Liebe und Tod im Grenzland

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Paul, der auf einem Heimweg von der Schule mit Johannes darüber sprach, sagte: „Traurig, dass Moral und Anstand auf der Strecke bleiben, wenn es ums Essen und Trinken geht. Wer seinen Vorteil sucht, betrügt ja eigentlich die anderen, die solche Vorteile nicht haben. Wenn die vorhandenen Lebensmittel gerecht auf alle verteilt werden müssen, sind eigentlich die, die mogeln, unsozial.“ Johannes überlegt eine Weile, dann sagt er: „Diese edlen Prinzipien sind wohl außer Kraft, wenn du als Vater eine Familie ernähren musst. Du hast dann die Wahl, entweder deine Kinder erkranken oder verhungern oder du lässt ‚Fünfe gerade sein‘, wie meine Mutter sagen würde, um zusammen mit deinen Kindern zu überleben.“ Johannes schätzte diese Geradlinigkeit seines Freundes, spürte aber auch, wie oft er damit gegenüber der unbarmherzigen Kriegswirklichkeit in Gewissensnot geriet.

In der Nacht des 23. August 1918 erleidet Hermine einen Erstickungsanfall. Gustav ruft den Arzt. Hermine erhält eine Spritze und ein Atem-Spray. Am Morgen erzählt sie Gustav, sie habe im Schlaf Arthur erbärmlich um Hilfe schreien gehört und sei von diesen Hilfeschreien aufgewacht.

In der gleichen Nacht, kurz vor Ende des Krieges während der großen Westoffensive, wird Arthur durch einen Artillerie-Einschlag verschüttet. Er schreit nach seiner Mutter, wieder und wieder, und wird von seinen Kameraden ausgegraben. Wegen eines Lungenrisses kann er kaum noch atmen. Sanitäter bringen ihn ins Lazarett nach G., eine ehemalige Schule. Er ist hochgradig traumatisiert, zittert ständig am ganzen Körper und hat grauenvolle Angstzustände. Eine erneute Kriegsverwendung kommt nicht in Betracht. Für Arthur ist der Krieg zu Ende.

Hermine bricht bei der Nachricht über die Verletzungen ihres Sohnes zusammen. Sie ist tagelang nicht ansprechbar. Bei Eintreffen der Nachricht liegt Arthurs Kriegsverletzung bereits eine Woche zurück. Sie und Gustav erkennen bestürzt, dass Hermines Asthma-Anfall und Arthurs Kriegsverletzung in der gleichen Nacht geschahen.

Sie sind vom Lazarett gebeten worden, Arthur vorläufig nicht zu besuchen, er brauche absolute Ruhe.

Im November 1918 dankt der Kaiser ab und geht ins Exil. Der Krieg ist zu Ende.

„Hör dir das an“, sagt Gustav zu Hermine, hält die Zeitung in der Hand und beginnt vorzulesen:

„Der Krieg hat 1.300 Milliarden Goldmark gekostet.

8,5 Millionen Soldaten verloren ihr Leben auf den Schlachtfeldern.

7,7 Millionen Soldaten werden vermisst.

Ganze Landstriche sind verwüstet.

Die meisten europäischen Volkswirtschaften sind ruiniert.“

Gustav lässt die Zeitung sinken. „Man möchte vor Zorn und Wut schreien“, zischt er durch die Zähne, springt auf, läuft zum Fenster und stiert ins Leere. Seine zitternden Hände hat er in beiden Hosentaschen vergraben.

Tiefhängende graue Wolken ziehen in Schwaden eilend über das Land. Der Regen trieft in schräg verlaufenden Bindfäden über die Fensterscheibe. An der Wäscheleine zwischen den beiden Klopfstangen hängen Regentropfen wie an einer Perlenschnur. Ronja hat sich in die Hundehütte verkrochen. Nur die Spitzen ihrer Vorderpfoten lugen aus der dunklen Höhle.

„Die heimkehrenden deutschen Soldaten wurden nicht als Helden mit Blumenkränzen geschmückt“, sagt Hermine leise hinter seinem Rücken, hält sich beide Hände vor das Gesicht und weint. Sie weint endlos, als könne sie niemals mehr damit aufhören. Als sie die Hände vom Gesicht nimmt, ist ihr Antlitz gerötet und nass. Jeder Hauch von Hoffnung und Lebensfreude ist aus ihrer Miene gewichen.

Die Heimkehrer waren unwillkommen. Ihre übermenschlichen Leistungen in schlammigen, dreckigen Erdlöchern, ihre Verletzungen, ihre Invalidität und der Tod der Vielen wurden nicht honoriert. Die Daheimgebliebenen waren mit Überleben beschäftigt.

Wohin mit den kranken, kriegsverletzten oder auch gesund gebliebenen Kriegsheimkehrern? Deren Not und Ungewissheit erforderten eine Lösung. Das Problem ließ sich auf Dauer nicht verdrängen.

Deutschland war kein Kaiserreich mehr. Die Republik sah sich vor der Mammut-Aufgabe, die Scherben aufzukehren und etwas Neues aufzubauen.

Die Bedingungen des Versailler Vertrages waren so hart und einengend, dass die Zeit nach dem Krieg zu wenig Hoffnung Anlass bot.

Gustavs Betrieb hatte überlebt. Sein Warenangebot hatte er erheblich verkleinern müssen, da er von den Bezugsquellen abgeschnitten war.

Durch den im Versailler Vertrag neu entstandenen Polnischen Korridor, der Ostpreußen von Westpreußen und dem übrigen Deutschland abschnitt, ergaben sich weitere Schwierigkeiten. Ostpreußen war nun rundherum von Polen umgeben. Ware aus dem westlichen Deutschland musste auf dem Landweg zweimal die polnische Grenze passieren. Das Gleiche galt, wenn er Ware aus Ostpreußen nach Deutschland liefern wollte. Kleinere und größere Grenzschikanen, Verzögerungen, unausgesprochene Schmiergeldwünsche verzögerten und verteuerten Lieferungen. Die britische Seeblockade war nach dem Krieg weiterhin in Kraft.

Das Problem der ins Irreale gestiegenen und steigenden Preise bestand nach wie vor. Die Errechnung eines Preises fand täglich aufgrund des veränderten Dollarkurses statt. Lebensmittel kaufte Hermine vor 12 Uhr. Nach 12 Uhr konnten die Preise schon wieder gestiegen sein.

Im Sommer 1919 wurde Arthur als geheilt aus dem Lazarett in G. entlassen. Er hatte nach wie vor erhebliche Beschwerden beim Atmen. Sie blieben bis an das Ende seiner Tage, nur wenig abgemildert, bestehen. Das Zittern und die Angstzustände wurden mit Medikamenten behandelt. Die Medikamente dämpften seine noch fünf Jahre zuvor große Arbeitsfreude. Er war müde, schlapp und kraftlos. Innerhalb der nächsten drei Jahre kehrte ein Teil seiner früheren Energie zurück. Der Vater ermöglichte ihm, sofort nach seiner Rückkehr wieder im Betrieb mitzuarbeiten, soweit er wollte und konnte. ‚Arbeit ist vielleicht die beste Medizin‘, hoffte Gustav. Anfangs reichte die Kraft nur für kurze Zeiträume im Büro, später auch wieder für leichtere Verrichtungen am Lager. Er erholte sich niemals mehr ganz, wurde nie mehr der alte.

Sein Klassenkamerad Siegfried, der Patriot, starb im August 1918 bei der Westoffensive in Frankreich. Sein Großvater fiel bei dieser Nachricht in tiefe Schwermut und war nicht mehr arbeitsfähig. Er fühlte sich schuldig am Tode seines Enkels. „Ich habe ihn ja erst richtig heiß gemacht“, sagte er. Seine Gedanken kreisten nur noch um Siegfrieds Tod und seine, des Großvaters, Schuld.

Wolfgang, Arthurs Freund und Klassenkamerad, hatte den Krieg überlebt, war aber zum Leidwesen seiner Eltern völlig verschlossen zurückgekehrt. Seine frühere heitere Lebensfreude war dahin.

Arthur hatte erlebt, wie die Schreckensbilder des Krieges einen Menschen veränderten. War er mit Wolfgang zusammen, sprachen sie von nichts anderem. Sie waren froh, ihre Freundschaft und einander zu haben. Beide erlebten, dass sie nur verstehen konnte, wer in der Hölle dabei war. Sie verübelten den anderen nicht, wenn sie nur staunend zuhörten, aber das Gesagte nicht einmal ansatzweise nachvollziehen konnten. Was geschehen war, konnte sich auch die lebhafteste Phantasie nicht ausmalen. Sie brauchten einander, um immer und immer wieder darüber zu reden. Es war eine Möglichkeit, einer Heilung näher zu kommen und einer Rückkehr in ein normales Leben. Aber was war im Nachkriegs-Deutschland ein normales Leben? Für sich fanden sie die Antwort: Zunächst nicht verrückt zu werden von der Wucht der unmenschlichen Bilder in ihrer Seele. Überleben als kurzfristiges Lebensziel, die nächsten Stunden, den nächsten Tag überleben ohne zu schreien, zu toben, irgendwas kaputtzuschlagen, auszurasten. Sie lebten ganz nahe an all diesen Möglichkeiten.

Sie sprachen oft darüber, wie Siegfried von seinem Großvater erzählt hatte, dessen Kriegserlebnisse von 70/71 das wichtigste, größte Ereignis seines Lebens und des Lebens seiner Kriegskameraden gewesen war. Wer diesen Veteranen zuhörte, konnte meinen, sie hätten jahrelang einen wunderbaren Krieg heldenhaft durchlebt und am Ende ohne Verluste zum verdienten und unumstrittenen Sieg geführt. Von diesen im Verlaufe der Jahre immer phantastischer blühenden Erinnerungen mit ihren großartigen Heldentaten hatten sie gezehrt, sie, die Kämpfer aus einem Achtwochenkrieg. Ihre immer währende Kriegsbegeisterung war ein kleines, kaum sichtbares Körnchen Dünger auf dem Kriegs-Euphorie-Bazillus, sein Wachstum befördernd, der 25 Jahre später ihre Söhne, Enkel und einen ganzen Kontinent befallen sollte.

„Es darf nie wieder Krieg geben“, sagten die, die verstanden und ihre Lehren gezogen hatten. Gustav, Hermine und ihre Kinder gehörten zu ihnen.

9. Kapitel
Mit Siebzehn auf eigenen Füßen

1919

Als Emma am nächsten Morgen erwachte, war alles anders. Nicht das Erzählen und Singen der kleinen dreijährigen Minna im Bett neben ihr, der besondere Duft des Kleinkindes. Nicht die gewohnten Geräusche, wenn Mutter in der Küche das Frühstück bereitete. Wo sonst die laut tickende weiße Telleruhr gehangen hatte, war nun ein helles Rund an der nachgedunkelten Wand. In der Luft lag noch der Duft von Elises Uralt Lavendel, das Emma ihrer Mutter zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Elise liebte diesen feinen unaufdringlichen Duft, den auch ihre Bettwäsche und die Handtücher ausgeströmt hatten. Sie verwandte, sparsam wie sie war, den Duft für die Wäsche, statt für sich. In der Wohnung hing zudem der Duft von gedünstetem Weißkohl, Essig und Zwiebeln vom Weißkohlsalat, den Elise für die weite Reise in die Schweiz zubereitet, in einen kleinen Sauerkrauteimer gefüllt und mit einem Deckel verschlossen hatte.

Vollkommene Stille umgab Emma. Erst da kehrte mit voller Kraft die Erinnerung an das Geschehen des Vortages zurück. Ihre Familie war ausgezogen und abgereist, um ein neues Leben in der Schweiz zu beginnen, einem Land, in dem der Vater seiner Arbeit wie bisher in Breslau nachgehen konnte. Er hatte die Zusicherung, dort seinen alten Arbeitsplatz in einer Schuhmanufaktur vorzufinden. Das benötigte Leder für die Herstellung hochwertiger handgenähter Schuhe konnte von der Schweiz aus uneingeschränkt weltweit eingekauft werden. Im Gegensatz zur alten Heimat, wo die britische Seeblockade den internationalen Seehandel von Deutschland aus unterbunden hatte. Seine Familie würde zu essen haben.

 

Emma erhob sich und schaute sich um. Die Wohnung war leer bis auf ihr Bett, die Zither und ihre Laute, die in der Zimmerecke lehnten, die Noten sowie ihre Bücher auf dem Fußboden entlang der hinteren Wand. Wie grau die Wände waren, zeigte sich nun, da dort, wo die Schränke gestanden hatten, die ursprünglich helle Farbe sichtbar wurde. An den Fensterrahmen war die Farbe stellenweise abgeblättert, das Rahmenholz Wind und Wetter ausgesetzt. Wo der alte Webteppich fehlte, sah man die Schrammen auf den Holzdielen. Wo vorher eine einfache Glaslampe von der Decke gehangen hatte, hing nun eine einsame Glühbirne an einem Elektrokabel. Hier gab es viel zu tun.

Ohne Teppich und Gardinen hallten ihre Schritte. Emma setzte sich auf den Boden, legte die Arme um ihre Knie, den Kopf auf die Arme und glaubte einen Moment lang, ihre kleine Schwester lachen und singen zu hören. Minnie lachte und sang tatsächlich zu dieser Zeit, aber auf dem Schiff auf dem Weg von Kreuzlingen am Bodensee nach Romanshorn. Sie sang und lachte, um ihre große Verzweiflung zu übertönen. Sie hatte sich von ihrer Schwester-Mama Emma trennen müssen.

Die Mitreisenden ließen sich anrühren von der vermeintlich glucksenden Lebensfreude dieses kleinen Mädchens.

Nur jetzt keine Wehleidigkeit, sagte Emma zu sich selbst. Gerade beginnt für dich etwas Neues. ‚Also Ärmel hoch und das Beste draus machen‘, glaubte sie ihre Mutter Elise sagen hören. Ich kann, darf, muss von nun an alles selbst entscheiden. Bei dieser Betrachtung stockte ihr der Atem einen Moment lang. Sie holte tief Luft, raffte sich zusammen und verscheuchte mit dem frischen Luftstrom die letzten mutlosen Gedanken.

Sie hatte ihren sicheren Arbeitsplatz als kaufmännische Angestellte sofort nach der Handelsschule gefunden und verdiente gegenwärtig mit siebzehn Jahren in einem Groß- und Außenhandelsunternehmen hochpreisiger Herren-Oberbekleidung etwas mehr als ihre berufserfahrene Mutter in deren Beruf als Friseuse.

Die folgenden Urlaubstage nutzte Emma, um sich in ihrer ersten eigenen Wohnung im neu beginnenden Lebensabschnitt einzurichten.

In einem Malergeschäft lieh sie aus, was ein Wohnungsanstrich erforderte: einen Quast, um mit viel Wasser die alte Farbe zu entfernen, einen Eimer weiße Farbe, Rollen, Pinsel, Schmirgelpapier für die Fenster, Grundierungslack, Klar-Lack. Und fing an, die in die Jahre gekommene Wohnung rundum zu erneuern. Sie aß zwischendurch Brot mit Senf oder mit Margarine und trank Wasser aus der Leitung. Der Herd war mit der Familie unterwegs in die Schweiz.

Sie arbeitete nahezu ohne Pause. Diese Anstrengung beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit und Kraft und half, ihre wunde Seele zu besänftigen. Sie plante bereits die nächsten Schritte: Stoffreste für neue Gardinen, eine Nähmaschine auf Raten kaufen, alte Möbel in einem Gebrauchtmöbellager ansehen. Sie brauchte fürs erste einen Tisch, einen Stuhl, einen Kleiderschrank.

Nach fünf Tagen war die Wohnung geweißt, die Holzfensterrahmen waren glatt und glänzten in frischem Braun.

Wieder setzte sich Emma auf den Fußboden, einen Stuhl hatte sie nach wie vor nicht, und betrachtete zufrieden ihr Werk. Rücken, Schultern, Nacken schmerzten, aber sie war stolz, alles ohne fremde Hilfe und in der geplanten Zeit bewältigt zu haben.

Sie fand bei dem Gebrauchtmöbelhändler einen kleinen Tisch mit einem Stuhl für wenig Geld. Einen Spind aus alten Militärbeständen bemalte sie als Bauernschrank: blass-grüner Untergrund, darauf dicke Rosenblüten in blassem Alt-Rosa und Weiß, die Rosenblätter in mattem Dunkelgrün. Das Ganze wirkte antik, sehr fein abgestimmt und dezent. Emma empfand zum ersten Mal in der eigenen Wohnung einen Hauch von Glück, den sie später immer wieder spüren sollte, wenn sie eine Idee verwirklichen konnte. Schöpferfreude nannte sie das. Sie stand vor ihrem Schrank, prüfte erneut kritisch Farben und Formen, stemmte beide Hände in die Seiten, wog den Kopf hin und her, lächelte und sagte zu sich selbst: ‚Gut gemacht, Emma.‘

Als sie zurückkam an ihren Arbeitsplatz, war dort große Aufregung. Fünf Kolleginnen und ihr engster Mitarbeiter standen beieinander und diskutierten. Zunächst waren sie und ihre Wohnung Hauptthema. „Hast du bei all deiner Streicherei mitgekriegt, was draußen in der großen Welt, besser gesagt in Deutschland, in der Zwischenzeit geschehen ist?“, fragte Wilhelm, mit dem Emma einen engeren Kontakt hatte. Er stand vor ihr, groß mit seinen breiten Schultern, ihr leicht zugeneigt, die Holzkrücke unter der linken Schulter, Ersatz für das fehlende, im Krieg verlorene linke Bein, dessen Hosenbein er mit Sicherheitsnadeln hochgesteckt hatte. Mit seinen blaugrauen Augen schaute er sie gutmütig an. Seine glatte dunkelblonde Haartolle hing ihm, wie meist, in die Stirn, seine ganze Haltung drückte Herzlichkeit aus. Seine große, fleischige Hand hielt er ihr entgegen, die Emma, wie stets, gern in der ihren fühlte. „Was ist passiert?“ Emma war neugierig geworden. Seit einer Woche war sie nicht mehr dazu gekommen, Zeitung zu lesen.

„Der Versailler Vertrag ist unterschrieben und soll am 10.01.1920 in Kraft treten. Der amerikanische Präsident, Woodrow Wilson, hatte vor dem Aushandeln des Vertrages gesagt, es solle keine Verlierer und Sieger geben, um einen dauerhaften Frieden zu ermöglichen. Leider kam alles anders. Die Franzosen wollen höchstmögliche Sicherheit. Die Engländer keine deutschen Schiffe auf den Weltmeeren. Das Ergebnis: Deutschland entmündigt und unter Vormundschaft gestellt.“

Die Kollegen waren bei dieser deutlichen Zusammenfassung des Geschehenen und Künftigen erneut erschrocken und verstummt. Ihre Gesichter waren ernst. Der Krieg war zu Ende. Eine neue Bedrohung tauchte auf. Was hatten sie, die Zivilmenschen, in der kommenden Zeit zu erwarten? Emma schaute in die Runde. Wie schmal sie alle geworden waren. Die Blusen der Kolleginnen waren zu weit, die Rockbünde wurden mit Sicherheitsnadeln enger gesteckt. Sogar die Schuhe schienen größer und weiter geworden zu sein. Einlegesohlen, aus mehreren Lagen Zeitungspapier zurechtgeschnitten, verminderten das Schlappen. Es wurde viel gestopft, angestückelt, enger genäht. Und nun: alles noch verschärft? „Kauf dir heut mal eine Zeitung. Die sogenannten Friedensbedingungen kannst du überall nachlesen. Wir erleben, glaube ich, gerade Weltgeschichte“, empfahl Kollegin Thea, die sanfte mit dem Puppengesicht, dem Mittelscheitel im glatten braunen Haar, dem weichen Knoten im Nacken, aus dem meist Haarsträhnen herausrutschten. Sie hatte sich bisher nicht sonderlich für Politik interessiert, sah aber nun ebenso ratlos aus wie die Kollegen. „Was jetzt geschieht, geht jeden von uns an. Es kann nicht verkehrt sein, sich auf dem Laufenden zu halten“, sagte sie in ihrer ruhigen Art.

Auf dem Heimweg nahm Emma von einem Kiosk eine überregionale Zeitung mit. Sie setzte sich in ihrer Wohnung auf den neuen Stuhl und vertiefte sich in die Bedingungen, die sich ‚Friedensbedingungen‘ nannten. Sie las von Gebietsabtretungen: Elsass-Lothringen würde wieder an Frankreich fallen. Große Teile der Provinzen Posen und Westpreußen an Polen. Das Memelland käme unter alliierte Verwaltung. Danzig als Freie Stadt unter den Schutz des Völkerbundes. Sämtliche Kolonien und Mandatsgebiete unter die Kontrolle des Völkerbundes. Große Teile der Rheinprovinz und Rheinpfalz als Pfand für die Erfüllung der Friedensbedingungen unter alliierte Kontrolle. Verbot eines Zusammenschlusses mit Österreich.

Emma war fassungslos. Sie saß da, schüttelte wieder und wieder den Kopf, hielt zuweilen den Atem an, um anschließend die Luft wie einen Wutschrei auszustoßen. Aber sie hatte noch nicht zu Ende gelesen. Was folgte, waren die Entwaffnungsbestimmungen. Unter anderem würden die Handelsflotte und ein Großteil der Kriegsschiffe an die Alliierten fallen. ‚Was wird aus dem Groß- und Außenhandelsgeschäft meines Arbeitgebers Meier & Söhne, wenn Außenhandel nicht mehr möglich ist?‘, dachte Emma. Er führte Stoffe aus Indien, Südamerika und England ein und exportierte Anzüge, Mäntel und Jacken in alle Welt. Emma korrigierte sich: hatte bisher ein- und ausgeführt. Wenn der Seehandel unterbunden würde, wäre das das Ende von Meier & Söhne. Sie las, die deutsche Hochseeflotte sei am Flottenstützpunkt Scapa Flow bei den Orkney-Inseln versenkt worden. Das sei auf Anordnung der Briten und ihres Kommandanten, die Schiffsventile zu öffnen, geschehen.

Emma blätterte eine weitere Seite in ihrer Zeitung mit bösen Nachrichten auf: Deutschland hatte alle bei den Alliierten angerichteten Kriegsschäden zu ersetzen. Die Zahlungen würden bis in das Jahr 1988 hineinreichen. Ferner wurde Deutschland zusammen mit seinen Verbündeten gezwungen, die Alleinschuld für den Ausbruch des Weltkrieges anzuerkennen.

Es gab auch Strafbestimmungen, nach denen die Auslieferung des Kaisers sowie prominenter Personen als Kriegsverbrecher an die Siegermächte gefordert wurde, um sie vor ein internationales Gericht unter öffentliche Anklage zu stellen.

Sie erinnerte sich an die wunderbaren Kaiser-Geburtstage, wenn die Kinder schulfrei hatten, die ganze Stadt geschmückt war mit Fahnen, Girlanden, Blumengebinden, wenn bei den Militärumzügen die Soldaten ihre Paradeuniformen trugen, die Berittenen ihre weißen Helme und bunten Federbüsche, die Pferde gestriegelt, glänzenden Schmuck in den geflochtenen Mähnen. Kinder, die nebenher liefen, lachten und winkten und die Musikkapellen für Festtagsstimmung sorgten. Frauen, die den marschierenden Soldaten Blumen zusteckten.

Diese alljährlich wiederkehrenden Rituale sollten nun der Vergangenheit angehören und ihr Kaiser ausgeliefert werden. Diese Schmach! Was war voraufgegangen? Emma hatte noch nicht verstanden, wie alles so kommen konnte.

Die Kaiserliche Flotte sollte zu einer letzten Entscheidungsschlacht gegen die Engländer auslaufen. Die Matrosen, überzeugt, ein weiteres Blutopfer würde vergeblich sein, meuterten. Als die Kanonen der nicht meuternden Schiffe auf sie gerichtet sind, lassen sie sich festnehmen. Tausende von ihnen werden in Militärgefängnissen festgesetzt. Ihnen droht die Erschießung. Eine Delegation von Matrosen versucht, ihre Freilassung zu erreichen, die aber verweigert wird. Was folgt, ist ein Aufstand der gesamten Flottenbesatzung, der sich Dockarbeiter und Landsoldaten anschließen. Am dritten November haben sich Tausende in Kiel zu einem Demonstrationszug versammelt. Sie werden von einer bewaffneten Patrouille auseinandergetrieben. Einen Tag später wählt das Dritte Geschwader in Kiel Soldatenräte, entwaffnet die Offiziere und hisst die rote Fahne auf den Schiffen. Die Matrosen gehen an Land, befreien die Inhaftierten und besetzen die öffentlichen Gebäude. Andere norddeutsche Städte haben sich in der Zwischenzeit solidarisiert. Am Abend ist ganz Kiel in der Hand der Aufständischen. Der Kommandant der örtlichen Marinestation kapituliert.

Die Reichsregierung schickt den Abgeordneten Noske nach Kiel, mit den Aufständischen zu verhandeln. Mit einem 14-Punkte-Programm soll er Straffreiheit für die Meuterer sowie die Anerkennung der Arbeiter- und Soldatenräte anbieten.

Am neunten November folgt ein Generalstreik, in dem die Aufständischen die gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt fordern, die auf die Arbeiter- und Soldatenräte übergehen soll. In einer Entschließung wird festgehalten, der Militarismus sei zusammengebrochen und Deutschland eine sozialistische Republik. Träger der politischen Macht seien die Arbeiter- und Soldatenräte. Die rasche und konsequente Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktionsmittel sei notwendig.

Am 11. November unterschreibt Matthias Erzberger, Leiter der deutschen Delegation, in einem Eisenbahnwagen im Wald von Compiegne die Waffenstillstandsbedingungen der alliierten Siegermächte.

Deutschland wird eine Republik.

Emma fühlt sich wie erschlagen. Sie steht auf, ihr Mund ist ausgetrocknet, sie trinkt drei Gläser Wasser hintereinander. Sie wünscht sich, aus einem Albtraum aufzuwachen. Wie von einer bösen Schlange hypnotisiert, liest sie dennoch weiter, obgleich ihr speiübel ist. Dann hab ich’s hinter mir, denkt sie.

 

8,5 Millionen Soldaten sind in diesem vierjährigen Krieg gefallen, davon 1,8 Millionen Deutsche, dazu 4,2 Millionen verwundete deutsche Soldaten. Der Krieg hat 13.000 Milliarden Goldmark gekostet, liest sie.

Emma legt sich auf ihr Bett, starrt die Decke an und fragt sich, wie ihrer aller Leben weitergehen kann.

Die Folgen sieht sie nun täglich. Tausende von Soldaten kehren heim. Die frühere Begeisterung der Bevölkerung für ihre Soldaten gehört einer anderen Zeitrechnung an. Die Soldaten sind müde, ausgehungert, demoralisiert, viele von ihnen traumatisiert oder kriegsbeschädigt. Sie sind nicht willkommen. Sie brauchen Nahrung und einen Arbeitsplatz. Viele benötigen medizinische Hilfe und Krücken.

Frauen hatten während des Krieges in der Landwirtschaft ausgeholfen, soweit das möglich war. Sie konnten jedoch nicht die vollständige Arbeitskraft ihrer Männer und Söhne in Landwirtschaft, Industrie und Rüstungsindustrie neben ihrer eigenen Familien- und Berufsarbeit ersetzen. So waren Felder unbestellt geblieben.

Die schlechte Ernte wegen ungünstiger Witterungsbedingungen tat ein Übriges. Es gibt fast nur noch Steckrüben, Kartoffeln und Brot. Fleisch und Milchprodukte kann nur erwerben, wer auf dem Schwarzmarkt Wucherpreise bezahlen kann. Diese steigen wie auch die Preise regulärer Ware in dem Maße, wie sich das Warenangebot verringert.

Emma sowie ihre Kolleginnen benötigen viel mehr Zeit für ihre Einkäufe, zumal die Lebensmittel nur in kleinen Mengen abgegeben werden dürfen. Die Menschen stehen Schlange vor den Geschäften, um wenigstens das zu erhalten, was ihre Lebensmittelmarken vorsehen.

Zu den Hauptsachleistungen, die Deutschland an die Franzosen zu leisten hat, gehört die Kohle. Die Deutschen sollen 25 Millionen Tonne Kohle jährlich abliefern. Vor dem Krieg wurden pro Jahr 139 Millionen Tonnen Kohle gefördert. Diese Menge ist auf 60 Prozent gesunken, teils durch fehlendes Arbeitsgerät, teils durch die verlorenen Kohlereviere im Saarland und in Oberschlesien. So bleiben für Menschen und Betriebe nur noch 60 Millionen Tonnen Kohle, die ebenfalls streng rationiert werden muss.

In ihrem Betrieb wird der Ofen erst angeheizt, wenn Emma und ihre Kolleginnen eintreffen. Wer weiter entfernt vom Ofen arbeitet, darf sich ab und zu aufwärmen. Immer weniger Holz oder Kohle wird für einen Tag eingeplant. Die Mitarbeiter telefonieren, schreiben, schneiden zu, nähen an Maschinen, packen aus oder ein, bekleidet mit Mantel, Schal und Mütze. Das findet im Laufe des kalten Winters niemand mehr komisch. Kalte Füße und Hände, trockenes Brot, allenfalls auf dem Kanonenofen im Betrieb geröstet. Immer trübsinniger wird die Stimmung.

Eines Tages teilt der Chef, Herr Meier Senior, den Mitarbeitern mit, dass zwar die Aufträge noch hereinkommen, aber viele nicht mehr bedient werden können. Ohne importierte Stoffe keine Anzüge, Jacken und Mäntel. „Unsere Produkte sind hochpreisig“, sagt er. „Die Kunden im Inland gehen uns nach und nach aus. Die ausländischen können wir wegen der Seeblockade nicht mehr beliefern. Unsere Vorräte an Stoffen gehen zur Neige.“

Grabesstille umgibt ihn. Die Angst und Beklommenheit in den Gesichtern der Arbeiter und Angestellten ist kaum zu ertragen. Dem alten Herrn fällt es offensichtlich schwer, fortzufahren. Er räuspert sich wiederholt, fährt mit der Hand durch sein silbergraues Haar, und vermeidet, den Getreuen vieler Jahre in die Augen zu sehen, als er mit leiser, zerbrechender Stimme weiterspricht: „Ich will es nicht. Aber ich muss.“ Die Pausen zwischen seinen kurzen Sätzen werden immer länger. Immer öfter räuspert sich der alte Herr. „Ich muss verkleinern. Noch deutlicher: Einige von ihnen werden uns verlassen müssen. Eine Lockerung der verschärften Handelsbedingungen durch die Engländer ist in nächster Zeit nicht zu erwarten.“ Herr Meier fährt sich erneut mit der Hand durch sein Haar und schaut auf seine Schuhe, bevor er kaum noch verständlich weiterspricht: „Ich werde mit jedem von ihnen reden. Mitarbeiter mit schulpflichtigen Kindern, die weder umziehen noch auswandern können, müssen sich zunächst keine Sorgen machen. Das Ganze tut mir unendlich leid.“

Ein halbes Jahr später ist die Hälfte der Belegschaft entlassen.

Emma wird im Büro für die Entlassungspapiere und die ausstehenden Löhne noch gebraucht. Es schnürt ihr das Herz zu, den scheidenden Mitarbeitern beim Abschied in die Augen sehen und ihnen die Hand geben zu sollen.

Die neueste Ausgabe ihrer Zeitung macht ebenfalls keinen Mut. Emma hat das Gefühl, je länger schlimme Nachrichten auf sie alle einstürzen, umso fatalistischer wird sie. Das Gefühl der Ohnmacht verstärkt sich: wir können es nicht ändern, können aber auch nicht unbegrenzt täglich neu verzweifelt sein. Die Augen lesen die neuen Nachrichten, aber Herz und Sinne kapseln sich nach und nach ab und schützen sich so vor zu viel Bedrängnis.

Sie liest, dass Im Ruhrgebiet die Bergarbeiter streiken. Die Franzosen, die im Gegenzug zu unvollständigen Kohlelieferungen das Ruhrgebiet besetzen, verursachen durch ihre Anwesenheit eine noch schlechtere Kohleausbeute. Die Bergarbeiter sind nicht mehr bereit, diese Bedingungen hinzunehmen. Die Regierung ist auf ihrer Seite und bereit, die Löhne in Millionenhöhe zu bezahlen, als die Streikkassen leer sind. Als dem deutschen Staat für diesen Streik ebenfalls das Geld ausgeht, lässt er Geld drucken. Je mehr Geld in Umlauf geht, desto wertloser wird es. Die Preise steigen. Auch die Löhne steigen, aber in langsamerem Tempo. Die Kaufkraft sinkt.

Wer Geld hat, kauft Werte wie Häuser, Grundstücke oder Getreide. Wer Ersparnisse hat, erlebt, wie diese von Tag zu Tag dahinschmelzen. Das trifft vor allem kleine und mittlere Handwerksbetriebe. Viele müssen schließen und reihen sich in die stetig größer werdende Gruppe der Arbeitslosen ein, die vor Suppenküchen auf einen Teller Wassersuppe warten.

Emma entscheidet sich zu etwas, das sie noch drei Jahre zuvor nicht einmal im Traum erwogen hätte und was ihr auch jetzt Beklemmungen und Herzklopfen verursacht, hofft aber, das Richtige zu tun. Sie erfüllt sich ihren Kindheitstraum und kauft ein Klavier, ein wunderbares neues, schwarz lackiertes Klavier auf Raten, bevor das ersparte Geld wertlos wird.

Endlich hat sie den Platz dafür in ihrer eigenen, fein renovierten Wohnung. Als es eintrifft, ist sie aufgeregt wie lange nicht. Kaum sind die Träger mit ihren Gurten abgezogen, setzt sie sich an das Instrument, schlägt den Deckel auf, schaut auf die schwarzen und weißen Tasten, atmet den Duft nach Holz und frischem Lack, fährt mit einer Hand behutsam über die Tasten und spürt, wie ihr vor Glück Tränen die Wangen herunterlaufen.

Seit einem knappen Jahr hatte Emma am Konservatorium Musiktheorie belegt. Über Tante Selma, bei der sie als Kind Lautenunterricht erhielt, hatte sie eine alte Klavierlehrerin kennengelernt, die ihr für wenig Geld Klavierunterricht gab. Sie durfte dort üben, nahm dieses Angebot jedoch nur selten in Anspruch, um der alten Dame ihr Geklimper, wie sie es nannte, nicht zuzumuten. Aber Frau Manzel, die Klavierlehrerin, hatte Emma gern bei sich. Sie erkannte schnell, dass sie es mit einem jungen Menschen von außergewöhnlicher Musikalität und Begeisterung für das Erlernen des Klavierspiels zu tun hatte. So war Emma schnell vorangekommen und konnte bereits leidlich spielen, als ihr schwarzglänzendes Klavier in ihrer Wohnung eintraf.