WASTELAND – Schuld und Sühne

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Aus der Reihe: Wasteland #1
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Kapitel 2

Lucas senkte langsam die Waffe, als er sich der Frau näherte und ihren Zustand einschätzte. Sie war in den Oberschenkel und in den oberen Brustkorb getroffen worden. Ihre leichte Schutzweste hatte nicht ausgereicht, um sie gegen die Gewehrkugeln zu schützen. Er kauerte sich neben sie und blickte in ihre bleichen Züge: Ihr Ausdruck wechselte zwischen Agonie und Bewusstlosigkeit.

Er filzte sie und fand einen kurzen .38er Revolver in ihrem Hosenbund. Er warf die Waffe beiseite und blickte hinauf zum Himmel. Er machte sich Sorgen, dass es bald zu dunkel sein würde. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Frau zu und zog ihr vorsichtig die Schutzweste aus. Danach waren seine Finger schlüpfrig von ihrem Blut. Eilig suchte er in seiner Flakweste nach der wiederaufladbaren LED-Taschenlampe.

Lucas schaltete die kleine Taschenlampe ein und ließ den Lichtkegel zu den Wunden der Frau wandern. Das Bein sah nicht allzu schlimm aus, die Wunde in ihrer Brust schon – der Blässe ihrer Haut nach hatte sie bereits eine Menge Blut verloren und es bestand die Gefahr, in einen Schockzustand zu verfallen, wenn das nicht längst geschehen war. Immer mehr Blut kam aus der Eintrittswunde. Lucas musste eine schnelle Entscheidung treffen. Und er brauchte das Licht der Stablampe, auch wenn es die bösen Jungs anlocken konnte. Ansonsten würde die Frau sterben.

Er folgte seinen Spuren zurück zu Tango und holte das Erste-Hilfe-Set aus der Satteltasche. Das Pferd schien seine Aufregung zu spüren und wieherte leise.

»Keine Sorge, mein Großer. Wir hauen hier so bald wie möglich ab«, murmelte Lucas, bevor er zu der Frau zurückging.

Nachdem er die Taschenlampe wieder eingeschaltet hatte, holte er eine Plastikflasche heraus und drehte den Verschluss ab. Der Geruch von hochprozentigem Alkohol stieg ihm in die Nase. Dreifach gebrannt von seinem Großvater, aus Getreide, das auf seiner eigenen Ranch wuchs, brachte den ›White Lightning‹ auf über 70 Volumenprozent. Abgesehen davon, dass er ein heißbegehrter Tauschartikel war, machte ihn das auch zu einem vorzüglichen Desinfektionsmittel, obwohl diese Verwendung seinem Grandpa nicht gefallen hätte. Für ihn war das nur eine Verschwendung von gutem Schnaps.

Lucas nahm eine Plastikplane aus der Verpackung und breitete das Feldbesteck darauf aus. Nachdem er die Wunde in der Brust noch einmal untersucht hatte, sterilisierte er eine langstielige Wundzange. Als er sicher sein konnte, dass das Instrument keimfrei war und keine Infektion auslösen würde, nahm er sich zunächst die Beinwunde vor. Er stellte fest, dass es sich um einen sauberen Durchschuss handelte. Da hatte sie Glück gehabt, doch bei ihrer Brustwunde sah es anders aus. Die Kugel hatte zwar ihre Lunge verfehlt, aber es gab keine Austrittswunde und er war nicht darauf vorbereitet, im Freien und nur im Licht einer kleinen Taschenlampe einen chirurgischen Eingriff durchzuführen.

Er stocherte vorsichtig in der Eintrittswunde herum und versuchte dabei, das Projektil zu ertasten, gab aber nach ein paar fruchtlosen Minuten auf. Das Beste, was er tun konnte, war, die Wunde mit dem Alkohol zu sterilisieren und einen Druckverband anzulegen. Wenn sie die Nacht überstand, konnte er versuchen, sie zum nächsten Handelsposten zu transportieren, wo es qualifiziertere Hände gab. Lucas war mit dem Anblick von Blut vertraut und hatte seit dem Kollaps schon ein paar Wunden versorgt, aber noch keine, die so ernst war. Obwohl er ein Army-Handbuch zur Notversorgung durchgeackert hatte, war er hier überfordert.

Der Blutverlust war vermutlich riskanter als die Möglichkeit, dass die Kugel wanderte und so mehr Schaden anrichtete. Dem Blutfluss nach waren keine größeren Blutgefäße verletzt, aber ganz sicher war er nicht. Er suchte nach auffälligen arteriellen Blutungen, doch als er nur schwächere Einblutungen sah, holte er eine Phiole Morphin aus dem Notfallset, das er nach dem Kollaps aus einem Krankenhaus hatte mitgehen lassen. Er hatte die Droge bisher nie einsetzen müssen und hoffte um der Frau willen, dass die karamelfarbene Flüssigkeit noch ihren Kick hatte, obwohl sie schon lange abgelaufen war. Lucas goss Alkohol über ihre Armbeuge und spritzte ihr Dreiviertel der kleinen Ampulle in die Vene. Danach tauchte er die Nadel in Alkohol, wobei er den Verschluss als Behälter nutzte. Nach dreißig Sekunden Desinfektion nahm er die Nadel heraus und verstaute sie wieder im Notfallset.

Die Atmung der Frau wurde ruhiger und regelmäßiger. Lucas nahm seinen Hut ab und legte ein Ohr auf ihren Brustkorb, um lauschen zu können, ob ihre Lunge sich mit Flüssigkeit füllte, aber viel hörte er nicht. Ihre Atemwege schienen frei, aber das war im Augenblick reines Wunschdenken. Selbst wenn sie gerade in ihrem eigenen Blut ertrank, konnte er doch nicht mehr tun als zu beten und ihr den Rest Morphium zu spritzen.

Lucas lehnte sich zurück und griff nach dem Alkohol, widerstand aber dem Wunsch, einen Schluck zu nehmen, um seine Nerven zu beruhigen. Er goss ihn stattdessen über ihre Beinwunde und wusch dabei das getrocknete Blut weg. Sie rührte sich kaum. Bevor er sich um die Schusswunde in der Brust kümmerte, nahm er aus einer versiegelten Packung Wundverbände und platzierte zwei davon auf ihrem Oberschenkel, die er mit einem Verband fixierte, nachdem er das Ganze großzügig mit Braunol betupft hatte.

Besser als nichts, dachte er und kümmerte sich um die Wunde in ihrer Brust. Hier reagierte sie auf den Alkohol mit einem Zucken und schmerzvollem Stöhnen, doch die Augen der Frau öffneten sich nicht. Wieder desinfizierte er die Stelle und träufelte etwas Alkohol direkt in die Wundöffnung, nur um sicherzugehen. Danach improvisierte er einen Druckverband, um die Blutung zu stillen.

Als er fünf Minuten später seine Sachen zusammenpackte, war es längst dunkel geworden und er hatte es plötzlich eilig, die helle Taschenlampe abzuschalten, bevor der Lichtkegel unliebsame Gesellschaft herbeilockte. Er lief zu Tango zurück und packte das Set wieder in die Satteltaschen. Endlich schaltete er die Lampe aus und steckte sie in die Tasche. Lucas wartete neben seinem Pferd, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Über den entfernten Hügeln schossen Blitze aus dichten Wolkenmassen, gefolgt von einem gelegentlichen Donnergrollen. Er zählte vom nächsten Aufblitzen bis zum Donnerschlag und errechnete, dass der Sturm noch mindestens fünfzehn Meilen entfernt war.

Schuldbewusst blickte er in der Dunkelheit zu den Toten hinüber. Hätte er mehr Zeit gehabt und wenn er sich nicht um die verwundete Frau hätte kümmern müssen, dann hätte er die Leichen vermutlich mit Steinen bedeckt oder mit seinem Klappspaten in einer flachen Grube beerdigt. Aber mit einem Gewitter im Anmarsch und angesichts des schlechten Zustands der Frau waren ein paar Worte des Gebets alles, was er für die Gefallenen tun konnte.

»Möge Gott deiner Seele gnädig sein«, schloss er und wunderte sich über den Wankelmut des Universums: All diese Männer, ob sie nun Raider oder Reisende gewesen waren, hatten die schlimmste Katastrophe der Menschheit seit biblischen Zeiten überlebt, nur um hier, in einem namenlosen, trockenen Flussbett zu sterben. Er nahm an, dass es schon immer so gewesen war, doch in solchen Momenten der Sinnlosigkeit wurde sein Glaube auf eine harte Probe gestellt.

Der Wind winselte wie ein alter Hund und holte ihn aus seiner Trance. Er führte Tango zu dem Ort hinüber, an dem die Frau in einem drogeninduzierten Schlummer lag. Er hatte darüber nachgedacht, ihr Wasser aus seiner Trinkflasche einzuflößen, entschied sich jedoch dagegen. Es konnte die Dinge verschlimmern und sie sogar ersticken.

Stattdessen ging er zu dem toten Packpferd mit der Trage zurück und löste die beiden langen Stangen von seinem Rücken. Glücklicherweise war keine davon zerbrochen, als das arme Tier zu Boden gegangen war. Die einfache Pferdetrage, eigentlich nur ein Stück Segeltuch zwischen zwei Holzstangen, wie es früher die amerikanischen Ureinwohner verwendet hatten, war von findigen Überlebenden wiederentdeckt worden, die mit Esel, Pferd oder Kuh unterwegs waren. So konnten sie viel mehr transportieren als auf dem Rücken ihrer Tiere, sogar durch unwegsames Gelände, das für Wagen unpassierbar gewesen wäre.

Lucas schlang die Befestigungsseile um das Sattelhorn und die gekreuzten Stangen spreizten sich hinter Tango. Beim ersten Mal hatte er die Trage nicht durchsucht, war aber dankbar, ein paar Wasserkanister und mehrere Körbe mit halbverfaulten Äpfeln und Orangen zu finden. Nach kurzem Überlegen entschied er sich, zwei der Kanister, einen Korb Obst und die restlichen Waffen mitzunehmen, die nicht mehr in die Satteltaschen gepasst hatten. Wenn Tango ohnehin die Frau zog, dann würden ein paar Pfund mehr Ausrüstung auch nicht schaden.

Als er fertig war, inspizierte er sein Werk. Es würde die Frau mit Leichtigkeit aushalten. Wenn er es langsam angehen ließ, war es für seinen großen Hengst auch keine echte Herausforderung. Als er die Frau aufhob, war er überrascht, wie leicht sie war. Er hatte so lange keine Frau mehr in den Armen gehalten, dass er beinahe vergessen hatte, wie …

Er schüttelte den Gedanken ab und legte sie auf der Trage ab, wo er sie mit einem Stück Seil fixierte, damit sie nicht herunterfiel. Weit wollte er in der Nacht nicht reisen – wer nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs war, bettelte praktisch um einen Hinterhalt und dem ging er gern aus dem Weg.

Lucas schwang sich mit einer fließenden Bewegung in den Sattel und schnalzte Tango zu. Der Hengst begann zu ziehen und Lucas war erleichtert, dass das Pferd mit dem zusätzlichen Gewicht gut zurechtkam. Sie folgten dem fallenden Flussbett, bis es Lucas an einer flachen Stelle möglich war, Tango auf den Grat zurückzulenken. Oben angekommen machte er eine Pause und suchte den Horizont mit dem Fernglas ab. Doch abgesehen von der sich auftürmenden Wolkenkette im Westen gab es nichts zu sehen. Dem Klang des Donners nach hing das Gewitter über den Bergen fest, wo es hoffentlich bleiben würde. Das würde ihnen am Morgen schlammige Pfade ersparen.

 

Ein Stück entfernt fand er einen Lagerplatz, an dem er schon früher übernachtet hatte. Er hatte dort freies Schussfeld und nur zwei Wege führten auf die Lichtung am Fuße eines aufragenden Felsens. Er sattelte Tango ab und streichelte sein Pferd anerkennend, bevor er es zum Grasen schickte. Tango, mittlerweile viereinhalb Jahre alt, war von Lucas aufgezogen worden. Er hing an ihm, soweit das für ein Tier überhaupt möglich war. Lucas hatte keine Sorge, dass Tango sich zu weit entfernen würde. Er zog es vor, in der Nähe der Lichtung zu bleiben, wo es zu dieser Jahreszeit reichlich Gras zu Fressen gab.

Lucas sah erst kurz nach der Frau, bevor er im Umkreis von 50 Metern Stolperdrähte zog. Er spannte sorgfältig kunststoffummantelten Draht zwischen zwei Bäumen, die den Hauptzugang einrahmten, den ein möglicher Eindringling nehmen würde. Den Vorgang wiederholte er am rückwärtigen Zugang zwischen zwei Felsen, wo er den Draht zwischen zwei solide aussehenden Jungbäumen spannte.

Er ging zurück zu der Stelle, an der die Frau auf der Trage schlief, öffnete einen der Wasserkanister und schnupperte daran, bevor er Tango Wasser anbot, der ein paar Meter entfernt genüsslich den Boden abgraste.

»Willst du auch etwas Wasser, mein Junge?«, flüsterte er und Tango trabte auf ihn zu, als hätte er verstanden. Das Pferd soff den Kanister komplett leer, was Lucas wieder einmal daran erinnerte, dass Tango am Tag mindestens zehn Gallonen Wasser benötigte. Mehr sogar, wenn er sich verausgabt hatte.

Lucas rollte seinen Schlafsack aus, legte ihn über die Frau und setzte sich neben sie. Er lauschte ihrer Atmung, was nur durch einen gelegentlichen Eulenschrei und entferntes Donnergrollen unterbrochen wurde. Lucas schob ihr eine Strähne hellbraunen Haares aus der Stirn und studierte ihre Züge im schwachen Mondlicht, das zwischen Wolkenfetzen hindurchschimmerte.

»Was hast du nur da draußen gemacht?«, murmelte er. »Eine todsichere Methode, sich umbringen zu lassen.«

Er entschied, ein kleines Feuer zu riskieren. Die Lichtung lag abgelegen zwischen hohen Felsen. Es sollte ungefährlich sein und er hatte es schon vorher getan, wenn er hier campiert hatte. Tatsächlich lag seine alte Feuerstelle nur ein paar Schritte entfernt. Nachdem er ein paar trockene Zweige gesammelt und die Steine der Feuerstelle zusammengerückt hatte, beträufelte er das Holz mit dem Geheimrezept seines Großvaters und zündete es mit einem Wegwerffeuerzeug an – eines von dreien in seinem Besitz. Es waren hochbegehrte Tauschartikel.

Das Feuer erwachte zum Leben und er beobachtete die tanzenden Flammen über dem knisternden Holz. Er kaute langsam etwas von dem Trockenfleisch, das er und sein Großvater auf ihrer Ranch herstellten und starrte gedankenverloren auf die orangefarbenen Flammenzungen, die sich in den Nachthimmel reckten.

Lucas schüttelte seine Müdigkeit ab und sah zu Tango hinüber, der längst wieder graste und die Selbstgespräche seines Herrn ignorierte. Lucas zuckte entschuldigend mit den Achseln und lehnte sich gegen den harten Felsen. Sein M4A1 lag mit montiertem Nachtzielgerät quer über seinen Knien, die Kimber ruhte an seiner Hüfte, doch seine Lider waren schwer, denn ein langer Tag hatte alles Adrenalin aufgebraucht. Er gestattete sich den kleinen Luxus, für einen Moment die Augen zu schließen, damit sie nicht mehr so brannten. Die Erinnerung an seine verstorbene Frau Kerry war mit einem Mal in seinem Kopf und er stieß einen Seufzer stiller Trauer aus. Lucas behielt ihr Abbild solange es ging vor seinem geistigen Auge, bis es sich auflöste wie Morgennebel. Ihre lächelnden Augen verschwanden zuletzt.

Ging er deswegen dieses Risiko ein und versuchte, die fremde Frau zu retten? Waren es Schuldgefühle, weil er seine Ehefrau nicht hatte retten können, die Liebe seines Lebens? Weil er seinen Job wichtiger genommen hatte als seine Ehe?

»Das ist nicht wahr«, flüsterte er, doch seine Worte klangen hohl.

Er war in den ersten Tagen des Kollapses im Außeneinsatz gewesen, bei dem Versuch, die Ordnung aufrechtzuerhalten, obwohl sich die Situation ständig verschlimmerte. Als die Grippe sich ausbreitete, waren viele Polizisten nicht mehr zur Arbeit erschienen. Die Nationalgarde hatte eigentlich ausrücken sollen, doch Lucas hatte ernste Zweifel gehegt, dass sich noch viele zum Dienst melden würden. Kerry hatte ihm versprochen, im Haus zu bleiben, die Türen abzuschließen und die Rollos unten zu lassen, aber irgendetwas – er hatte nie erfahren, was es war – hatte sie dazu veranlasst, die Sicherheit des Hauses zu verlassen.

Als man ihre Leiche fand, hatte Lucas all seine Willenskraft benötigt, um sich nicht den Lauf seiner Kimber in den Mund zu stecken und ihr in den Tod zu folgen. Er hatte nie herausgefunden, wer sie auf so unaussprechliche Weise missbraucht hatte, bevor er ihr Leben auslöschte. In der allgemeinen Abwärtsspirale der folgenden Tage war er gezwungen gewesen aufzugeben und sich auf sein eigenes Überleben zu konzentrieren.

»Du hättest nichts tun können«, wisperte er und rieb sich mit der Handfläche über sein Gesicht. »Niemand hätte das.«

Das war die Wahrheit, fühlte sich aber wie eine Lüge an. Er hätte zu Hause sein sollen, um sie vor allem Übel zu schützen, statt nur seinen Job zu machen. Er hätte wenigstens … irgendetwas tun können.

Allerdings hätte Lucas dafür ein anderer Mensch sein müssen – einer, der die ihm übertragenen Aufgaben beim ersten Anzeichen von Problemen hinwarf, einer, der die Menschen nicht schützte, die er zu schützen geschworen hatte – nur für den Fall, dass seine leichtsinnige Frau dachte, er würde es mit der ständig wachsenden Gefahr da draußen übertreiben.

Das wäre für ihn nie eine Option gewesen.

Aber sie hatte den Preis dafür bezahlt.

Sein Verstand ging auf Wanderschaft und spielte noch einmal wie in Zeitlupe den Sturz ins Chaos durch, als die Zivilisation zusammenbrach. Die Realität traf die Bevölkerung vollkommen unvorbereitet: Eine Versorgungskette für nur maximal drei Tage und abhängig von staatlicher Fürsorge, was Strom, Wasser und ihren eigenen Schutz anging. Ihr Vertrauen in den Staat erwies sich als unbegründet, als die Leichen sich zu stapeln begannen und eine Hungersnot die Nation erschütterte, gefolgt von totaler Anarchie. Er erinnerte sich noch an seine letzte Fernsehsendung, in der ein sichtlich nervöser Sprecher mit Schweißperlen auf der Stirn seine Zuschauer beschwor, dass alles gut werden würde und sie nicht in Panik verfallen sollten. Sie sollten in ihren Häusern bleiben, da man das Kriegsrecht verhängt hatte. Und er erinnerte sich an das Versprechen, dass es niemals zu dem apokalyptischen Szenario kommen würde, das sich bereits wie ein Lauffeuer über die sozialen Medien verbreitete. Nur eine weitere schlechte Lüge.

Das Wort ›niemals‹ hatte sich in Lucas' Erinnerung eingebrannt, in seiner ganzen, totalen Verlogenheit. Nur Stunden später war das Internet zusammengebrochen und es spielte letztendlich keine Rolle, ob es Vandalen oder die Regierung selbst gewesen war. Als er am folgenden Tag in seinem leeren Haus erwachte, war seine Ehefrau noch keine Woche tot. Es gab keinen Fernsehempfang, der Strom war weg und überall in der Umgebung waren Schüsse zu hören. Für immer vorbei war es auch mit seinem Job, seiner verdammten Pflicht und der komfortablen Routine, als der Tag, der angeblich nie kommen sollte, eingetroffen war.

Lucas seufzte wieder und fragte sich, warum er sich immer noch mit diesen vergifteten Erinnerungen herumquälte. Seit diesen Tagen war eine Ewigkeit vergangen. Jetzt war er nur noch einer von den Überlebenden, die versuchten, das Beste aus der Hölle zu machen, die sie umgab. Wie und warum es dazu kommen konnte, war letztendlich unwichtig. Es war eben passiert, nur das zählte.

Er öffnete seine Augen und blickte hinauf in das orangefarbene Mondlicht über dem hohen Gras und dann nach unten auf das Feuer, das schon halb heruntergebrannt war. Seine Augen wanderten zu der Frau hinüber und seine Gedanken rasten. Wie lautete ihre Geschichte? Woher kam sie und wohin wollte sie? Und was machte sie mit vier schwer bewaffneten Söldnern mitten im Niemandsland, einer Region, die selbst unter günstigsten Umständen bekanntermaßen gefährlicher als eine Giftnatter war?

Kapitel 3

Lucas schreckte mit einem leisen Fluch hoch. Seine Augen tasteten die Umgebung ab und blieben an der nahegelegenen Feuerstelle hängen. Das Feuer war nur noch eine schwelende Glut, das Holz war längst verbrannt und eine dünne Rauchfahne stieg aus der Asche.

Er war eingenickt, als er seinen quälenden Erinnerungen nachhing. Doch irgendetwas hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Tango schnaubte irgendwo in der Nähe, ein klares Warnsignal für Lucas, der sich bereits auf die Beine kämpfte. In diesem Moment hörte er ein Fluchen und das schnappende Geräusch des Stolperdrahts am Hauptzugang.

Er wartete nicht ab, bis der Flucher zu sehen war. Wie auf Autopilot bewegte er sich rasch aber lautlos auf den Spalt an der Rückseite der Lichtung zu, wobei er den selbst gelegten Stolperdraht umging, bis er sich zu einem Felsvorsprung vorgearbeitet hatte, von dem aus er ein gutes Sichtfeld auf die Umgebung und eine steinerne Deckung hatte.

Augenblicke später war er oben angekommen und blickte auf drei Gestalten hinunter, die durch das Gras auf Tango zu krochen. Die Frau lag noch in komatösem Zustand auf der Plane, nur ein paar Meter von seinem Pferd entfernt. Im Geiste ging Lucas seine Optionen durch – er konnte es vermutlich mit drei Männern aufnehmen, doch wenn er auch nur einen verfehlte, würde der in Richtung von Tango und der Frau feuern. Es gab keine Garantie für todsichere Schüsse in der Dunkelheit. Nein, er musste versuchen, sie zu umgehen und von der Seite anzugreifen, während sie sich auf die Lichtung vorarbeiteten. Er beobachtete für ein paar Sekunden ihre Bewegungen. Es musste sich um irgendwelche Gauner handeln, denn ihr Vorgehen zeugte von Unerfahrenheit. Sie schlichen geradewegs in eine potenzielle Falle.

Das machte sie in seinen Augen zu Narren.

Allerdings machte es sie nicht weniger gefährlich, war aber vielleicht ein Vorteil zu seinen Gunsten.

Er zog sich von der Felsspalte zurück und folgte dem Weg zur Lichtung. Dann umging er die freie Fläche weiträumig im Schutz der sie umgebenden Felsen. Er sah die Umrisse von drei Pferden in der Nähe einer Baumgruppe, etwa dreißig Meter den Berg hinunter. Er musste seine Meinung revidieren – so dumm konnten die Banditen nicht sein, da sie das Lager entdeckt hatten und clever genug gewesen waren, ihre Reittiere zurückzulassen.

Lucas erreichte seinen Stolperdraht und stieg darüber hinweg. Die Männer waren etwa 25 Meter vor ihm und kommunizierten mit Handsignalen. Sie ahnten nicht, dass er sich hinter ihnen befand. Er kniete sich hin und nutzte einen Baumstamm, um den Lauf der M4 ruhig zu halten. Sein Finger tastete nach dem Sicherungshebel. Es war die Einstellung für kurze Feuerstöße.

Der Wind drehte und drückte das hohe Gras in der Nähe herunter. Die Brise trug den Gestank von saurem Schweiß und Verwesung von den bewaffneten Männern zu ihm. Typisch für die Leichenfledderer, die die Wüste unsicher machten. Ihr Interesse an Hygiene und regelmäßigen Bädern war minimal. Lucas verzog bei der Duftnote das Gesicht und nahm die erste Gestalt durch das Nachtzielgerät ins Visier. Das grünliche Abbild war taghell, dank wiederaufladbaren Akkus. Der Bewaffnete trug etwas, das wie eine doppelläufige Schrotflinte aussah. Das bestätigte Lucas' Einschätzung, dass es sich um Grenzratten handelte, die sein Lagerfeuer bemerkt hatten und ihm wie Motten zum Licht gefolgt waren – Opportunisten auf der Suche nach leichter Beute.

Genau das sollte, wenn es nach ihm ging, ihr letzter Fehler gewesen sein.

Sein Finger krümmte sich um den Abzug und sein Sturmgewehr bellte die erste Salve heraus, die den Mann mit der Flinte traf. Die Kugeln warfen ihn herum, bevor er ins Gras stürzte.

Lucas hatte bereits den zweiten Mann im Visier, der sich herumwarf und in seine Richtung feuerte, ihn aber weit verfehlte. Lucas mähte ihn mit zwei gezielten Salven nieder. Das Gewehr fiel aus den Händen des Mannes, als er vornüber kippte.

Lucas suchte das Gras durch sein Zielfernrohr ab, auf der Suche nach dem Dritten und fluchte im Stillen. Nichts.

 

Der Kerl war im hohen Gras verschwunden und offensichtlich schlau genug, nicht wild drauflos zu ballern.

Das brachte Lucas in eine Zwickmühle: Sollte er warten, bis der Kerl sich zeigte, in der Hoffnung, dass er der Schnellere war? Oder sollte er sich zurückziehen und eine erhöhte Position suchen, von der aus er den Schützen vielleicht ausmachen konnte, weil das Gras aus dieser Perspektive nur wenig Deckung bot?

Er machte sich die Entscheidung nicht schwer. Lucas löste sich vom Baum und verschwand in den Schatten, um zur Rückseite der Lichtung und zu dem Felsvorsprung zurückzukehren.

Als er dort eintraf, hoffte er insgeheim, dass der Leichenfledderer das Weite gesucht hatte, nachdem seine Kumpanen erledigt waren. Der Kerl konnte schließlich nicht ahnen, wie viele Männer das Lager verteidigten und er kämpfte jetzt allein. Das Element der Überraschung hatte er auch verloren, war also klar im Nachteil.

Lucas nahm seinen Hut ab und legte ihn neben sich, bevor er durch den Spalt zwischen den Felsen spähte. Wie erwartet bot das Gras von hier oben aus keine Deckung, denn er konnte die toten Angreifer leicht ausmachen.

Den dritten Mann aber entdeckte er nicht.

Ein Wiehern unten am Fuß des Hügels bestätigte seinen ersten Verdacht. Der Mann hatte sich zurückgezogen, da er nicht wusste, woher die Schüsse kamen, und war zu den Pferden gelaufen.

Lucas wartete ein paar Minuten und lief, als er keine Bewegung mehr entdecken konnte, geduckt den Pfad zu den Bäumen hinunter.

Die Pferde waren verschwunden.

Er nickte gedankenvoll. Tote Männer brauchten keine Pferde und ihr ganzer irdischer Besitz war vermutlich in den Satteltaschen gewesen. Also war der dritte Mann gerade deutlich wohlhabender geworden, dank der Besitztümer seiner Gefährten und dem Marktwert ihrer Pferde.

Lucas lief zu Tango zurück, immer noch wachsam. Er blieb bei jeder der Leichen stehen, musste aber dabei die Luft anhalten. Er konnte über den schlechten Zustand ihrer Waffen und die dreckigen Lumpen, die sie am Leib trugen, nur den Kopf schütteln. Dass die Menschheit auf dieses Niveau herabgesunken war, machte ihn traurig, aber Gewissensbisse hatte er keine. Es ging um Leben und Tod in diesen Tagen und er konnte es sich nicht leisten, zu zögern oder zimperlich zu sein. Diese hässliche neue Welt kannte keine Gnade und er fragte sich bereits, ob es nicht eine schlechte Entscheidung gewesen war, den Plünderer entkommen zu lassen.

Tango wartete schon auf ihn, sichtlich aufgeregt wegen des Schusswechsels, hielt aber die Stellung. Die Frau war nach wie vor bewusstlos und ahnte nichts von dem Drama, das sich um sie herum abgespielt hatte. Lucas verschwendete keine Zeit damit, den kostbaren Stolperdraht wieder einzusammeln, sondern sattelte Tango, befestigte die Trage und war binnen Minuten von der Lichtung verschwunden. Er ritt durch die vom Sternenlicht schwach erleuchteten Hügel, während die letzten Ausläufer des Gewitters, das seinen Zorn in den Bergen losgelassen hatte, noch ein paar vereinzelte Blitze über die Gipfel zeichneten. Lucas hasste es, bei Nacht zu reisen, aber er wollte das Risiko nicht eingehen, dass der Leichenfledderer später mit Freunden zurückkehrte. Das Lager war entdeckt worden und somit nutzlos für ihn. Er würde es in Zukunft umgehen, wenn er wieder in der Gegend war. Aasfresser würden sich um die Leichen der Gefallenen kümmern und binnen eines Tages würden nicht viel mehr als blanke Knochen übrig sein, nachdem sich die Kojoten, die Geier und schließlich die Insekten bedient hatten. Hier im Niemandsland wurde nichts verschwendet. Nicht einmal menschlicher Abfall, der lieber seine eigene Spezies jagte, statt von ehrlicher Feldarbeit zu leben.

»Wir haben noch einen langen Weg«, flüsterte Lucas Tango zu und klopfte ihm auf den Nacken. Nur allein sein Überlebenswille verbannte noch die Erschöpfung, die er bei sich selbst spürte.