Maminkas Sommerküche

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14

Nie war ich mit mir einig, wenn ich an meinen Großvater dachte. Liebte ich ihn? Warum zweifelte ich daran? Weil er trank? Weil er auf die Kommunisten fluchte und auf die Amerikaner wartete? Weil er Maminka verprügelte, wann immer sie sich für »die Heutigen« einsetzte und um Geld bat? Weil ich Angst vor seinen wutunterlaufenen Augen hatte und weil er den Organisationsleiter für verrückt hielt? Eins stand fest: Solche wie Großvater gab es nur noch zwei im ganzen Dorf: den Popen und Baba Penas Mann. Alle drei hießen »Iwan« mit Vornamen.

Nüchtern war mein Djado Iwan eigentlich nur, wenn er mit dem Traktor oder mit der Mähmaschine aufs Feld hinausfuhr oder wenn er als Schlachter engagiert wurde. Dies alles ging mir durch den Kopf an einem der heißen Nachmittage, erfüllt mit Umschauhalten nach jenem Etwas, das mir trotz der Lektüre von »Du und Ich«, trotz der Gestalten meiner Heldinnen Soja Kosmodemjanskaja und Rajna der Königin verborgen blieb und mich immer wieder elektrisierte. Heiß war es. Ich leckte meine Oberlippe: salzig. Ich dachte an Großvater, an den Winter, wie er da am Herd saß, seine Wollsocken auszog und auf dem Kessel mit dem heißen Wasser trocknete, Apfelschalen röstete und Maminka im Auge behielt, während sie Fleisch- oder Bohnensuppe kochte.

»Was knappst du denn mit dem Wasser so rum?« Nie gab er sich mit wenig Suppe zufrieden. »Wasser, mehr Wasser sollst du reingießen!« Nie ließ er sich die Gelegenheit entgehen, mit seinem verstümmelten Zeigefinger zu protzen. »Nein, Soldat wollte ich nie werden! Mich da von einem dummen Arsch antreiben und herumkommandieren lassen? Nicht mit mir!« Außerdem wäre ihm das Geschäft kaputtgegangen, wenn er nicht daheimgeblieben wäre. Er ist stolz auf sich selbst, auf alles, was er mal besessen hat: ein Drittel der Dorfländereien, eine der zwei Dorfkneipen, eine Mähmaschine und die einzige Krempel in der ganzen Region. Da brachten die Bauern die frischgeschorene Schafwolle zu Djado und ließen sie bei ihm krempeln. »Ein Geschäft, das sag’ ich dir, Mila!«

Einen Augenblick lang vergisst er, wovon er spricht. Die ganze Küche riecht nach Bohnen und Fleisch, nach Bohnenkraut, billigem Tabak und nach seinem Schweiß. Wie im Traum gießt er heißes Wasser auf den heißen Backstein, das Zischen und der Dampf rufen ihn aus seinen Gedanken zurück, und die Schatten der armseligen Dinge in der Küche verdichten sich zu gleichmäßigem Dunkel. Großvater erzählt, und während er erzählt, verlässt ihn die Zeit: Plötzlich hat er seinen schwarzen Schopf wieder, und die frechen Augen strahlen, und ich sehe ihn die Halle betreten, wo die Krempel steht, eine Flasche Pflaumenschnaps in der Hand. Er gießt ein halbes Wasserglas voll und stellt es auf die Bank neben der Krempel, macht den Deckel der Maschine auf. Die Stahlzähne schimmern matt, als würden sie lächeln, und das, was dann kommt, schnürt meine Kehle zu, denn ich weiß, was kommt, und mir wird es flau im Magen, denn Großvater steckt seinen rechten Zeigefinger zwischen die Zähne der Krempel, und die Krempel ist immer hungrig ... Mit dem Zischen des heißen Wassers auf den Backsteinen kehrt die Zeit in Djados Gesicht zurück, er zeigt mir den verstümmelten Zeigefinger. Er hatte ihn sofort in den Schnaps getunkt, gleichzeitig die Flasche geleert und war zu Maminka gerannt.

»Mich holen sie nicht mehr! Mich in die Kaserne einsperren? Nein!«

Maminka rührt im Topf herum.

»So einer ist das, Mila!« Maminka gießt etwas Wasser nach und stellt den Kessel wieder auf die Herdplatte. »Mach dem Kind keine Angst, du Protznase, du! Und sowas nennt sich Patriot!«

»Nochmal!« Djado greift zum Kessel. »Nicht mal das Kochen konnte ich dir in dreißig Jahren beibringen! Was knappst du denn mit dem Wasser so rum!«

»Nicht mal das Kochen ...«

Dies war der Anfang eines Streits, der gewöhnlich damit endete, dass Djado zum Trost noch einen Schnaps kippte und den Weg zur Kneipe einschlug. Wenn Großvater aber zum Schlachten erwartet wurde, blieb er eisern. Er ging immer nüchtern hin. Jedes Mal ließ er sich mit Fleisch ausbezahlen. Fast zwei Monate lang hatten wir dann regelmäßig Fleisch auf dem Tisch, mindestens zweimal in der Woche. Nichts schmeckte so gut wie gebratenes Fleisch! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir jeden Tag Fleischgerichte gegessen. Doch wir lebten in einer mageren Zeit.

Ich gehe durch das Dorf, und es ist Sommer. Ich denke immer noch an Djado – und an das faszinierende Spiel der Jahreszeiten in meinem Kopf. Ich komme mir allmächtig vor, denn ich brauche nicht mal die Augen zu schließen, um den Winter zu rufen, die Zeit zu verlängern oder sie zu verkürzen, die unendliche Freiheit, die Zauberei im Kopf, ja, alles, was ich bewirken kann. Ich denke an Djado. Ich gehe jetzt durch verschneite Straßen. Es schaudert mich vor allem an Sonntagen, denn sonntags werden die Schweine geschlachtet. Da schreien wenigstens drei oder vier Tiere auf einmal. Jetzt werden sie mit den Messern durchbohrt, je ungeschickter der Schlachter, desto länger die Qual für das Tier. Ich bin stolz auf Djado. Bei ihm gibt es kein Gebrüll: ein Stich, ein Schrei, und das Tier ist erlöst.

Unser Schwein weiß nicht, dass es geschlachtet wird. Unser Schwein bekommt einen letzten Napf mit aufgeweichten Brotkrusten und Gemüseresten. Es grunzt vergnügt, es schmatzt und wedelt mit dem Ringelschwänzchen. Der Schneeduft zittert, ein Feuer frisst sich in die Schneedecke hinein, in der Nähe des Holzstapels. Da kommen sie am Nussbaum vorbei, treten breitbeinig in den Schnee, die Männer – Djados Helfer. Großvater hat seine schwarzrot karierte alte Wolljacke und die Schirmmütze an, er befühlt die Klingen der zwei Messer liebevoll mit dem verstümmelten Zeigefinger – sie sind gut gewetzt. Er spuckt in den Schnee und stampft darin herum. Die Männer hinter ihm spucken nacheinander, stampfen mit den Schuhen. Ich laufe und halte mir die Ohren zu, ich laufe nicht schnell genug. Maminka holt mich ein. Sie hält mir die Ohren zu. Ich schreie lauter als das Schwein, sein Quieken geht in meinem Schrei unter. Großmutter holt eine neue Flasche Pflaumenschnaps aus dem »anderen Zimmer«.

»Nachher wird’s toll schmecken, Mila!«

Ich schaue durchs Fenster: Der Schnee im Hof ist breitgetreten, mit Blut bespritzt. Ein großer, knallroter Kreis, der zur Mitte hin immer dunkler und matschiger wird, dunkler, bis er ganz schwarz gähnt, dort, wo unser Schwein mit aufgeschnittener Kehle und aufgerissenem Maul liegt. Ich gehe hinaus. Ich rieche den Schnee. Der Schnee riecht nach Blut und versengten Borsten. Die Männer stehen im Kreis herum, ein Gläschen heißen, süßen Pflaumenschnaps in der Linken, ein Stück zartgebrannter Schweinehaut von der Hüfte, dort, wo sie am zartesten ist, in der Rechten, die Stiefel im Boden festgewachsen, im blutigen Schlamm. Djado reicht mir ein frischgegrilltes Stückchen Schweinehaut.

»Nimm, sei nicht dumm, das ist eine Delikatesse!«

Und ich esse. Es schmeckt gut: gleichzeitig geräuchert und gebraten.

Ich vermied es nur, dabei unser Schwein anzuschauen, das nur einen Schritt weit entfernt von mir hing und immer noch warm war.

15

Der Sommer ist lang. Jede Geschichte ist lang. Und am Anfang jeder Geschichte, die Großvater oder Großmutter erzählen, befindet sich etwas Bestimmtes, ein Ding, das man anfassen und sehen kann: ein Kinderzeh, ein Knopf, ein verstümmelter Zeigefinger, eine Stricknadel, eine Goldsuchuhr, ein besoffenes Huhn sogar!

Da ist sie, »die goldene Truhe«, wie ich sie immer nenne. Jedes Mal wird mir ein wenig unheimlich, wenn wir uns dieser Truhe nähern. Sie ist mit blaugoldgrünem Blech beschlagen. Auf der Vorderseite entfalten zwei prächtige Pfauen ihre Flügel. Durch das Oberlicht linst ein Sonnenstrahl und verfängt sich in einem Auge der Federpracht; ich bin geblendet und glaube an irgendeine magische Kraft, die durch die geschlossene Truhe herüber zu mir dringt, und ich kann mich dagegen gar nicht wehren. Maminka streichelt den hübschen Deckel.

»Hast du Angst, Mila?«

»Ich habe keine Angst, ich nicht, nur meine Knie und mein Bauch haben Angst, nicht ich!« Und ich berühre das Blech, ahme ihre Berührung nach.

»Klack«, meldet sich die rostige Stimme des Verschlusses, und Maminkas Hände heben vorsichtig den gewölbten Deckel hoch. Ich atme den Geruch des Mottenpulvers ein. Großmutter hebt eine seit ewigen Zeiten nicht mehr getragene Bauerntracht heraus. Der schwarze Plisseerock, Karljanka genannt, fällt schwer unter dem Gewicht der roten Stickerei. Ich fahre mit erregten Fingern über den rauen, handgewebten Stoff.

»Sag bloß, ihr habt das auch im Sommer getragen!«

Sie holt das weiße Leinenhemd heraus. »Na klar! Wir haben ja höchstens zwei Röcke gehabt!« Reichlich weinrotschwarz bestickt ist das Hemd, und sie legt es vorsichtig an. »Nur das Hemd wurde öfter gewechselt, Mila.« Sie legt die Taille des Hemdes an ihre eigene, über der nicht allzu frischen Schürze ...

Und was war mit der Buxe?, will ich fragen, aber Maminka errät meine Gedanken.

»Und wenn es ganz heiß wurde, haben wir eben die Buxe ausgelassen! Aber wollten wir nicht den schönsten Knopf der Welt sehen?« Großmutter wechselt das Thema schneller, als mir lieb ist.

Ich würde sie gerne fragen, ob sie wie Urgroßmutter im Stehen gepinkelt hat ...

Der Mantel. Er ist schöner, als ich gedacht hatte. Ich kannte ihn nur aus Maminkas Erzählungen von der 1. Mai-Manifestation, wegen der Großvater meine Mutter fast umgebracht hätte ... Und da geht so ein Mädchen durch die Straßen und marschiert mit den Roten, während die Roten seinem Vater zu Hause alles unterm Hintern wegtragen, weil ihm nichts mehr gehört, weil alles dem Staat gehört, die Krempel und die Kneipe, der Traktor und die Mähmaschine und das ganze Land. Und die Kleine, die fast zwanzig ist, singt die Internationale, eine Aktivistin, hübsch wie ein Tautropfen, die dunklen Haare in zwei dicken Zöpfen – und der Mantel ... Sie sieht nicht nach Arbeiterklasse aus, da sie den Mantel trägt, den grünen Zaubermantel, der ihren verschlissenen Rock versteckt.

 

»Sieh dir das mal an! Die ist bestimmt aus Amerika angereist! Eine Dame ist das!«

»Ach was! Das ist doch die Tochter von Iwan Djulgerov ... die haben die Tante in Amerika ...«

Ich schaue mir den Mantel an, ich möchte meine Mutter sein, meine Mutter mit neunzehn, ich möchte eine Heldin sein, die weiß, dass sie zu Hause umgebracht wird, wenn sie mit den Roten marschiert und die Internationale singt, aber der Knopf, der Knopf ist am schönsten! Er ist fast so groß wie meine Handfläche, bloß die Finger ragen darüber hinaus. Er ist durchsichtig und sieht aus wie eine runde Blume, bloß die Spitzen der Blüte sind schwarz. Der olivfarbene Wollstoff schimmert hindurch, und der Knopf sieht grün aus.

Maminka legt den Mantel vorsichtig in die Truhe zurück.

»Daraus machen wir einen tollen Mantel für dich, Mila, so wie ich früher die Röcke deiner Mutter aus Djados Hosen genäht habe, es gab ja nichts!«

Ich würde gern den Mantel tragen, ich möchte auch, dass sich die Leute nach mir umdrehen, ich möchte auch die Internationale lauthals singen, nur: Auf mich wartet niemand zu Hause, der mich umbringen will ... Und egal, was ich tue, es ist nie eine Heldentat! Ich möchte Soja Kosmodemjanskaja, Rajna die Königin und meine Mutter zugleich sein, ich möchte für die Freiheit sterben, den schicken Mantel an.

»Was hat denn Djado eigentlich getan, als er erfahren hatte, dass Mutter ...«

»Was soll er schon getan haben?« Maminka klappt den Deckel zu. »Er ist aus Protest gegen die Mai-Manifestation in die Kneipe gegangen. Am anderen Morgen fand man ihn unter einem der Tische wieder, und deine Mutter war schon längst in die Stadt gefahren. Das waren Zeiten!«

16

Vor der Dorfbibliothek wirbelte der Wind lauter Staubwolken auf. Sie liegt an einer Kreuzung. Zwei Stufen über der Straße und schon war man im Lese- und Ausleihsaal. Hier war es dunkel, kühl und still, und es gab keinen anderen Platz im Dorf, an dem ich mich lieber aufgehalten hätte. Links – der lange Tisch mit den Zeitungen. Djado behauptete, sie seien alle überflüssig, da sie alle dasselbe erzählten. Ich las keine Zeitungen und glaubte, niemals welche zu lesen, weil sie zu sehr knisterten. Wenn ich bei meinen Eltern zu Besuch war und wir beisammensaßen und lasen, beobachtete ich Vater, wie er die Seiten umständlich wendete und unerträglich knisterte, und ich wartete nur darauf, dass er nach einem Buch griff. Der Raum faszinierte mich. Rechts an der Wand die Kinderbücher und alles, was Jugendliche lesen durften. Quer im Raum – der Schreibtisch des Bibliothekars Bate Stefan. Er hatte das feinste Gesicht im ganzen Dorf, eine Stirn, die gar nicht enden wollte, und blasse Hände mit sehr langen Fingern, die die Bücher wie Säuglinge behandelten. Hinter seinem Rücken fing das Unbekannte an: Bücher in fremden Sprachen, wissenschaftliche Literatur, auch medizinische, Bücher für Erwachsene ... Ich nahm an, dass »Du und Ich« auch da irgendwo untergebracht war.

Ich nähere mich leise, und Bate Stefan hebt den Kopf und lächelt mich an.

»Hast du schon wieder alles ausgelesen?«

Ich reiche ihm die Sommerleseliste.

»Die mit den Häkchen, die hab’ ich schon mal gelesen.« Und ich drehe mich verstohlen um, als hätte ich jemand Unsichtbaren beim Lesen gestört.

Bate Stefan steht auf, verschwindet hinter den Regalen, kommt wieder zurück mit drei Büchern Pflichtlektüre. Er legt die Bücher vor mich hin.

»Da, alles Pflichtlektüre.« Er hakt zwei Titel auf meiner Liste ab mit der Begründung, dass ich keine drei Bücher über Mitko Palausov zu lesen bräuchte, sein Partisanenleben und sein Heldentod wären in einem der Bücher ausführlich genug beschrieben. Dann beugt er sich leicht vor, und seine Augen verraten, dass etwas Besonderes kommt. »Und das hier – ›Ewgenija Grande‹ – das liest du erst, wenn du die drei da ausgelesen hast, als Belohnung!«

»Eu-gé-nie Gran-det«, buchstabiere ich und spüre etwas Aufregendes beim Anblick des dicken, schnurrbärtigen Schriftstellers, etwas Aufregendes, das der braunweiße Umschlag verbirgt.

Bate Stefan zögert einen Augenblick lang, aber dann legt er das Buch entschieden auf die anderen. »Ich glaube nicht, dass ich es dir zu früh zu lesen gebe«, und gibt mir meine Lesekarte heraus.

Ich bin stolz, dass zwischen uns ein stillschweigendes Einvernehmen herrscht und er mir ohne Bedenken manchen Leckerbissen der großen Literatur »als Belohnung« für die Pflichtlektüre gibt. Ich verabschiede mich und gehe, gehe langsam an den Regalen vorbei und beneide Bate Stefan, dass er nichts anderes zu tun braucht als den ganzen Tag hier ...

»Müsst ihr nicht auch die Schönschrift üben?«

Seine Stimme holt mich ein. Mich trifft ein Schlag: die Schönschrift! Ich habe die Schönschrift vergessen! An die Kamille und an die Pflichtlektüre habe ich gedacht, aber nicht an die Schönschrift. Ich weiß nicht recht, ob ich mit Bate Stefan böse sein soll oder ob ich mich bei ihm bedanken soll.

Jeden Tag fünf Zeilen schön abschreiben, mit dem Datum versehen: Unser Lehrer in Sprache und Literatur hatte sich in den Kopf gesetzt, aus uns allen Schönschreiber zu machen ... Jetzt müsste ich mich hinsetzen und rückwirkend alles nachholen, für jeden Tag fünf Zeilen schreiben und dann weitermachen, bis ans Ende der Ferien. Ohne sieben Kilo Kamille keine Schulbücher, ohne Schönschrift und Pflichtlektüre keine guten Noten in Sprache, kein Friede während des ganzen neuen Schuljahres. Mein armes schlechtes Gewissen: Es saß schon am Tisch und schrieb fleißig, während ich den Lehrer, den Organisationsleiter und den ganzen langen Sommer verfluchte. Manchmal wollte ich sterben, für die Freiheit ... Ich wollte auch mit niemandem mehr über irgendetwas sprechen, sonst würde mir wohl doch noch etwas einfallen, was ich über der Kamille vergessen haben könnte, und das machte ich bestimmt nicht mehr mit. Kamille, Pflichtlektüre, Schönschrift. Das reichte wohl fürs ganze Leben.

Und ich hatte nur die Sommerferien.

17

Ich höre die Stimmen der Schafe, ihre Glocken. Ist es schon so spät geworden? Fast Abend. Der Wind legt sich an der Straße lang und ruht sich im Staub aus. Er hat genug vom Wirbeln. Jetzt brauchen die Bäuerinnen ihre Röcke nicht mehr festzuhalten. Sie steigen unbeschwert vom Lastwagen, der sie an der Dorfbäckerei wie eine Ladung aufgescheuchter Hühner freilässt. Manche stellen sich artig am Ende der Schlange an und kaufen noch Brot, dann schlendern sie langsam und vergnügt nach Hause, die Harke auf der Schulter, das weiße Kopftuch lässig vom Haar gerutscht – es ist die Stunde der Heimkehr. Viele gehen erst noch am Kindergarten vorbei und dann samt Harke, Brot und Kind nach Hause.

Ich war auch beim Bäcker vorbeigegangen und hatte ein Brot gekauft. Beim Öffnen des Tores merkte ich, dass ein Drittel des frischen Brotes weg war – ich hatte es aufgegessen.

»Maminkaaa!« Komisch, warum antwortete sie nicht? Sonst goss sie doch um diese Zeit das Gemüse. Ob etwas passiert war?

Ich legte die Bücher und das Brot auf den Tisch vor der Sommerküche und stürzte die Treppe herauf.

»Maminkaaa!«

Keine Antwort.

Sie liegt im Bett und klappert mit den Zähnen. Ich schlage die Tür zu, renne wie um mein Leben, hoffentlich stirbt sie nicht! An Rosenhecken und aufgescheuchten Gänsen vorbei, am Kindergarten vorbei, an der Kirche vorbei, hinab, den steilen Pfad an den Holunderbeeren vorbei, mein Atem stockt und brennt im Hals. Lieber Gott, lass sie leben! Lieber Gott, wenn es dich geben sollte, lass Maminka gesund werden! Hörst du! Die Füße bleiben stehen, ich bin nie gut im Laufen gewesen, immer die letzte, nur das Herz rast weiter, löst sich vom schweren Schritt, geht voran. Baba Penas Hof war plötzlich vor mir.

»Baba Penaaaa!«

Mein Schrei ging mir voran, der Hof lag still, abgeschirmt von der Straße durch den Weingarten. Ich lief quer durch die Reben bis zum Haus und tat mir an den Rebenwurzeln weh. Ich stürzte auf die Pergola. Baba Pena saß beinahe begraben unter einer Wolke aus frischgezupfter Schafwolle.

»Tach Kind!«

Sie zupfte ruhig weiter, und ich zog sie am Arm.

»Komm! Du musst sofort kommen, Maminka liegt im Bett und stirbt!«

»Moment mal ...», sie schob die Wolle vorsichtig beiseite, »was gibt’s denn?

Ich hob sie fast vom Boden.

»Nimm die Saugnäpfe und komm! Du sollst die Saugnäpfe mitbringen! Du bist doch eine halbe Ärztin!«

Baba Pena war eine sehr kleine Frau, so groß wie ich. Sie war Großmutters einzige Freundin. Da Maminka niemals ausging, war sie froh, dass »dieser Besen«, wie sie Baba Pena in deren Abwesenheit nannte, ihr alle Nachrichten vom Dorf mitbrachte. Sie war es, die Maminka jeden Tag informierte, was im Dorf los war, wer ins Krankenhaus gekommen war, wer Besuch aus der Stadt bekommen hatte. Ihr Mann war Großvaters Namensvetter und Freund. Beide Männer saßen stundenlang mit dem Popen zusammen in Djados ehemaliger Kneipe und »siebten die Politik«, wie Maminka zu sagen pflegte. Er war auch ein Geschädigter und gegen »die roten Ärsche«, sodass sie gut zueinander passten.

Baba Pena bleibt einen Augenblick stehen. »Ich kann nicht so schnell laufen, Kind!«

Ich bleibe auch stehen. Sie hält die Saugnäpfe und eine Streichholzschachtel in ihrer Schürze, und die Gläser klappern verräterisch. Jeder, der an uns vorbeigeht, weiß, dass Baba Pena jemanden kurieren wird. Ich bin ungeduldig. Ich habe Angst. Endlich geht Baba Pena weiter.

»Kommt dein Djado heute Abend vom Feld zurück?«

»Ich weiß es nicht! Ich glaube, er schläft bis Sonntag auf dem Feld. Sie sind mit dem Mähen noch nicht soweit, hat der Brigadier ausrichten lassen ...«

»Umso besser«, meint sie und steigt unsere steile, komische Treppe hinauf, »es ist auch keine Männersache.«

»Tach!« Maminka streckt ihr ihre dünne, sehr blasse Hand entgegen.

Baba Pena grüßt leise beim Eintreten und mustert ihre Freundin vom Kopf bis zu den zugedeckten Füßen.

»Hast du dich denn verhoben? Tut es weh?« Dann ordnet sie die Saugnäpfe auf dem Tisch. Sie schaut sich um. »Gib mir eine Scheibe Brot, Kind.«

Und ich hole ihr eine Scheibe Brot aus dem Brotfach.

Sie schneidet daraus langsam und vorsichtig zehn Würfel, steckt ein Streichholz mit dem Kopf nach oben in jedes Stückchen, dann streift sie geschäftsmäßig Maminkas Hemd hoch.

»Zieh dich aus!«

Großmutter gehorcht und gibt nur ein leises Stöhnen von sich.

»Mein ganzer Rücken, die Schultern, ich weiß nicht genau ...« Großmutter zieht das Hemd aus und legt sich auf dem Bauch.

Baba Pena sagt:

»Es dämmert ... mach das Licht an, Kind! Du wirst mir helfen, es muss schnell vor sich gehen. Du brauchst nur die Gläser anzuheben, wenn ich es dir sage, sonst nichts.«

Ich schlucke einige Male schnell hintereinander.

»Wie du meinst!«

Baba Pena setzt die zehn Würfel Brot mit den Streichhölzern auf Maminkas Rücken. Dann zündet sie ein Streichholz an und hält es in der Rechten, in der Linken das Glas, stülpt es schnell und geschickt darüber, sodass die Flamme ausgeht und das Glas sich in Maminkas Fleisch einsaugt. Zehnmal, bis Großmuttes Rücken wie mit Gläsern gespickt aussieht. Ich glaube den Geruch von verbranntem Fleisch zu spüren, das muss doch wehtun!

Maminka bleibt liegen, tröstet mich: »Das tut gut, Mila!«

Baba Pena setzt sich ans Bett, »Ziehen muss es jetzt«, beruhigt sie, und deckt Maminkas Rücken mit der Wolljacke zu.

»Was gibt’s Neues im Dorf, Pena?«, fragt Großmutter, als wäre sie schon geheilt.

»Petra Kojkina haben sie mit Blaulicht ins Krankenhaus, in die Stadt, gebracht.« Dieser Besen schaut durchs Fenster hinaus und senkt ihre Stimme. »Sie war wieder mal soweit und hat’s wohl allein versucht, da ist sie beinahe verblutet.«

Maminka flüstert »Pass auf, Pena!«, während ihr Blick mich verstohlen streift.

Ich meine, etwas von jenem geheimnisvollen Strom zu fühlen, der sich wieder um mich herum ausbreitet.

 

»Was hat sie denn gehabt, Baba Pena?«

»Was soll sie denn schon gehabt haben, Kind! Frauensachen sind das, misch dich da nicht ein!«, wimmelt sie mich ab.

Großmutter schweigt, und ich weiß, dass ich etwas Verbotenes gefragt habe.

»Komisch ...«, fährt Baba Pena fort, als wäre ich gar nicht im Zimmer, »bei der einen geht es gut, bei der anderen schief.«

Maminka möchte das Gespräch beenden, aber Baba Pena überhört sie:

»Wenn es soweit ist, muss jede ihr Joch selber tragen«. Ihr Gesicht ist von einer unbändigen Klatschsucht beseelt. »Mit einer Malvenwurzel! Mit einer Malvenwurzel hat sie es versucht ... so hat’s mir die Dicke Mita erzählt.« Sie setzt sich aufrechter, »Hab’ ich ja auch versucht, und es hat immer geklappt!«

»Was denn?«, höre ich mich laut rufen, und ich könnte Baba Pena hinausschmeißen, da sie mich so neugierig macht und doch nichts verrät.

»Geh du am besten spielen ...« Großmutter schickt mich hinaus, »geh Brot holen, und wenn du wieder da bist, mach ich dir was zum Abendessen.«

»Brot habe ich schon geholt!« Ich stehe abrupt auf, »Aber ich gehe nach draußen, wenn ich es nicht hören soll!«, sage ich trotzig.

»Wenn es darum geht, muss jede ihr Joch selbst tragen«, hatte Maminka gesagt. Was hatte sie bloß damit gemeint? Immer wieder diese Gespräche der Erwachsenen und dieses Mischdichnichtein! Und das Sichimmerwiederfügen und das Zimmerverlassen, wenn es am interessantesten wurde!

Ich ging hinaus und wusste wieder mal nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Der Sommertag war so lang, dass ich am liebsten auf die Straße gegangen wäre. Doch ich hatte Angst, der Herde der Kooperative zu begegnen. Die Pferde ...

Ich warte. Erst höre ich entferntes Donnern, undeutlich, dumpf. Dann vernehme ich blitzartiges Wiehern, das dumpfe Donnern zerfällt in einzelne Hufschläge. Ich öffne das Tor und schaue die Straße hinab. Eine Wolke steigt am Ende der Straße empor, dann sehe ich eine dunkle Masse, einen gemeinsamen Rücken, der im Galopp wogt. Ich zähle: eins, zwei, drei, vier ... Bei fünf stürze ich hinters Tor zurück und verriegele es. Bei zehn rast schon die ganze, vom unteren Ende der Straße angeschwollene Pferdewelle an mir vorbei, mein Herz rast mit ihr, ich atme den Geruch der Tiere ein, ich bebe und habe Angst, bin aber doch in Sicherheit hinter den Brettern und wundere mich, dass Angst schön sein kann. Schade, dass wir keinen Pferdemist mehr brauchen! Die Straße ist voll davon.

Baba Pena öffnet das Tor.

»Ich gehe!«, sagt sie, »deiner Maminka geht es wieder gut, morgen kann sie aufstehen.«

Ich falle ihr um den Hals, schreie vor Freude auf, achtzig Prozent und das Knopfloch entzwei!

»Baba Pena, du bist die Größte, du bist eine ganze halbe Ärztin!«

»Vorsicht, Kind ...«, sie wehrt sich, »die Saugnäpfe!«, und geht mit den Saugnäpfen in der Schütze klappernd davon.

Ich freue mich so, dass ich mich erst mal neben Großmutter setze und gar nichts sagen kann. Ich halte ihre Hand und fühle, wie diese schmale, grobe Hand in meinen Händen einschläft. Ich habe keinen Hunger mehr. Im Zimmer wird es endgültig dunkel‚ ich krieche unter die Decke, rolle mich neben Maminka und schlafe an ihrem Rücken ein, der nach Spiritus und etwas unbestimmt Vertrautem riecht. Achtzig Prozent und das Knopfloch entzwei! Dabei bleibt es.

ln der Nacht lief ich den Hang hinunter ins Tal, an der Kirche vorbei. Unser Schwein mit dem Rücken voller Saugnäpfe lief mir nach, und es roch nach verbrannter Menschenhaut. »Iss, das ist eine Delikatesse«, forderte mich einer der Männer auf, die das Schwein halten sollten. Breitbeinig stand er vor mir, in einem schwarzen Ledermantel, und gab ein unverständliches Deutschgebrüll von sich, bei dem jeder Satz mit »Heil!« endete. Ich weigerte mich, zu essen, und erklärte mich bereit, für die Freiheit zu sterben.

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