sie: „ich wusste es. Ja wirklich, ich wusste es, dass du so eine Stelle bekommst.“



„Aber“, Georg besänftigte ihren Übermut: „ich weiß noch nicht wann, Hanna. Ich hoffe auf das kommende Jahr, aber wenn nicht?“



Hanna strahlte nicht mehr, sagte aber: „Dann warte ich, Georg.“



Zukunftspläne schmiedend gingen die beiden durch die Straßen zu Johannas Elternhaus.



Später, nach Hause schlendernd, dachte er an sein Fortkommen im Amtsgericht, das er zurzeit eigentlich nicht gut einschätzte. Adolf Hitler war nun schon im fünften Jahr Reichskanzler und man hörte, dass es vor allem in Westdeutschland genug Arbeit gab. Gut so, denn die Hungerjahre waren für viele vernichtend gewesen.



Georg war auch der Meinung, dass der Versailler Vertrag von 1918 ein Knebelvertrag für Deutschland sei. Allein die Abspaltung des polnischen Korridors, Polen sollte nach 123 Jahren Fremdherrschaft einen eigenen Zugang zur Ostsee haben, war Deutschland von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. Geschweige alle anderen Regelungen.



Die polnische Grenze war nur 50 km von Stolp entfernt.



Der Versailler Vertrag war das eine, die neuen Töne in Deutschland das andere!



Im März 1933 hatten die NSDAP-Mitglieder nicht die Mehrheit im Stolper Stadtrat.



Ab 1935 gewichteten sich die Verhältnisse nach rechts. Deswegen verursachte ihm Bauchschmerzen, dass es hieß, man müsse doch zum neuen Deutschland stehen und könne sich nicht liberal-neutral verhalten, wie Albrechts.



1934 war Dr. Star zum Oberbürgermeister berufen worden, zunächst gegen den Willen einflussreicher Kreise der NSDAP. Dr. Star hatte zunächst nicht die Absicht gehabt dieses Amt zu bekleiden, weil er ungern seine Anwaltspraxis aufgeben wollte.



Zum Glück gab es in Stolp aufrechte, demokratisch denkende Leute, die sich mit ihrer Wahl für Star durchgesetzt hatten.



Diesen Mann bewunderte Georg, das war einer, der für das Allgemeinwohl und die strikte Einhaltung demokratischer Rechte kämpfte.



Trotzdem hatte Georg Angst, dass er eines Tages gezwungen sein würde, NSDAP Mitglied zu werden.



Am 9. November, es war kalt und neblig, erschütterte die Stolper am Abend die Feuerglocke!



Johanna und ihre Eltern konnten vom Wohnzimmer aus den brandroten Himmel sehen.



„Das ist doch Richtung Arnoldstraße, Vati. Was ist denn da los?“



Sie lief in den Flur, riss ihren Mantel von der Garderobe und war mit dem nächsten Schritt schon an der Wohnungstür.



„Johanna!“, rief ihr Vater laut, streng und befehlend: „du bleibst hier!“



„Aber Vati, es ist in unserer Nähe. Ich bin doch Schwester, vielleicht gibt es für mich etwas zu tun!“



Wieder wandte sie sich der Tür zu.



„Johanna, ich sage es noch einmal, du bleibst hier! Es gibt nichts zu tun! Der Feueralarm ist auch schon wieder stumm, hörst du?“



Die Mutter hielt das Fenster noch weit geöffnet und rief: „Es kommt ein schrecklicher Lärm aus allen Ecken. Seht mal die halbe Straße ist auf den Beinen.“



Vater Walter ging an seiner Frau vorbei, schloss das Fenster und setzte sich in den, mit grünem Chintz bezogenen, schon etwas abgewetzten Sessel am Ofen.



Ernst sah er die Frauen an: „Ich weiß was los ist, die Synagoge brennt! Und es wird heute Nacht noch Schlimmeres passieren. Glaub mir Hanna, wir können nichts tun.“



„Aber woher …“



Herr Walter erzählte, von einem ständigen Husten unterbrochen, dass fünf junge Leute von der Ortsgruppe der SS vor ein paar Tagen bei Kleins waren. Er hatte sie bedient und sie reden hören vom „Judenpack, dem wir Feuer unterm Hintern machen!“



Sie sprachen ungeniert und laut darüber. Einige Herren, die am Stammtisch saßen, zahlten ohne zu Ende gespeist zu haben und verließen das Hotel.



Herr Dr. Albrecht war der Einzige, welcher an ihren Tisch trat und sagte, dass er mit Leuten ihrer Auffassung nicht in einem Raum sein könne.



Zu Johannas Vater gewandt hatte er gesagt: „Herr Walter, Sie müssen nun leider die gleiche Luft atmen!“ Daraufhin ging er gemäßigten Schrittes zum Ausgang.



„Die Burschen zunächst perplex, drehten sich dann zu mir um und fragten, ob ich auch der Meinung sei, dass ich die Luft im Raum nicht atmen könne. Alle lachten und zwei standen auf, kamen auf mich zu und boten mir an, mich in dem Falle mit dem Kopf voraus an die frische Luft zu befördern. Oder mit den Beinen zuerst, johlten die anderen.“



Seine Frau sah ihn entsetzt an und Hanna kniete sich neben Vaters Sessel.



„Du hast nichts erzählt und dir nichts anmerken lassen. Was hast du dann gemacht?“, wollte Frau Walter wissen.



Er wartete mit seiner Antwort, er fühlte sich beschämt und machtlos dazu. Dann sagte er: „Nichts, ich bin still in die Küche gegangen. Unser Koch, der alte Sandheim, und der Junge hatten alles beobachtet und die Durchluke zugemacht, als sie hörten, dass ich zur Tür hinausbefördert werden sollte. Sandheim entschuldigte sich bei mir, aber ich beschwichtigte ihn, ich sei selbst auch feige gewesen.“



Am nächsten Morgen stand das Rathaus Kopf. Herr Dr. Star hatte eilig eine Ratssitzung einberufen und sichtlich erschüttert, der flüssigen Sprache kaum mächtig, die Ereignisse der Nacht erzählt. Er wollte die sofortige Verhaftung der Brandstifter veranlassen, die am Tatort gesehen und namentlich bekannt waren.



Seine Rede gewann an Festigkeit und er betonte ausdrücklich, dass er, solange er Bürgermeister dieser Stadt sei, keine Schikane an den jüdischen Einwohnern dulde.



Er versprach Hilfe bei der Wiederherstellung der Ordnung jüdischer Geschäfte und verurteilte jede Art von Gafferei und Plünderungen.



Stars Gesicht zeigte Trauer, er fühlte sich ebenso gedemütigt, wie die Opfer dieser Nacht.



Er ahnte, dass er ohne die Unterstützung der Liberalen die Stadt nicht im Gleichgewicht halten könne. Was hieße schon Gleichgewicht? Wenn es nur zwei Prozent Umfaller gäbe, verschöbe sich die Wage weiter nach rechts.



So wie die Bugwelle im Sturm die Planken eines Schiffes überspült, so würde die Welle der Gewalt von Berlin bis nach Pommern schwappen.



Wer den „Völkischen Beobachter“ aufmerksam las und Berichte aus Berlin im Rundfunk hörte, konnte den Unrat, der sich über Europa ergießen würde riechen und das schon seit Jahren.



Georg begriff, die Nacht vom 9. November war ein Stich in die Seele dieses Mannes. Hier geschahen Unrecht und Verfolgung, die seiner aufrechten Gesinnung zuwider liefen.



Später erfuhr man, dass die SA die Verhaftungen der Brandstifter zu verhindern wusste, da sie die Polizeikräfte angewiesen hatte, beim Brand und den Schlägereien wegzusehen.



Als Georg am Nachmittag zu seinen Eltern kam, saßen beide im Wohnzimmer und Vater drehte an der Scheibe eines Radioapparates.



„Junge“, Mutter sprang vom Sessel auf und kam Georg entgegen: „sieh mal, Vater hat endlich einen neuen Volksempfänger gekauft.“



„Ja, endlich, das hätten wir schon lange haben sollen. Der alte war nur noch ein quäkender Kasten“, erwiderte Georg und setzte sich zu seinem Vater.



Der Apparat war quadratisch und das Gehäuse war aus Bakelit.



Mittig gab der große runde Lautsprecher die Töne in annehmbarer Qualität von sich.



„Hast du etwas im Rathaus gehört? Weißt du, wir beobachten genau diese Propaganda aus Berlin und ich …“



„Wen meinst du mit „wir“ und wie könnt ihr Berlin beobachten?“, unterbrach Georg seinen Vater.



„Na du weißt doch, mein Freund Ulrich! Wir gehen in letzter Zeit jedes Mal nach dem Stammtisch zu ihm und hören ausländische Sender, in deutscher Sprache natürlich.“



„Das darf niemand erfahren, Georg!�