Buch lesen: «Maminkas Sommerküche»

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Inhalt

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65  Danksagung

66  Biographisches:

Rumjana Zacharieva

Maminkas Sommerküche


Roman

Zacharieva, Rumjana: Maminkas Sommerküche. Frankfurt am Main, Größenwahn Verlag 2020

1. Auflage 2020

ISBN: 978-3-957712-80-6

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ePub-eBook: 978-3-957712-81-3

Korrektorat: Sophia Krämer

Satz: 3w+p GmbH, Rimpar

Umschlaggestaltung: @Annelie Lamers, Hamburg

Umschlagmotiv: @ Claudia Leffringhausen – www.leffringhausen.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Größenwahn Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der Verlags-WG:

https://www.verlags-wg.de

© Größenwahn Verlag, Frankfurt am Main 2020

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.groessenwahn-verlag.de

Widmung:

Für meine Töchter Svetlana und Darina und meine Enkelkinder Leonis, Laurent, Aleksandar und Teodora

1

Verwöhnt. Ein schönes Wort war das nicht, und ich trug es wie einen Stempel auf der Stirn. Was war es, das mir dieses Wort eintrug? Etwas mit mir schien nicht in Ordnung. Ich musste unbedingt dahinterkommen! »Achtzig Prozent und das Knopfloch entzwei!« Das sagte ich immer, wenn ich fluchte.

Jeden Morgen stieg ich auf den Esstisch, hockte mich nackt vor den Spiegel meiner Großmutter Maminka und hoffte, endlich richtige Brüste zu entdecken. Mein Spiegelbild blickte mir matt entgegen: Zwei blasse, bräunlich auslaufende Augen – meine zukünftigen Brüste – sahen mich an und sonst nichts. Ich seufzte und zog mich wieder an. Nur Bedrisch, die einzige Türkin in unserer Klasse, hatte schon ein volles Dekolleté. Trotzdem war sie dreimal sitzengeblieben. Von diesem Standpunkt aus betrachtet war meine Lage nicht so hoffnungslos, wie sie im Spiegel aussah. Dieses Warten auf die Brüste machte mich nervös.

Manchmal, wenn ich die weißen Wände meines Zimmers betrachtete, packte mich die Lust zu malen, am liebsten Freitag und Robinson Crusoe an die Wand über dem Ofen, dazu in der Ferne die Silhouetten der Menschenfresser. Und zwischen Spiegel und Fenster den kleinen Clochard, wie er die Fahne der Revolution auf den Pariser Barrikaden schwenkt.

Ich wollte für die Freiheit sterben. Manchmal. »Pioniere! Man kann Heldentaten vollbringen, wenn man will!« Der Organisationsleiter hatte Recht. Man hätte zum Beispiel mehr Kamille als vorgeschrieben in den Ferien pflücken können. Ich zog es aber vor, für die Freiheit zu sterben, statt Kamille für die Kooperative zu pflücken.

Die Kamille. Nachts träumte ich davon.

Ich schwebe über einem Kamillenblütenfeld. Ich schwebe. Ich trage einen Riesenkorb, und der Korb zieht mich voran. Der Korb verwandelt sich in einen Ballon. Meine Mutter flicht einen Kranz‚ einen Kranz aus Kamillenblüten, und möchte ihn mir im Haar befestigen. Sie läuft durch das Kamillenblütenfeld und ruft meinen Namen, streckt die Hände empor, schreit. Ich aber fliege fort, entferne mich von ihr und vom Kamillenblütenfeld. Dann wird der Korb schwer, so schwer, dass er mich nach unten zieht. Ich falle langsam, halte die Luft an, der Korb ist voll mit dampfenden Kamillenblüten. »Warum hast du die Blüten nicht auf der Zeitung ausgebreitet, Mila?« ruft Großmutter plötzlich, hält sich am Korb fest. Wir versinken in einer Woge aus Kamillenduft, es wird tiefer und tiefer unter mir, ich versinke in einer Flut aus Kamillenblüten, Mutter will mir unbedingt den Kranz ins Haar stecken, sie stolpert, hält sich am Korb fest. »Halt dich fest«, ruft Maminka und streut Kamillenblüten über Mutters schwarzes Haar. »Du hast mich nie Völkerball spielen lassen, Mutter! Ich musste dauernd Brot backen ...«, sagt Mutter zu ihrer Mutter und entfernt sich, versinkt im Zeitlupentempo, und über ihrem Kopf schließt sich das Meer der Blüten. »Du darfst nie wieder die Kamille über Nacht im Korb vergessen! Sie schwitzt dann und ihre Heilkräfte schwinden«, mahnt Maminka. »Lass uns nicht weiter versinken, Großmutter, sonst können wir die Norm nicht erfüllen, und ich stehe da am Anfang des Schuljahres und kriege meine neuen Schulbücher nicht.«

Sieben Kilo Kamille!

Ich gehörte weder zu den Tüchtigsten, die drei, vier Stunden am Tag pflückten, um Geld zu verdienen, noch zu denjenigen, die sich totpflückten, nur damit sie am 15. September, dem ersten Tag des neuen Schuljahres, als Stoßarbeiter gefeiert wurden. Ich wollte weder gelobt noch gefeiert werden. Ich wünschte nicht mal, Geld zu verdienen. Ich wollte bloß meine Schulbücher haben. Sieben Kilo Kamille war der Preis. Zu hoch?

Der Traum endete meistens mit Maminkas Hand auf meiner nassgeschwitzten Stirn und einer Tasse Kamillentee, schwer gesüßt, mit einem über dem Feuer gerösteten Stück Weißbrot und einem unwillig angenommenen Happen salzigen Schafskäses. Später trank ich nur noch Lindenblütentee. Es half nichts. Als erstes musste ich unbedingt einen guten Kamillenpflücker finden. Dieses Gerät, ausgerüstet mit einem rostigen Eisenkamm mit 29 Zähnen, bestand aus einem primitiv zusammengehauenen Kasten. Der Holzkasten wog fast zwei Pfund und fasste zwei bis drei Pfund Kamillenblüten. Mit einer schwungvollen Bewegung führte ich den Eisenkamm durch die Kamille, zog den Kasten hoch, und etwa dreißig Blüten fielen in den Bauch des Holzkastens. In drei Stunden hätte er den Bauch voll haben können. Mein Arm war längst lahm, ich atmete schwer, schwitzte vor Anstrengung und maß die Zeit in Kamillenblütengramm. Mein Sommer hieß Kamille und wog sieben Kilo – von Mitte Juni bis Mitte September.

Nie schaffte ich es, mehr als eine Handvoll Kamille an einem Vormittag zu pflücken. Dann war ich gerädert für den ganzen Tag. Es blieb mir nichts anderes übrig, als jeden Tag zwei Stunden der Kamille zu widmen, sodass ich in einem Monat ... »So ist es auch gemeint«, tröstete mich Maminka. »Die wollen euch doch bloß zeigen, wie man sein Brot verdient ... es ist schon recht so! Und wenn du dumm bist und dir die Ferien damit verdirbst, so ist es deine Sache!«

Ich wollte sterben ... für die Freiheit. Manchmal. Ich stellte mir vor:

Die Tür geht auf, sie treten ein. Die Faschisten. Ledermäntel, Deutschgebrüll. Die Stimme des ersten Ledermantels: »Ihr Name, bitte!« Meine Stimme: »Soja Kosmodemjanskaja, junge sowjetische Partisanin, gequält und ermordet von den Faschisten im Zweiten Weltkrieg!« Die Stimme des zweiten Ledermantels: »Sie lügen! Ihr wahrer Name, bitte!« Meine Stimme: »Rajna die Königin, die 1848 die Fahne der Aufständischen bestickte und im Kampf gegen die Osmanen trug!« Die Stimme des ersten Ledermantels: »Sie lügen schon wieder, aber ... lassen wir das! Haben Sie ...?« Meine Stimme: »Ja, ich habe!« Die Stimme des zweiten Ledermantels: »Abführen! Heil ...!«

Und es tat mir leid, dass es keinen Partisanenkrieg gegen die Faschisten mehr gab. Man hörte im Radio nur noch vom Kalten Krieg, und ich wollte mich daran beteiligen. Ich beschloss, den Organisationsleiter zu fragen, was dieser »Kalte Krieg« eigentlich war, und erst dann ...

Ich stellte mir immer wieder nur etwas Winterliches darunter vor. Ich wollte mich daran beteiligen. Dass ich eines Tages ein Denkmal dafür bekommen würde, stand außer Frage.

2

Sommer. Ferien. Im Radio der Kalte Krieg. Mir gelingt es nicht zu verschlafen: Seit fünf Uhr früh dröhnt der Lautsprecher auf dem Dorfplatz Volkslieder, Meldungen der Volksfront, der Weltpolitik, der Kooperative. Und immer wieder heißt es: »der Kalte Krieg«. Neulich sogar, »Der Kalte Krieg ist in seine entscheidende Phase getreten.«

Wie alt ich bin? Zehn oder zwölf.

Ich sehe mich in Maminkas Bett mit dem geschnitzten Adler überm Kopf und einem Adler mit weniger pedantisch geschnitzten Federn am Fußende des Bettes liegen. Der Tag sendet seine Zeichen an mein Ohr: Das Krähen der Hähne im Schatten der Nussbäume, das Gurren der Tauben unterm Fenster, die Stimmen der Frauen, die sich unter der Weide am Dorfplatz versammeln. Gleich werden sie mit Pferdekarren oder Lastwagen aufs Feld gefahren.

»Kalter Krieg«. Die raunende Stimme der Sprechanlage will mir dauernd etwas mitteilen, das ich nicht verstehe. Wörter wie »Kapitalisten«, »Faschisten« und immer wieder »Kommunisten« bohren sich in meinen Schädel. Dann die Pfeife der Tante Mita, die ihre einzige Milchkuh zum Grasen treibt. Und die Gerüche: Palatschinkenduft, gebrannter Zucker, nasser Staub von der Straße. Die Sprechanlage redet sich in Rage. Dieser Kalte Krieg muss nahe sein. Ich frage mich nur, wie nahe.

Der Palatschinkenduft jagt mich aus dem Bett. Ich schaue durch das Fenster: Getümmel. Der Bus aus der Stadt ist soeben angekommen, die Frauen der Siebten Brigade, die immer noch nicht abgeholt worden sind, gestikulieren, als würden sie einander anschreien. Die Herde der Kooperative, die zum Grasen geführt wird, überflutet den Dorfplatz mit ihren braunen Leibern – eine Szene wie im Krieg. Großmutter hat meine Fantasie mit solchen Bildern besiedelt. Großmutter.

Ich renne die Holztreppe hinunter, betrete die Sommerküche. Maminkas Gesicht leuchtet im Halbdunkel des Raumes. Über ihrem Kopf hängen Maiskolben und Knoblauchkränze. Sie sitzt da, die Hände ineinander verknotet, die Nägel weißumrandet, die Furchen ihrer Handflächen weißgezeichnet mit Mehl.

»Großmutter, der Kalte Krieg kommt!«

»Ach, Kind! Den werden wir auch überleben ... ich hab’ schon zwei Kriege erlebt, was kann da noch passieren.«

In mir wird es kalt und dunkel.

»Was ist aber ein kalter Krieg, bitte?«

»Ich weiß es nicht, Kind. Krieg ist immer schlimm.«

Ich stehe schnell auf und umarme sie. Eifrig wischt sie sich die Mundwinkel mit dem Handrücken, gibt mir einen Kuss. Ich lasse sie nicht los. Von draußen dröhnen immer noch die Lautsprecher. Maminkas Haut, feucht und warm, riecht nach Sonnenblumenöl, Vanille und Schweiß. Ihr Ohrläppchen, das ich zwischen den Fingern halte, ist kühl. Sie riecht anders als Mutter. Hier, in ihrer Umarmung, fühle ich mich sicher. Ihre Hände sind so rau, dass sie mich jedes Mal beim Berühren kratzen.

»Komm, spiel mit mir ...«, bettele ich, »sonst weiß ich nicht, was ich tun soll.«

»Heute Morgen geht es nicht, Kind. Ich muss stricken, der Winter kommt ...«

Plötzlich zählt nur noch der Kalte Krieg. Die Kamille habe ich längst vergessen. Ich möchte in die Bibliothek gehen und Bate Stefan nach dem Kalten Krieg fragen. Großmutter ist erleichtert.

»Geh nur, Kind, geh. Dafür sitzt er ja den lieben langen Tag da und liest Bücher ... er muss es ja wissen, und wenn er es nicht weiß, wer dann?«

So untätig dasitzen und nichts tun, das konnte ich nicht. Der Kalte Krieg war nah, vielleicht war er auch schon da ...

Ich ging durch die Straßen, die langgestreckt in der Sonne brieten. Mit Kuhfladen und Pferdemist verziert, zogen sie sich unendlich hin. Ich wollte wissen, wo dieser Kalte Krieg sich abspielte und wer genau daran beteiligt war. Ich sah die Winterlandschaft unseres Dorfes, die flachen, sanften Rundungen der Umgebung, mit Schnee bedeckt, als wären sie in Maminkas Backstube entstanden: weiße, in Mehl gewälzte Riesenbrote auf einem flachen Brett, die am Eingang des Backofens warteten – der angezündete Horizont.

Oft krochen in meiner Vorstellung lauter Kolonnen von winzigen Soldaten um die Berge herum, knabberten die Gipfel vor Hunger an, richteten sich vor dem Horizonteingang auf, wollten ihren Kalten Krieg vorm Himmelsbackofen zu Ende führen. Jeder wollte siegen, es kämpften alle gegen alle und stießen einander in den Backofen hinein, wo die Sonne Wege und Wolken, Häusergiebel und Zwiebeltürme buk. Doch dann erschien Maminka am Horizont, bewaffnet mit dem Holzspaten, die ausgebleichte Schürze an. Sie schaufelte sie alle miteinander in den Backofen hinein. »Los!« Das Grün ihrer Augen leuchtete gefährlich und fremd. Schweißtropfen kullerten ihr die Nase hinab, sie schaufelte und schaufelte, bis keiner der Kalten Krieger mehr übrigblieb, bis das Mehl der Schneeberge eine bräunliche, grasverbrannte Kruste bekam und es wieder Sommer wurde.

»Tach, Mädchen!« Die alte Frau mit dem so zerfurchten Gesicht, als wäre Großvater mit dem Traktor hindurchgefahren, winkte mich mit dem Strickzeug herbei. Sie saß auf einem Schemel vor der Haustür. Ich grüßte leise zurück und trat heran. Ihr Schoß, bedeckt mit einer schwarzen Schürze, war voll Flusen. Sie spuckte in ihre Handflächen und rieb sie weg, während sie mir vorwarf, dass Großmutter immer noch nicht gekommen sei. »Sie hat doch versprochen ...«

»Sie hat keine Zeit.«

»Warum hat sie denn keine Zeit?« Die alte Frau gab sich nicht zufrieden, holte ihr Gebiss heraus und säuberte es mit der Stricknadel.

»Weil ...«, mir fiel spontan nichts ein. »Sie ... sie hat wirklich keine Zeit. Sie strickt!«

»Sosonagutgrüßschön.« Sie schob ihr Gebiss wieder in den Mund, wischte die Stricknadel an ihrem Knie ab und strickte weiter.

Zwei Häuser weiter saß noch eine Frau vor der Tür und ... strickte. Eigentlich ribbelte sie etwas auf; die Stricknadeln lagen neben ihr auf der Bank.

»Tach ...«, grüßte ich im Vorübergehen.

»Tach! Willst’n paar Pflaumen haben?«, lächelte sie und griff in den Korb, der auf der Bank stand. »Sag deiner Großmutter, dass sie mal vorbeikommen soll. Es gibt so viele Pflaumen in diesem Jahr, sie kann ein paar pflücken und einmachen. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst tun soll: Marmelade kochen, einmachen oder stricken. Der Winter naht.«

Sie hätte auch sagen können: »Der Kalte Krieg naht«, so viel Unruhe lag in ihren Mundwinkeln, und dabei bewegten sich ihre Finger beim Stricken noch schneller. Ich ging weiter.

Die Sonne schien auf meinen Kopf. Der Weg zur Dorfbibliothek ging am Lebensmittelgeschäft vorbei. Eine lange Schlange wartete auf ... Ja! Sie warteten auf Gummiringe für die Einmachgläser, gerade war eine Fuhre aus der Stadt gekommen. Der Winter nahte. Sie waren geschickt, die Erwachsenen. Sie waren sich einig. Keiner von ihnen traute sich zu sagen: »Der Kalte Krieg naht!« Alle hatten keine Zeit. Sie waren am Einmachen, Stricken, Vorbereiten. Sie backten selber Brot, im Sommer, und sparten die Coupons, die ihnen die Kooperative austeilte, für den Winter auf. Wenn zufällig genug Zucker ins Lebensmittelgeschäft geliefert worden war, kaufte jeder gleich einen Zentner. Monatelang gab es dann keinen mehr zu kaufen. Sie rannten in die Stadt und stiegen vollbepackt aus den Bussen aus. Sie hatten wieder mal auf Vorrat gekauft: Stoffe, händevoll Aspirin für die Einweckgläser, Seife und Schmalz.

Plötzlich wollte ich nur noch sitzen. Sitzen und ruhen. Da setzte ich mich nun auf eine Holzbank. Meine Füße waren heiß in den Gummischuhen. Am liebsten hätte ich was getrunken, aber die nächste Wasserstelle war gegenüber der Dorfbibliothek. Unterm Lautsprecher versammelten sich lechzende Hühner mit ausgebreiteten Flügeln und aufgerissenen Schnäbeln. Zwei Zigeunerkinder bohrten hingebungsvoll in der Nase und fütterten die Hühner damit. Ein alter, zahnloser Mann ging schlurfend an ihnen vorbei und schimpfte sie aus. Zwei junge Männer bemühten sich, ein Transparent mit der Aufschrift »Alles für den Menschen« über die Straße zu spannen, und stiegen gleichzeitig die Stufen der Holztreppe empor. Der Lautsprecher forderte die Zigeunerkinder, die Hühner, den alten Mann und die zwei Aktivisten zu Sparmaßnahmen auf und versprach die Erfüllung des Jahresplans sieben Monate früher als vorgesehen. Dann machte er sie aufmerksam auf den Kalten Krieg und erinnerte sie nochmals daran, dass dieser in seine entscheidende Phase getreten war.

Ich stand auf. Ich hatte keine Zeit mehr, zur Bibliothek zu laufen. Ich wusste, was los war. Ich eilte und achtete weder auf die Kuhfladen noch auf die Steine unterwegs. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. In den Höfen wurden Seifen, Marmeladen und sonst noch was gekocht. Die Frauen strickten um die Wette. Endlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Keuchend, verschwitzt, stellte ich mich vor Maminka hin und verlangte laut:

»Großmutter, bring mir das Stricken bei!«

»Du willst stricken?«

»Ja!«

»Was willst du denn stricken?«

»Handschuhe! Handschuhe für den Kalten Krieg!«

3

Es riecht nach Palatschinken. Ich stürze die Treppe hinunter.

Das würde ich im Winter nie tun, da unsere offene Holzterrasse dem Schnee und dem Regen völlig ausgeliefert ist und dauernd einfriert. Eine komische Treppe ist das, die zu der Terrasse hinaufführt: Sie gleicht eher einer Leiter. Zwischen den Stufen kann man bis in den Keller hinabblicken. Wenn Besuch da ist und die Männer im Hof noch eine rauchen und etwas länger schwatzen, gehen die Frauen vor und halten ihre Röcke fest. Der Wind ist tückisch. Es ist still, so still, dass kein Quittenblatt sich rührt. Plötzlich kommt ein Windstoß, als hätte das Kind eines Riesen mal eben über die Straße geprustet. Und wieder ist es still. Maminka ging immer schnell, egal, ob sie etwas die Kellertreppe hinaufschleppte oder den Hof mit leeren Händen durchquerte. Ihre Haltung – die Haltung eines Menschen, der stets gegen den Wind gehen muss. Sie bot dem Wind ihre Stirn und ihre Schulter, die Hände hielten die Röcke fest, als würde sie unentwegt eine steile Treppe hinaufsteigen.

Manchmal weiß ich nicht, ob ich das alles geträumt habe:

Das ... Ein vierjähriges Kind steigt die Treppe hinauf. Es hält seine Röcke fest. Es trägt eine Porzellanschüssel. An den Füßen Maminkas Galoschen. Noch zwei Stufen. Das Kind rutscht aus, schreit nicht. Rutscht durch die zwei obersten Stufen hindurch, bis in den Keller hinab, schreit nicht, hält die Schüssel fest. Die Kichererbsen darin beschreiben einen Bogen, weit, von der zweitobersten Stufe bis zum Keller hinab.

In meinem Magen zieht sich etwas zusammen. Das Gefühl, in einem hinabstürzenden Aufzug zu sitzen ... Das Zusammenziehen im Bauch – damals. Der Vergleich mit dem Aufzug – heute. Der rote Himmel, der sich über meine Augen legt – das Blut, das aus der Kopfwunde fließt. Damals der Schmerz, heute das Bild eines roten Himmels über den Augen. Und immer wieder der Versuch, das Damals nachzuvollziehen. Der Überblick rückwärts und das ungeduldige Klopfen an der Schwelle der damaligen Empfindung. Heute sehe ich. Damals spürte ich: die raue Hand meiner Maminka, die mir frisch abgeschnittene Schafwolle in die Wunde über dem Haaransatz stopft, überzeugt von den Heilkräften jener Stelle, an der sich der Lammschwanz hochstellt, um ein paar schwarze Bohnen abzuschütteln. Djado, mein Großvater, der mich hält und mir schwer ins Gesicht atmet, sein Geruch nach Tabak, Zwiebeln und Schnaps, sein spöttisches Lächeln. »Manche haben Stroh im Kopf, und du – Schafwolle!«

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