Ländlicher Schmerz

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Das gefallene Mädchen

Sie lauerten ihr auf, versteckt hinter einer Hecke am Rhone­ufer. Es waren ihrer sieben, sieben Männer zwischen zwanzig und dreissig, und jeder hielt in den Händen einen ­Besen von Schwarzdorn und pfefferig riechenden Weidenruten, alles gut zusammengeschnürt. In ihren Augen konnte man nicht lesen, denn es war eine sternenlose Nacht, eine blinde Nacht, welche die ganze Welt auslöschte, nur nicht die Wut dieser kleinen Menschen. Aber man konnte sie reden hören. Sie sagten zueinander:

– Jetzt reicht’s. Die hat manche zum Weinen gebracht und manchen braven Kerl zum Laufen!

– Man kann sogar sagen umgebracht: Kinder, Männer …

– Ja, ein Kind haben sie erwürgt in ihrer Kammer gefun­den, während sie ohnmächtig in ihrem Blut lag … Und alle, die man nicht gefunden hat! Aber Männer? Das ist übertrieben.

– So, und der, den sie in die Fremdenlegion schickte? Um ihr eine Freude zu machen, wollte er ihr ein Ballkleid kaufen. Aber er war pleite. Da hat er das Geld aus der Kasse des Meisters genommen. Es war am Fasnachtsabend. Hernach, um nicht im Gefängnis zu landen, machte er sich aus dem Staub. In einem afrikanischen Kaff ist er ums Leben gekommen. Ein Kollege von mir. Wagst du jetzt noch zu behaupten, dass nicht sie ihn getötet hat? He?

Sie alle kannten diese Geschichten und noch viele an­dere, aber in dieser Nacht empfanden sie das Bedürfnis, sie wieder aufzuwärmen.

– Und trotzdem bist du auch in die Person vernarrt!, warf ein Dritter ein.

– Du kannst ja sehen, wie ich sie traktieren werde.

– Mit dem Hass ist es wie mit der Liebe. Wenn es einen packt, muss man abwarten, bis es vorbei ist, fügte der Jüngste leise hinzu.

– Bist du sicher, dass sie kommt?

– Die hat genug gequält und genug Unheil angerichtet. Und seit sie bei diesem reichen Alten wohnt, sieht sie uns nur spöttisch an.

– Mit den Augen spottet sie, aber mit dem Körper lockt sie …

– Bist du ganz sicher, dass sie hier vorbeikommt?, fragte die Stimme wieder aus dem Dunkel.

– Jeden Abend, ja, ich weiss es, antwortete der Jüngste und sang leise vor sich hin: Sie hatte goldne Augen und hell maisgelbes Haar …

– Ich höre sie, sagte einer.

Aber es war nur ein alter Mann, der vorbeiging.

– Sie hat Lunte gerochen und kommt heute nicht.

– Sie sieht zwar dumm aus, aber sie ist raffiniert.

Diesmal war sie es wirklich. Ihre hohen Absätze hämmerten den Boden, ihr kurzer Rock schwang hin und her in der kalten Nacht. Sie konnten sie nicht sehen, aber sie errieten alles. Sie kannten das Lächeln auf ihren breiten Lippen, den welligen Gang und die langen, harten Beine. Sie wussten, dass in ihrer Brust kein Herz schlug.

– Halt!

Sie sah sich umstellt von sieben Burschen, die keinen Spass verstanden. Sie schien weder erstaunt noch verängstigt. Mit wiegendem Kopf und gedehnter Stimme sagte sie:

– Was fällt euch ein?

Sie rührte sich nicht von der Stelle, und die andern drängten sich um sie.

Plötzlich, mit gesenktem Kopf, versuchte sie zwischen zwei Körpern durchzuschlüpfen, die sich einen Augenblick verschoben hatten. Aber die Mauer schloss sich wieder. Hände packten zu. Über ihren Mund spannte sich eine Binde, und ihre Schreie erstickten im Stoff.

– Das soll dich lehren, du Aas, du Hure!

Rutenstreiche prasselten auf sie nieder, zerrissen ihr das Kleid und zeichneten die Haut mit verworrenen Striemen. Aber das reichte ihnen noch nicht. Sie mussten unter den Nägeln dieses Fleisch spüren, das in ihre Gewalt geraten war.

Mit zusammengebissenen Zähnen und halb geschlos­se­­nen Augen begannen sie das Mädchen zu kratzen. Sie ­zerkratzten ihr das Gesicht, um sein Lächeln zu töten, sie zerkratzten ihr die Brust, um ihr Geheimnis zu töten, sie zerkratzten den ganzen Körper. Jetzt fiel sie zusammen. Mit Fusstritten stiessen sie die unförmige Masse hin und her. Sie kannten sie nicht mehr: Sie lag so kläglich auf dem Weg wie eine tote Kröte.

Dann gingen sie weg, ohne sich nochmals umzudrehen.

Beim Dorfeingang trennten sie sich. Jeder ging nach Hause mit Ausnahme des Jüngsten. Der kehrte um.

«Nein», dachte er, «so kann man sie nicht liegen lassen!» Er begann zu laufen. «Und ich bin an allem schuld, ich habe ihnen gesagt, dass sie am Abend hier vorbeikommt. Natürlich hat sie es verdient … Aber sie in diesem Zustand zurücklassen, nein! Sie hat jetzt gebüsst. Die Männer verachten sie, aber hat sie nicht auch das Recht, die Männer zu verachten? Und diese Geschichten … Das sind vielleicht alles Lügen.» Er wollte zu ihr zurückkehren. Er wollte ihre Wunden pflegen, er wollte ihr sagen: «Ich, ich liebe dich wirklich.»

Er fand sie immer noch auf dem Boden liegen ohne Regung, ohne Form, nachtschwarz. Er beugte sich vor, kniete nieder. Er nahm ihren Kopf in seine Hände. Er küsste sie, und diese Küsse hatten einen Geschmack von Staub und Blut. Er legte das Ohr an ihre Brust, um das Herz schlagen zu hören. Er hörte nichts.

So stimmte es am Ende, was man sich erzählte: Sie hatte kein Herz?

Oder dann? … Er hatte sich aufgerichtet. Plötzlich fuhr er zurück und rannte davon.

Der schwächste Schüler des Pfarrers

Als Hyazinth Rinati am Priesterseminar studierte, wurde von ihm gesagt: «Das ist ein Umgetriebener», oder auch: «Das ist ein Calvinist.» Seine Lehrer wunderten sich über seine krankhaften Skrupel und warfen ihm vor, er sehe alle Dinge zu heftig, zu leidenschaftlich an. «Bremsen Sie, bremsen Sie!», mahnten sie immer wieder.

Als er zum Priester geweiht wurde, wies ihm der Bischof, der ihn gründlich kannte, eine Pfarrei in einem kleinen Dorf zu. «Das raue, gesunde Leben dieser Bergler mit ihren einfachen Sitten wird ihn zur Ruhe bringen», hatte er gedacht.

Am Anfang ging alles gut. Seine strengen Predigten, seine ungezähmte Frömmigkeit gefiel den Gläubigen. Aber es wurde Sommer, und diese Jahreszeit erregte ihn jedes Mal. Zudem war es ein besonders heisser Sommer. In den abschüssigen Bergwiesen zirpten Tausende von Grillen. Die ganze Erde schien zu singen. Einzig Pfarrer Rinati hörte nicht darauf und blickte gen Himmel. Der war den ganzen Tag tiefblau, blau bis zur Verzückung, und am Abend liess die Sonne ihre Zauberlaterne über die Berggipfel gleiten … Wenn er diese langen, roten Bahnen betrachtete, diese sprühenden Funken, so glaubte er die Tore der Hölle zu sehen, und dieses Bild erschreckte ihn nicht; es gab ihm vielmehr neuen Mut.

Aber wenn der Mond über einem Berggrat aufging, versuchte ihn der unselige Priester umsonst mit einer Hostie zu vergleichen und wurde ganz verwirrt. Dieses fremde Licht verlieh der Welt viel zu weiche Umrisse, und seine Heiterkeit hatte etwas Heidnisches. Dann verkroch er sich in seine Kammer, zog die Fensterläden zu. Ach, in jeden ­Laden war eine herzförmige Öffnung geschnitten, und das Mondlicht warf auf Boden und Wände glänzende, schwebende Herzen … Er bemühte sich, an das Herz-Jesu zu denken; aber das blutete, während diese Herzen unversehrt blieben. Um sie zum Verschwinden zu bringen, nagelte er Brettchen auf die Fensterläden. Und als immer noch gelbe Strahlen durch die Ritzen drangen, liess er dicke Vorhänge anbringen. Aber an diesen Berghäusern sind die Fenster schon klein genug, und nun konnte gar keine frische Luft mehr in die Räume des Pfarrhauses einströmen, und es roch überall nach Weihrauch, Staub und kaltem Schweiss.

In solchen Nächten konnte er nicht schlafen. Er erinnerte sich an die Ratschläge, die man ihnen im Seminar ­erteilt hatte: «Wenn die Versuchung kommt, so betet!» Und er betete. Aber er spürte, wie die Dämonen des Mondlichts ihn umkreisten … Seine Lehrer empfahlen auch, an die frische Luft zu gehen, kräftig auszuschreiten, um der bösen Gedanken Herr zu werden. In den mondlosen Nächten ging er ins Freie. Die weiten Gänge brachten ihm ein wenig Erleichterung, doch plötzlich reizte das Rieseln eines Bächleins seine Nerven, ein Schwall von Heuduft oder Thymian stieg ihm zu Kopf, dass ihm schwindelte. Er versuchte, nicht mehr zu atmen, er verstopfte sich die Ohren, aber noch immer sah er die rötlichen Arvenwurzeln sich im Schatten verflechten, noch immer hörte er Gemurmel und traf verschlungene Gestalten auf seinem Weg … Warum empfand er eine so grosse Angst vor der irdischen Freude? Schien sie ihm eine Quelle der Sünden, oder überkamen ihn bei ihrem Anblick Zweifel an der Notwendigkeit, sich ausschliesslich mit dem künftigen Leben zu befassen? … Er wusste es selber nicht genau, so sehr scheute er sich, gewissen Gedanken auf den Grund zu gehen.

Er floh ins Pfarrhaus zurück, aber manchmal schlich er auch den Liebespaaren nach, lauerte ihnen auf mit den Listen eines Tieres auf der Wildbahn. Er dämpfte seine Schritte, liess sein langes Knochengerüst hinter einer Scheune verschwinden … Er schwärzte die Verliebten bei den Eltern an, geisselte auf der Kanzel die aussereheliche Liebe, nötigte die Brautleute, sich zu vermählen. Oh, de­nen eilte es nicht damit. Wozu auch? Bald genug würde die Zeit kommen, wo man die Kinder säubern musste, sich zankte …

In seinen Predigten malte er bis in alle Einzelheiten die Qualen der Verdammten aus und das Glück der Erwählten, als ob das Leben nicht selber dafür sorgte, bald ein Fegefeuer, bald eine Hölle und gelegentlich sogar ein Paradies zu sein. Ach, er begriff nicht, dass er diesen Gott, den er anbetete, zum zweiten Mal ans Kreuz schlug in der Seele seiner Gläubigen, indem er ihn zu einem grausamen, rächenden Gott machte.

*

Der Winter kam, die Natur verlor ihren Überschwang, und der Priester fühlte sich ruhiger. In dichten Schwaden fiel der Schnee auf das Dorf herab, als wollte er es begraben. Man konnte nichts mehr erkennen. Die kleinsten Dinge hatten unerwartete Ausmasse angenommen: ein Stein vor der Haustür, der Schornstein auf dem Dach, eine Wegschranke … Und die grossen Dinge, der Himmel, der Berg, der Wald, waren verschwunden.

 

An einem Sonntagabend zwischen Weihnachten und Neujahr traf sich die Dorfjugend zum Tanz auf einem ziemlich weit abgelegenen Maiensäss. Die genagelten Sohlen der Tänzer erschütterten die Bretter und liessen ihre Abdrücke darin zurück. Es war nicht Platz genug da für alle, und so wartete ein Teil der jungen Leute, im Heu sitzend, bis sie an die Reihe kamen. Sie hatten ein Fässchen «Gletscherwein» zwischen sich, der ihnen das Leben noch rosiger erscheinen liess. Seraphin spielte auf der Mundharmonika, und man hätte meinen können, er beisse in eine Handvoll Sterne hinein, so hell spiegelte das Nickelblech seines Instruments unter der Laterne. Alle fühlten sich glücklich und geborgen in dieser hölzernen Behausung, ein wenig wie die Kinder Noahs in ihrer Arche.

Da klopfte es hart an die Türe.

He, wer will uns den Spass verderben?, rief einer.

– Das ist deine Mutter, die dich sucht, antwortete ihm ein anderer.

– Oder dann ist es ein Gespenst, mutmasste Seraphin und liess die Sterne in seinem Hosensack verschwinden.

Sie fingen alle an zu lachen, etwas gezwungen, denn sie hatten schon erraten, wer es war.

– Aufmachen!, schrie es vor der Türe.

– Was wollt Ihr?

– Aufmachen!

Jetzt musste man gehorchen. Einer von den Jungen schob den eisernen Riegel zurück, und der Pfarrer trat ein. Als sie ihn so vor sich sahen mit seinem verstörten Blick, die Gesichtshaut über die Knochen gespannt, als hätte man sie hinten zusammengezogen, die Lippen verzerrt, da fielen den Tänzern jene Geschichten ein, in denen mitten auf dem Ball der Teufel erscheint.

– Hier also richtet ihr eure Seelen zugrunde?

Die Burschen lachten nicht mehr, und die Mädchen senkten den Kopf, denn der Respekt vor dem Pfarrer war doch stärker als ihr Groll.

– Man tut ja nichts Böses, man lacht bloss miteinander, versuchte einer zu erklären.

– Ihr wisst, dass das Tanzen verboten ist. Aber ihr lasst euch lieber verdammen, als auf eure schlimmen Vergnügen zu verzichten. Und das an einem Sonntag!

– Oh, Herr Pfarrer, man hat schon das Recht, ein wenig zu lachen, man arbeitet hart genug die ganze Woche über.

– Ja, lacht nur, lacht! … Wo wärt ihr jetzt, wenn zu dieser Stunde der Tod an eure Türe geklopft hätte? Wer von euch ist nicht im Zustand der Todsünde? Wer?

– Ich, antwortete Ursule und stellte sich schamlos vor ihn hin.

Sie hatte getrunken. Sie war das Leid- und Freudenmädchen des Dorfes. In vielen Dörfern gibt es ein solches Mädchen, oft das hässlichste und das beschränkteste, bei dem die Männer ihr «Weitergeh» loswerden (so nennt man dort oben die Qual des Begehrens).

Und da sie kräftig war, zog sie den Priester an sich und zwang ihn, mit ihr herumzuwalzen. Natürlich wusste sie nicht mehr, was sie tat. Die andern schauten sie entsetzt an. Ihr Partner machte sich steif, duckte sich dann plötzlich und riss sich los. Ursule plumpste ins Heu, und alle sahen, dass ihre groben braunen Strümpfe unter den Knien mit einer Schnur festgebunden waren. Wütend blickte Rinati reihum jedem Anwesenden ins Gesicht mit einem Anflug von Hass, den er sogleich zu zügeln versuchte. Alle fuhren unwillkürlich zurück, sogar die Kühnsten, die Wilderer, welche dem Landjäger trotzen, sich aber dem Pfarrer unterziehen. Denn er verwaltet ihr Seelenheil kraft seines heiligen Amtes. Und die Frauen, die zuerst bei ihren Liebhabern Schutz suchen wollten, wagten es nicht mehr und erstarrten.

Ursule, halb aufgerichtet, beobachtete sie, und ein lautloses Lachen entblösste ihr Zahnfleisch … Der Priester schenkte ihr keinen Blick. Er schwieg noch immer. Er wollte nicht weggehen. In seiner grünlich verfärbten Soutane, unter der Wadenbinden hervorschauten, die seine allzu mageren Beine auch nicht kräftiger machten, glich er einem abgestorbenen Baum.

– Hinaus mit euch!, befahl er und wies auf die Türe.

– Niemand rührte sich.

– Alle hinaus!

Einer nach dem andern schlichen die Burschen davon. Sie hatten die Schultern hochgezogen und ihren Zorn hinuntergeschluckt, aber sie erstickten fast daran. Eins ums andere verschwanden die Mädchen, die Röcke wie zum Schutz zusammengerafft. Ursule folgte als Letzte.

Der Pfarrer blieb allein zurück im Dunkeln. Er faltete seinen langen Körper ein und fiel in die Knie.

– Mein Gott! mein Gott!, rief er, hast Du mich verlassen?

Und er glaubte eine Stimme zu hören:

«Werft sie hinaus in die Finsternis; da wird Heulen sein und Zähneklappern.»

*

Die jungen Leute kehrten auf dem kaum mehr erkennbaren Weg ins Dorf zurück – ein ungeordneter Zug. Da glitt einer aus, dort fiel eines hin. Der tiefe Schnee erschwerte den Marsch; man musste den Fuss in die schon vorhan­denen Spuren setzen, die man nicht immer deutlich sah. Manchmal erwiesen sich die Löcher als zu tief, und dann sank man bis zu den Schenkeln ein. Zugegeben, man war ein wenig betrunken.

Seraphin fühlte sich in melancholischer Stimmung. Auch sie, seine liebe kleine Musik, hatte man verdammt, hatte den Bannfluch über sie gesprochen. Und dabei war sie doch so artig, so lustig und erzählte vom Leben, nicht von diesem Tod, der noch früh genug kam.

– Wir wollen den Ball bei Ursule beschliessen, schlug ­Simon vor.

– Gute Idee, wir sind noch nicht auf unsere Rechnung gekommen.

– Und der andere soll es wagen, uns wieder zu stören!

Fünf oder sechs zogen es vor heimzugehen, der Rest der Gesellschaft landete im Zimmer des Mädchens.

Einen Augenblick später betrat Pfarrer Rinati die Kirche. Das ewige Licht brannte wie immer, und im Chor lagen blaue Schatten. Er blieb im Schiff stehen, neben dem Beichtstuhl, denn er fühlte sich in dieser Nacht nicht würdig, vor Gott zu treten. Er dachte an den Tod. Wann würde seine Stunde kommen? Oh, befreit sein von diesem verfluchten Körper, dem Zwang der Sinne nicht mehr aus­geliefert! Aber der Tod … Nur schon ihn zu wünschen war Sünde.

Da vernahm er ein Geräusch. Im Mittelgang näherte sich ein Kind mit einer Laterne. Ohne Zögern stieg es zum Querschiff hinauf, vergass das Knie zu beugen und ging geradewegs auf den kleinen Josephsaltar zu, auf dem hinter Glas eine Weihnachtskrippe stand. Der Knabe hielt zuerst ehrfürchtig Abstand, dann kletterte er die beiden Stufen zum Altar hinauf, schob sein Gesicht ganz nahe an die Krippe und stellte die Laterne daneben. Er war vielleicht neun Jahre alt. Die langen Haare fielen ihm in den Nacken und über die niedrige Stirn, und der leicht einwärts gerichtete Blick der dunklen Augen gab ihm etwas Verstörtes.

Der Priester sah ihm erstaunt zu. Der Bub ahnte nichts von seiner Gegenwart und liess seiner Bewunderung und Neugier freien Lauf. Er drückte die Nase an der Glaswand platt und betrachtete die Wachspuppen, eine nach der andern, mit grösser Sorgfalt. Keine Einzelheit, nicht eine Kleiderfalte entging seinem andächtigen Blick. Wie wunderbar das war! Nichts fehlte. Zuerst das blasse Jesuskind, in seine Windeln eingewickelt wie ein verletzter Finger in den Verband; seine Krippe glich nicht den Futterkrippen, die man in den Dorfställen brauchte, sie war zierlich und kompliziert gebaut und ruhte auf kleinen Säulen. Neben dem Kind die Heilige Jungfrau in einem steifen Gewand, über das der hundertjährige Staub einen geheimnisvollen Flaum gelegt hatte. Sie wahrte die Würde einer grossen Dame, auch wenn ihr der Glorienschein aus Silberpapier etwas ­heruntergerutscht war. Sankt Joseph und die Hirten fesselten ihn weniger, denn sie waren nicht so verschieden von den Leuten, denen er täglich begegnete. Seine Vorliebe galt den Heiligen Drei Königen in ihren prächtigen Mänteln, die sich gegen unten weiteten wie Glocken, und ihren Kronen aus Goldband, auf die zur Zierde Glasperlen aufgenäht waren. Der eine lag auf den Knien und hielt ein Kästchen in den Händen, der zweite musste sein Geschenk unterwegs verloren haben, und der dritte stand versonnen abseits und hatte ein merkwürdiges Tier bei sich. Das ist kein Maultier, kein Esel, kein Pferd …, sagte sich das Kind verwundert. Es war auch kein Kamel, was es eigentlich sein sollte. Auf den Boden waren winzige Kieselsteinchen aufgeklebt, wie man sie überall findet, aber hier besassen sie den Reiz von Edelsteinen.

Der Kleine wurde nicht müde, alles zu bestaunen. Für ihn gab es keine Glaswand mehr. Er, der arme Bauernbub, stand neben den Königen, er streichelte versunken das Jesuskind! Er war nicht mehr verschupft, er lebte einbezogen in den Kreis der heiligen Personen.

Der Priester beobachtete ihn immer noch. Und wieder stieg der Zorn in ihm auf. «Weiss er überhaupt, was das bedeutet? Was ihn anzieht, sind die Glanzpapiere, die prächtigen Stoffe. Sie sehen alle nur diesen Flitter, sie lieben ­Götzenbilder wie die Heiden!» Ah, wenn man ihn hätte gewähren lassen! Er hätte alles verbrannt: die Statuen, die Bilder … Vor allem diese Barockfiguren mit ihren verrenkten Körpern, ihrem rosigen Fleisch, ihren um und um vergoldeten Kleidern, von denen die Kapellen strotzten. Dort drüben, hinter dem geschlossenen Gitter des Chors sah er sie schimmern in verwirrendem Glanz zwischen den gewundenen Säulen ihrer Altäre. «In denen ist Gott nicht zu finden», empörte er sich.

Aber er war allein auf verlorenem Posten. Im Seminar hatte ihm seine Bilderstürmerwut den Übernamen Savo­na­rola eingetragen. Und man lachte über seine Qualen. Auch die verabscheuten Gegenstände lachten ihn aus. Eines Abends hatte er im Hof hinter dem Pfarrhaus einen Scheiterhaufen errichtet und darauf in wildem Durcheinander Heilige, Engel, Kerzenleuchter, Altarflügel aufgeschichtet, die er in der Sakristei und im Glockenturm vorgefunden hatte. Aus Angst, dass man diese himmlischen Karikaturen, wie er sie nannte, wieder ans Licht ziehen könnte, hatte er beschlossen, sie verschwinden zu lassen. Und als die Flammen an den Statuen emporleckten und die nackten Cherubim mit ihren mörderischen Zungen herunterholten, hatte Pfarrer Rinati eine wilde Freude empfunden: die Freude des Inquisitors, wenn er Ketzer verbrennt. Aber er bemerkte einen grossen Erzengelkopf, der aus den Gluten herausragte und ihn mit weit geöffneten schwarzen Augen anstarrte … Da hatte er einen Stock ergriffen und mit dem Ruf: «Luzifer, sei verflucht!» auf ihn eingeschlagen, bis der böse Engel zusammenfiel.

Und weil er diese Krippe verschont hatte, die man nach altem Brauch zwischen Weihnachten und Epiphanias in der Kirche aufstellte, kam in der Nacht ein Kind, um sie zu betrachten.

Wer war dieses Kind? Er sollte es gleich erfahren. Eben stieg der Kleine ins Schiff herunter. Die Laterne erhellte sein Gesicht von unten und verzog es auf merkwürdige Weise, aber der Priester erkannte ihn. Es war der Schüler, welcher den Katechismus nicht hersagen konnte, Ursules uneheliches Kind.

– Was tust du da?

Als der Knabe ihn plötzlich vor sich stehen sah, erschrak er so heftig, dass er die Laterne fallen liess. Sie zerbrach auf den Fliesen und erlosch. Und da der Priester kein Wort mehr sagte und sich nicht rührte, lief er zur Türe und schlüpfte hinaus.

Anderntags begab sich Pfarrer Rinati zur Schule, seine Katechismusstunde zu halten. Schon in der Morgenfrühe hatte er das Glaskästchen unter den Arm genommen und war damit zu jener Schlucht gegangen, in die die Dorfbewohner alles hinunterwarfen, was sie nicht mehr brauchen konnten. Dorthin hatte er es geschleudert. Ein klingender Aufschlag, dann ein zweiter – schon weit weg –, das war ­alles. Seine Pfarrkinder würden inskünftig ohne ihre Krippe auskommen müssen. Was tat’s? Sie konnten ja in ihrem Herzen eine Krippe der Unschuld bereiten, um das Himmlische Kind zu empfangen.

Im Moment fühlte sich der Priester erleichtert. Seine Ner­ven entspannten sich. Er glaubte, seine Selbstbeherrschung wiedererlangt zu haben. Aber das gestrige Vorkommnis hatte ihm doch sehr zugesetzt. Wieder spürte er das Übel in sich aufsteigen; es war geradezu ein körperlicher Schmerz, als ob zwei teuflische Hände sich um seine Seele und um seinen Körper krampften. Es machte ihn jenen Bäu­men ähnlich, die von fachkundigen Gärtnern gequält, verbogen, entartet werden. Aber die kamen noch zum Blühen, während er daran zugrunde ging.

Er betrat das Schulzimmer. Ein niedriger Raum mit einer Reihe kleiner Fenster gegen Süden. Darin waren alle Schulkinder des Dorfes untergebracht, Mädchen und Knaben; es waren nie über dreissig. Sie standen alle zusammen auf und stimmten ihren Singsang an: «Guten Tag, Herr Pfarrer! …» Der Lehrer verliess sein Pult und machte ihm Platz. Aber er zog es vor, stehen zu bleiben, und schritt im schmalen Geviert vor der Wandtafel auf und ab. Er öffnete den Katechismus auf Seite 28.

 

– Wir sind beim ersten Artikel über das Symbol, sagte er. Und er begann seine Fragen zu stellen.

– Albert! Was lehrt uns dieser erste Artikel?

Der Schüler stand auf und leierte in einem Zug herun­ter:

– Er lehrt uns, dass es einen einzigen Gott gibt in drei unterschie­denen Personen. Die erste wird der Vater genannt, der allmächtig ist und aus nichts Himmel und Erde geschaffen hat.

Der Priester hörte nur mit halbem Ohr hin, wiegte leise den Kopf im Rhythmus der Sätze, die nach so vielen Wieder­holungen schliesslich jeder auswendig wusste, ob er sie verstand oder nicht.

– Gut, der Nächste! Warum nennt man die erste Person der Dreifaltigkeit den Vater?

Und der, welcher den Katechismus nicht hersagen konnte, stand auf. Er stand auf, zum voraus in sein Schicksal ­ergeben, seines Versagens gewiss, auf Hohn und Strafe gefasst, denn er wusste, dass er diese Antworten niemals im Kopf behalten konnte. Es war nicht Mangel an Begabung oder böser Wille; aber das Verständnis dieses Buches blieb ihm völlig verschlossen. So war es ihm bestimmt. Und wenn er es noch plötzlich hätte auswendig lernen können wie die andern, so hätte er es nicht über die Lippen gebracht; denn alles um ihn her, von den Kameraden bis zu den Holzplanken der Wände, erwartete, dass er stumm blieb.

Er stotterte ein paar Worte ohne Zusammenhang, die er mit übermenschlicher Anstrengung aus dem Asphalt seines Gedächtnisses herauszog. Und wie immer wurden sie mit schallendem Gelächter aufgenommen.

Der Pfarrer verwies es der Klasse mit einem Blick. Er klappte sein Buch zwischen den Händen auf und zu und ging geradewegs auf das Kind los. Jetzt standen sie sich ge­genüber. Sylvain war bleich geworden, aber er zitterte nicht, so endgültig hatte er die Hoffnung aufgegeben.

Er wartete.

In diesem Augenblick kam ihm wie ein Hilferuf der Gedanke an die kleine Weihnachtskrippe. Vielleicht klammerte er sich an dieses Bild, wie sich der Sterbende an den Lichtfleck klammert, der über seine Zimmerdecke tanzt. Aber das Bild zersprang in tausend Scherben. Die Hand des Priesters war auf seine Backe niedergefahren.

– Das soll dich lehren zu trotzen!

Das Kind wankte, aber es gab keinen Laut. Es schloss nur die Augen, um sein Weh zu begraben.

– Setz dich.

Das Kind setzte sich. Trüb ging die Stunde weiter.

– Augustine: Wie viele Arten von Engeln gibt es?

– Es gibt zwei Arten: Die guten sollen wir ehren und anrufen, weil sie uns an Leib und Seele beschützen. Die bösen, die man Teufel nennt, sollen wir hassen, weil sie uns mit sich in die Hölle ziehen wollen.

Der Pfarrer hörte nicht mehr zu. Diese Ohrfeige hatte ihn nicht beruhigt, sondern seinen gereizten Zustand noch verschlimmert. Und das Bedürfnis, noch weiter zu schlagen, peinigte ihn. Seine Hände, die er aneinanderrieb, knisterten wie dürre Blätter. Wenn er etwas hätte zerbrechen können, einen Fusstritt in die Bänke geben, die Scheiben einschlagen, so hätte ihn das wahrscheinlich erleichtert. Aber niemand würde es verstehen. Man würde ihn für verrückt halten, fortjagen!

– Sylvain, ich sage dir die Sätze einen nach dem andern vor, und du kannst sie wiederholen.

Die Schüler wunderten sich über die ungewohnte Milde seiner Stimme. Er nahm die gestellte Frage noch einmal auf und sprach dann die Antwort langsam vor, Silbe für ­Silbe.

– Wiederhole.

Das Kind bewegte die Lippen, aber es brachte keinen Ton hervor.

– Willst du reden oder nicht? Ich wiederhole: Weil von aller Ewigkeit … Sprich nach.

Sylvain blieb stumm.

– Ah, diesmal ist es noch schlimmer! Der Priester stellte es mit Genugtuung fest: Sein Zorn war gerechtfertigt. Abermals schlug er zu. Wie war sie hart, diese knöcherne Hand, und so lang, dass sie nicht nur die Wange traf, sondern auch den Kiefer und die Schläfen! Er ohrfeigte abwechselnd von der einen und von der andern Seite, und nochmals, und nochmals. Er konnte nicht mehr aufhören. Die Schüler schauten entsetzt zu und zogen den Kopf ein.

Schliesslich fiel der Bub auf die Bank, seine Stirne schlug dumpf auf dem Pultdeckel auf. Er war nicht bewusstlos, er weinte nicht.

Und die Stunde nahm ihren Fortgang, scheinbar ruhig.

– Arthur! Was ist der Mensch ?

– Der Mensch ist ein vernünftiges Geschöpf, bestehend aus einem Körper und aus einer Seele, die nach dem Bilde Gottes geschaffen ist.

*

Von diesem Tag an sprach Sylvain nicht mehr.

Als er aus der Schule kam, erkundigte sich die Mutter nicht, warum sein Gesicht so rot und aufgeschwollen sei, denn sie gab kaum Acht auf ihn und redete fast nie mit ihm. Er ass seine Kartoffelsuppe wie gewöhnlich, ohne ein Wort.

Dann kehrte er in die Schule zurück; aber anstatt den Ausführungen des Lehrers zu folgen oder in sein blaues Heft zu schreiben, blieb er untätig sitzen, mit abwesendem Blick, das Gesicht zwischen den Händen wie in einem Verband. Der Lehrer verlangte nichts mehr von ihm, der Pfarrer auch nicht. Man liess ihn in Ruhe. Aber es fiel auf, dass sein misshandeltes Gesicht von Tag zu Tag mehr anschwoll. Beidseits des Mundes wurde die Haut bläulich, und stellenweise liessen gelbe Flecken auf Eiter schliessen. Der Lehrer redete ihm zu:

– Sag deiner Mutter, sie solle dir Umschläge machen.

Aber er sprach nicht mehr, und seiner Mutter fiel es nicht ein, ihn zu pflegen. Schliesslich war es eine Nachbarin, die Hebamme des Dorfes, die sich um ihn kümmerte. Sie kannte sich etwas aus in der Heilkunde. Es war zu spät, das Übel verschlimmerte sich. Bald ass er nicht mehr.

– Das fault ja!, rief die Frau entsetzt.

Man hatte im Dorf die Geschichte von den Ohrfeigen vernommen, aber niemand wagte aufzubegehren. Es wurde nur getuschelt: «Das hätte der Pfarrer nicht getan, wenn der Kleine einen Vater und eine rechte Mutter gehabt hätte.»

Der Bub ging jetzt nicht mehr zur Schule. Er blieb auf dem Strohsack liegen in seinem Kämmerchen, das eigentlich nur ein Verschlag ohne Fenster war. Man flösste ihm dünne Nahrung durch ein Röhrchen ein, das man ihm zwischen die aufgedunsenen Lippen schob, und man legte ihm Wegerich-Umschläge aufs Gesicht. Er äusserte weder Schmerz noch Zorn. Er klagte nicht. Hörte er überhaupt, was um ihn her gesprochen wurde? Man konnte es nicht wissen. In seinen Augen stand eine unermessliche, eine namenlose Angst. Nur seine Hände, die von der Arbeit schon breit und schwer geworden waren, so dass sie einem Mann und nicht einem Kind zu gehören schienen, gaben noch Lebenszeichen. Sie glitten suchend über die Decke, rollten ihre zerfransten Ränder ein und wieder aus und begannen von neuem.

Woran dachte er?

– Er war nicht für diese Erde gemacht, und die Leute schüttelten den Kopf.

Der Pfarrer hatte das alles erfahren. Man sah ihn seltener. Er ging tagelang fort, man wusste nicht wohin. Eines Abends klopfte er an Ursules Türe.

– Ich möchte den Knaben sehen, sagte er.

Sylvain schlief und rührte sich nicht. Der Besucher wollte etwas ausdrücken, aber er konnte es nicht. Er legte am Fussende ein Paket nieder und ging fort wie ein Übeltäter.

Was hatte er gebracht?

Ursule riss das Paket auf. Sie war höchst erstaunt, als eine Weihnachtskrippe unter Glas zum Vorschein kam. Dieses seltsame Geschenk war der Zweck all der Gänge des Priesters gewesen. Er war durch manches Dorf gekommen, hatte an manches Pfarrhaus, an manche Türe geklopft und jedes Mal gefragt:

– Habt Ihr nicht zufällig eine von diesen alten kleinen Weihnachtskrippen? …

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