Buch lesen: «Lächeln gegen die Kälte»
Rudolf Alexander Mayr
Lächeln
gegen die
Kälte
Geschichten aus dem Himalaya
Bernd Mihalits † gewidmet,
der mir den Titel dieses Buches vermacht hat.
2., um die Geschichte „Das große Beben“ erweiterte Auflage 2016
© 2014 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung: Tyrolia-Verlag unter Verwendung eines Bildes
von Ralf Gantzhorn (Cover) sowie Kurt Markus, USA (Autorenfoto)
Alle weiteren Abbildungen stammen vom Autor.
Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag
Lithografie: Artilitho Trento (I)
Druck und Bindung: Alcione, Lavis (I)
ISBN 978-3-7022-3337-2
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
INHALT
Lukla, der Whiskypilot und das Hotel Oriental
Mangale
Sundare
Urkien
Ang Kantschi und der geweihte Tschang
Der zornige Yak und sein seltsames Gedächtnis
Pasang Gyalzen und das Yakherz
Ang Nuri, der Bärenmensch
Kapa Gyalzen und die kosmische Höhenstrahlung
Nima Dorjee und der Wasserbüffel
Das Herz des Lamas und der schwarze Geier
Nima Dorjee und die Zaubersprüche
Herr L. und die Rache der Bereisten
Der Kleine Tendy und der Heiler von Bodnath
Der Große Tendy und das Ende der Abstinenz
Santa Gurung
Die Hunza und ihre Lieder
Pasang und der Kulturtransfer
Lakpa Tiki und die Heimholung
Die Senner von Tangnag
Nima Dorjee und der Wunschbaum
Lukla, das Edelweißfeld und die weißen Yakkälber
Das große Beben
Dank
Der alte Flughafen von Lukla
LUKLA, DER WHISKYPILOT UND DAS HOTEL ORIENTAL
Als im Jahre 1961 Sir Edmund Hillary die Idee kam, auf einem steil abfallenden Kartoffelacker am Eingang zu den großen Bergen des Himalaya ein Flugfeld zu errichten, konnte er nicht ahnen, welche Szenen sich Jahrzehnte später, mit dem aufkommenden Massentourismus, auf diesem plattgewalzten Kartoffelacker abspielen würden.
Freilich hatte zur gleichen Zeit, in einer Art prophetischer Vorahnung, der junge Friedrich Dürrenmatt geschrieben, „… alles musste rentieren und rentierte: sogar die unermesslichen Steinhaufen und Geröllhalden, die Gletscherzungen und Steilhänge, denn seit die Natur entdeckt worden war und sich jeder Trottel in der Bergeinsamkeit erhaben fühlen durfte, wurde auch die Fremdenindustrie möglich: die Ideale des Landes waren immer praktisch.“
Was für die Schweiz galt, würde, etwas zeitverzögert, auch für den Himalaya gelten.
Lukla liegt auf etwa 2800 Metern Seehöhe und ist der Ausgangsort für Bergbesteigungen rund um den Mount Everest. Hier landet man, von Kathmandu kommend, mit kleinen, zweimotorigen Maschinen, die mithilfe von hoffentlich gut funktionierenden Bremsen und der nicht unbeträchtlichen Steigung des plattgewalzten Kartoffelackers es schaffen sollten, vor der großen Steinmauer, die das Ende der Landepiste markiert, auf Schritttempo abzubremsen, nach rechts zu rollen und sich schließlich wiederum für den Abflug zu positionieren.
Damals, als König Birendra noch über eine beinahe unbegrenzte Machtfülle gebot, gab es in Nepal nur eine einzige Fluglinie, die Royal Nepal Airlines Corporation, abgekürzt RNAC. Sie gehörte der Frau des Königs und war in jeder Hinsicht konkurrenzlos. Die einzige Regelmäßigkeit bestand in den legendären Verspätungen und Abstürzen. Deshalb hieß die Fluglinie unter Insidern Royal Nepal Always Cancelled.
Hierher, in dieses kleine Nest Lukla waren wir zurückgekommen, nachdem wir einen sechstausend Meter hohen Berg bestiegen hatten. Wir schrieben als Wochentag den Montag und waren guter Dinge, denn für den nächsten Tag hatten wir einen bestätigten Flug zurück nach Kathmandu und am folgenden Samstag mittels Around the World Ticket nach Bangkok, um in Thailand einen dreitägigen Badeaufenthalt zu genießen, bevor es wieder nach Hause ging. So saßen wir also mit unseren sonnenverbrannten Gesichtern, in der Linken ein Stück frisch erworbenen Käse, in der Rechten eine kühle Flasche Bier, auf einem Steinmäuerchen und blickten frohgemut das Rollfeld hinunter. Vereinzelt grasten Yaks darauf, auch spielende Kinder waren zu sehen und große Schlaglöcher, die mir schon beim Landen vor mehr als drei Wochen Rätsel aufgegeben hatten. Dass hier noch kein Bugrad davongeflogen war, erschien mir wie ein Wunder. Links und rechts der Rollbahn waren, seltenen Trophäen gleich, die Wracks von fünf oder sechs abgestürzten oder sonst wie zu Schaden gekommenen Maschinen drapiert.
In der folgenden Nacht erwachte ich durch Donnergrollen und Blitze, die meine bescheidene Unterkunft bis in den letzten Winkel erhellten. Ein schwerer Dauerregen folgte. Ich schlief beruhigt wieder ein, denn Gewitter gelten in Asien von alters her als Glückszeichen. Am nächsten Morgen regnete es noch immer. Vor dem Büro von Royal Nepal Always Cancelled staute sich schon eine lange Schlange besorgter Bergtouristen. Vereinzelt drangen Rufe des Unmuts nach draußen. Denn das System der RNAC war nach nepalesischer Logik ausgeklügelt: Wer für den Montag beispielsweise einen bestätigten Flug hatte, wurde nicht automatisch am Dienstag eingereiht, falls der Montagflug ausgefallen war, nein: Diese Gruppe wurde wieder an das Ende gereiht und die Dienstaganwärter kamen dran. So konnte es einem passieren, dass Hunderte andere Fluggäste als Nächste zum Zug kamen und der ausgefallene Montagflug erst fünf Tage später nachgeholt wurde. Das Teuflische dieses Systems wurde uns erst bewusst, als es schon einige Tage geregnet hatte.
Aber an diesem Tag waren wir noch guter Dinge, lächelten sogar etwas hämisch über die Ungeduld der anderen westlichen Touristen, die da vor uns standen und den Ort unbedingt verlassen wollten und so gar nichts von der berühmten asiatischen Ruhe angenommen hatten (die wir selbst glaubten, inzwischen gepachtet zu haben).
Als es aber am nächsten Tag, dem dritten Wartetag, noch immer in Strömen regnete und wir um sechs Uhr früh beobachten konnten, wie die Flugfeldkommission über das inzwischen knöcheltief aufgeweichte Flugfeld stapfte, musste ich mir eingestehen, dass meine eigene asiatische Gelassenheit etwas ins Wanken kam. Denn der Samstag würde der einzige Tag eines Anschlussfluges von Kathmandu nach Bangkok sein, und dann eben wieder der Samstag eine Woche später. Es würde keinen anderen Flug geben, und wenn wir hungerstreikend vor dem Königspalast in Kathmandu Harakiri verübten.
Inzwischen war es zwischen den westlichen Bergtouristen vereinzelt zu unschönen Szenen gekommen. Im Kampf um das letzte Stück Toastbrot in Nima Sherpas Laden an der Dorfstraße (der einzigen Straße Luklas, aber was heißt hier schon Straße) waren zwei Touristen mit Eispickeln aufeinander losgegangen, und in der Sherpa Coop Lodge am Rollfeld unten hatte ein Schweizer einen Neuseeländer mittels Uppercut auf die Bretter geschickt. Womöglich war Letzteres aber nur eine Eifersuchtsszene gewesen und hatte mit den verhinderten Flügen nichts zu tun.
Auf jeden Fall stieg die Spannung in diesem kleinen Bergdorf langsam ins Unerträgliche und wurde noch gesteigert durch die Tatsache, dass jeden Tag etwa hundert neue Bergtouristen nach Lukla zurückkamen, die ihre Trekkingtouren und Bergbesteigungen vollendet hatten. Und jeden Morgen ab sechs Uhr fanden wir Expeditions- und Gruppenleiter uns erneut im Tower des Flughafens ein, einer schwindligen Bretterbude am Ende des Rollfelds, um die neuesten Wetternachrichten und Funksprüche aus Kathmandu zu hören. Aber es regnete ohne Ende. Und so wie die schweren Tropfen niedersanken, sank auch die Stimmung in meiner Gruppe.
Ohnehin hatte ich von Anfang an zwei Aufwiegler dabeigehabt, die keine Gelegenheit zur Intrige ausgelassen hatten. Einer (nennen wir ihn Herrn Fröhlich), der Vater einer berühmten Persönlichkeit, war wochenlang durch seinen Geiz und seine Sticheleien aufgefallen. Sein bester Freund, ein milder, altersweiser, pensionierter Arzt, mit dem er zu Hause sein Leben lang jedes Wochenende auf Berge gestiegen war und nun, auf dieser Tour, das gemeinsame Zelt teilte, hatte deshalb schon seit dem vierten oder fünften Tag kein Wort mehr mit ihm gewechselt.
Herr Fröhlich hatte am letzten Tag der Tour einen Dollar, einen einzigen Dollar, den Sherpas als Trinkgeld bezahlt für ihre wochenlangen Buckeleien, und den forderte er jetzt zurück. Denn seiner Meinung nach waren die Sherpas auch für das Wetter verantwortlich.
Der zweite der beiden Spaltpilze war mir auf dem Gipfel des Sechstausenders besonders unangenehm aufgefallen, als er einem Arzt und seiner Frau aus meiner Gruppe, die ihn baten, mit ihrer Kamera ein Gipfelfoto zu machen, einfach im Bildausschnitt die Köpfe abschnitt (wie er mir unmittelbar danach stolz schilderte).
Auch hatte er schon nach dem Abflug von Frankfurt mein ungläubiges Erstaunen erregt, weil er gleich nach Erreichen der Reiseflughöhe mit einer großen leeren Plastikflasche abwechselnd in jeder einzelnen Toilette verschwunden war. Mit der gefüllten Flasche kam er schließlich zufrieden grinsend zurück. Drin befand sich eine helle Flüssigkeit. Ich hatte nicht an mich halten können, als er sich vor mir wieder hinsetzte, und ihn gefragt, was das solle. Zufrieden grinsend hatte er sich umgedreht: „Ich habe ihnen das gesamte Kölnisch Wasser abgezapft“, sagte er und lehnte sich wieder in den Sessel zurück. Diesen Zweifüßer wollen wir Herrn X nennen, denn ich will keine Klage nach dem Pressegesetz riskieren. Er wird später in meiner Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen.
Auf die Vorschläge dieser beiden eben genannten Herren zur Lösung der Situation will ich hier aus Gründen des Feingefühls nicht näher eingehen, sie waren jedenfalls nicht dazu angetan, die Stimmung in der Gruppe zu heben. Meuchlings unterstützt wurden sie von einem Dritten in der Gruppe, der den ganzen Tag halblaut vor sich hinsagte: „Meine Mission ist erfüllt!“ (Er war schließlich auf einem sechstausend Meter hohen Berg gestanden – sein Lebenstraum.) Er wiederholte diese Formel ungefähr dreihundert Mal am Tag bei jeder Gelegenheit und wurde dabei nicht gewärtig, dass die anderen, „normalen“ Mitreisenden dabei immer gefährlicher mit den Augen zu rollen begannen. Denn schon beim Anmarsch zum Berg, als ab einer Höhe von über viertausend Metern die meisten der Gruppe mehr oder weniger unter Kopfschmerzen zu leiden begannen, hatte er mit der gleichen Intensität ein anderes Mantra vorgebracht: „Unglaublich, wie ich beisammen bin. Überhaupt kein Kopfweh!“ Dies ebenso an die zwei- bis dreihundert Mal am Tag, beginnend beim Frühstück und endend beim Einschlafen. Nennen wir ihn Herrn L. Er war auf hundert Meter Entfernung an seiner Stoppelfrisur erkennbar, ein immerzu braungebrannter Troglodyt mit einer Knollennase aus einer Nachbargemeinde von Innsbruck, der in den Jahren der Winter-Olympiaden 1964 und 1976, jedoch an Hochsommertagen, angetan mit dem Pullover der österreichischen Skinationalmannschaft, auf der Schulter die Kneissl White-Star-Abfahrtsski, stundenlang die Maria-Theresien-Straße auf und ab marschiert war. So etwas macht einen ungemeinen Eindruck auf die weiblichen Touristen.
Der Morgen des Donnerstags war da. In Lukla gab es inzwischen kein Brot mehr und kein Mehl, auch kein Gemüse, keine Schokoriegel und keine Kekse. Das Frühstück, bestehend aus Reis mit Linsen (Dhal Bat), fand nur mäßigen Beifall in der Mannschaft.
Es regnete in Strömen. Durch den Morast watete ich zum Kontrollturm. Drinnen war die Zahl der Gruppen- und Expeditionsleiter auf etwa fünfunddreißig angewachsen. Die Zahl der wartenden Touristen hatte die fünfhundert überschritten. Der Flughafendirektor saß an seinem wackeligen Holztisch und trug die neuen Anwärter mittels Bleistift in sein Buch ein. Ich beobachtete, wie sein linkes Bein in leichtem, doch deutlich wahrnehmbarem Stakkato auf und ab ging. Er versicherte uns allen (zum tausendsten Mal), dass heute ganz gewiss zwei, wenn nicht drei oder gar vier Twin Otter kämen und alles, aber auch alles, wieder seinen normalen Gang ginge. Er war umgeben von vier oder fünf weiteren Offiziellen. Alle hatten sie das nepalesische Amtskäppchen aufgesetzt, als ob sie damit den Regen aussetzen könnten. Ein argentinischer Expeditionsleiter (seine Mannschaft war gerade vom Everest gekommen) fragte höflich nach, wie sie es denn schaffen wollten, bei diesem Regen Lukla anzufliegen. Denn er wäre mit seiner Gruppe an diesem Tag als Nächster an der Reihe gewesen.
Der Oberkapo bekräftigte, dass es auf jeden Fall heute zu zwei, wenn nicht drei oder sogar vier Flügen kommen würde. Der Argentinier blickte kurz über die Schulter durch die verdreckten Scheiben in den Regen hinaus. Sein Gesicht nahm dabei eine seltsame Starre an. Er hatte erfolgreich seine Gruppe auf den Gipfel des Everest geführt und wieder heil heruntergebracht, doch nun schien er mit seinen Nerven am Ende.
„I don’t believe you any more!“, sagte er schließlich für alle vernehmlich zum Oberkapo.
Dessen Gesicht und die Gesichter der anderen Dienstkappenträger nahmen nun ihrerseits für einen Augenblick eine seltsame Starre an. Und während der Argentinier sich umdrehte und entrüstet über die hennenleiterähnliche Treppe nach unten stieg, nahm der Oberkapo gelassen einen Radiergummi, radierte die Argentinier in seinem Buch einfach aus und setzte sie sorgfältig wieder ein, aber an die letzte Stelle, am Ende der fünfhundert anderen Wartenden. Die Glaubwürdigkeit asiatischer Würdenträger sollte man niemals im Beisein ihrer Untergebenen in Zweifel ziehen.
Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass meine bergsteigerische Solidarität mit den Argentiniern nicht so weit ging, dass ich nun Protest einlegte. Denn anstelle der ausradierten Unglücklichen, die erst in vier oder fünf Tagen wieder drankommen würden, waren nun wir an die erste Stelle gereiht. Morgen war Freitag, und da würden wir ganz sicher fliegen und am Samstag den einzigen Anschlussflug der ganzen Woche nach Bangkok erreichen.
Dies schienen nun auch die anderen Gruppenleiter zu erkennen, und wir arrangierten ein konspiratives Treffen in einem Hinterzimmer in Pasang Sherpas Flughafenlodge. Nach dem Mittagessen (Reis mit Linsen) trafen wir uns dort. Die meisten von uns waren in einer Demokratie aufgewachsen und deshalb versprachen wir uns einen durchschlagenden Erfolg im Verfassen von Beschwerdebriefen, die unsere Gruppenmitglieder ebenfalls unterzeichneten und die ich, als besondere Vertrauensperson, dem Tourismusminister in Kathmandu persönlich übergeben sollte. Alles in allem waren es fünfunddreißig Beschwerdebriefe mit etwa fünfhundert Unterschriften, die ich nun sorgfältig in meiner Brusttasche verstaute (in der Schweiz hätte dies beinahe für eine Volksabstimmung gereicht). Erheblich gestärkt durch diesen dicken Packen an Vertrauensvorschuss, machte es mir nun auch weniger aus, als ich in unserer Unterkunft durch die Worte „Meine Mission ist erfüllt“ begrüßt wurde, während im Hintergrund Herr Fröhlich mit Herrn X halblaut die Möglichkeiten von Regressforderungen erörterte.
Das Abendessen (Reis mit Linsen) verlief schweigsam. Das Alarmierende war, dass zusehends auch die „normalen“ Mitglieder meiner Gruppe nervös wurden. Denn der Großteil der Gruppe war durchaus normal, angenehm im Umgang und wohlgesonnen. Doch ein jeder und eine jede, egal ob Arzt, Tankwart, Lokführer oder Sekretärin, musste ab dem bestimmten Datum unserer gebuchten Rückkehr wieder zu arbeiten beginnen, und so blieb auch mir, ähnlich dem nepalesischen Oberkapo Stunden zuvor, nichts anderes übrig, als gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass morgen ganz sicher zwei, wenn nicht drei oder gar vier Flugzeuge kommen würden. Dabei blickte ich durch das Fenster nach draußen und dachte mir: „Das glaubst du wohl selbst nicht!“ Denn es regnete noch immer.
Der erste Blick aus dem Fenster um sechs Uhr am Freitagmorgen zeigte mir, dass sich nichts verändert hatte. Nach dem Frühstück (Reis mit Linsen) folgte der zur Routine gewordene Gang zum Kontrollturm, in dem uns der Oberkapo eröffnete, dass Kathmandu Aufhellungen im Verlauf des Tages gemeldet hätte. Seine Assistenten lächelten uns zu, als hätten wir in der spanischen Lotterie den Hauptgewinn gezogen.
Der Vormittag verging mit Nieselregen, Kaffeetrinken und meiner Gruppe zulächeln (Aufhellungen …), aber nach dem Mittagessen (Reis mit Linsen) begann sich auch meine Zuversicht zu verflüchtigen. Denn nach Lukla gab es damals nur am Vormittag Flüge, und nun blieben nur noch wenige Stunden bis zur Dunkelheit (in Nepal dunkelt es im Herbst schon um sechs Uhr abends).
Gegen vierzehn Uhr hörte es plötzlich auf zu regnen, und die Nebel lichteten sich. Vereinzelt grasten wieder Yaks auf den schmalen Streifen von Grün zwischen den Schlaglöchern des Rollfeldes, und Kinder tollten im Gatsch herum. Eine Stunde später ging die Flughafensirene. Alles war in heller Aufregung und starrte angestrengt talauswärts, dorthin, wo das Flugzeug auftauchen musste. Ein Polizist rannte, aufgeregt auf seiner Trillerpfeife blasend, auf das Rollfeld und verjagte die Yaks und die Kinder. Dann legte sich wieder Stille über den Flughafen. So verging etwa eine halbe Stunde. Plötzlich rief einer unserer Sherpas: „Airplane, Airplane“ und deutete aufgeregt talauswärts. Tatsächlich, über dem Thaksindo-Pass schwebte eine Twin Otter heran, drehte in unsere Richtung ab und arbeitete sich zwischen den Nebelfetzen das schluchtartige Tal herein. Auf Höhe von Lukla drosselte sie die Motoren, drehte in Richtung des Flugfeldes, machte einen Moment den Eindruck, als würde sie in der Luft stehenbleiben und sich das Ganze noch einmal überlegen, sank dann schnell und setzte am untersten Rand der Piste auf. Sofort fing sie an abzubremsen und unter dem Geheul der Motoren schaukelte und schleuderte sie bis zu uns herauf und kam unbeschädigt zum Stehen. Gebannt hatten wir bei dem Manöver zugesehen und dabei gar nicht mitbekommen, dass noch eine zweite Maschine im Anflug war, die ebenso landete und sich neben der ersten Maschine auf dem kleinen Platz vor dem Flughafengebäude einreihte. Die Reifen der Maschinen hatten tiefe Spuren auf dem Rollfeld hinterlassen.
In der Annahme, dass wir die Nächsten seien, die an der Reihe wären, näherten wir uns der ersten Maschine, deren Propeller gerade zum Stillstand gekommen waren. Unsere Sherpas waren schon dabei, das Gepäck heranzuschleppen, als mich der Pilot fragte, ob wir die italienische Gruppe seien. Hätte ich doch ja gesagt! Aber so blieb ich bei der Wahrheit und entgegnete: „Nein, wir sind die Österreicher.“
Ja, dann, sagte der Pilot, seien wir erst beim nächsten Flug dabei, denn dieser sei für die Italiener reserviert. (Unsere südlichen Nachbarn, so dachte ich mir in diesem Moment, hatten wohl einen ziemlichen Packen Dollars unter dem Holztisch hinüberwandern lassen, auf dass der Oberkapo den Radiergummi an der richtigen Stelle ansetzt …). Aber wir hatten ja noch das zweite Flugzeug, also war die Sache nicht weiter schlimm. Doch während der Stationsmanager des Flughafens die italienische Expeditionsmannschaft zur Gangway der ersten Twin Otter hineintrieb, die Piloten die Motoren wieder starteten, und die Nebel am Ende der Rollbahn, dort wo sie ins Dudh-Kosi-Tal mit einer Klippe abbricht, in beängstigender Schnelligkeit abermals stiegen – was tat da die Besatzung unseres Flugzeugs?
Sie stiegen seelenruhig aus dem Flugzeug, streckten die Rücken und reckten die Arme, als wandelten sie unter einem wolkenlosen Himmel, und wandten sich dann Dawas Himalaya Lodge zu. Als das Flugzeug mit den Italienern am obersten Ende der Rollbahn stand, mit festgezogenen Bremsen, und die Piloten die Motoren zur höchsten Umdrehung aufheulen ließen und dann die Bremsen lösten, um schaukelnd und schleudernd die aufgeweichte Piste hinunterzudonnern, waren unsere eigenen Eisheiligen bereits in der Tür von Dawas Lodge verschwunden. Ich sah der Italienermaschine nach, wie sie langsam dem Thaksindo-Pass zuschwebte, um gleich dahinter in einer Wolkenbank zu verschwinden, während eine weitere, wesentlich bedrohlichere Wolkenbank in spätestens einer halben Stunde das Ende der Rollbahn verschlucken würde. Ich spürte das unwiderstehliche Verlangen, den Oberkapo aufzusuchen und ihm seinen Radiergummi zum Essen zu geben und gleich anschließend unsere Eisheiligen bei den Ohren ins Cockpit zu hieven.
Beim kurzen Anstieg zu Dawas Lodge beruhigte ich mich wieder etwas. Es blieb ja noch eine halbe Stunde Zeit, bis die Nebel wieder alles verschlungen hätten.
Als ich die Lodge betrat, saß die Crew im Extrazimmer. Dawa, der Hotelbesitzer, den ich schon immer eines gewissen Opportunismus verdächtigt hatte, ließ ihnen gerade einen Imbiss servieren: Tee, Kekse, frischen Toast. Dawa musste heimlich gehortet haben, oder wenigstens rationiert, denn hier saßen sie nun, die beiden Piloten und die Stewardess und der Oberkapo und die lokalen Servicekräfte von Royal Nepal Always Cancelled, und mampften und tranken und lachten und ließen es sich schmecken.
Ich sammelte all meinen in den vorherigen Wochen gesammelten asiatischen Gleichmut und räusperte mich vernehmlich: „Die Nebel steigen“, sagte ich. „Und zwar schnell.“
„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte der Pilot. „Wir werden fliegen!“
„Wann?“
„Heute. Wir nehmen hier nur noch einen kleinen Imbiss zu uns!“
„In einer halben Stunde werden wir die Hand vor den Augen nicht mehr sehen!“
„Wir werden fliegen!“, widersprach er.
Ich überlegte. Ich war hier zweifelsfrei in einen Zirkel von Wahnsinnigen gelangt. Um einen Wahnsinnigen zu verstehen, sagte ich mir, musste man sich in das Innerste des Wahnsinns begeben, dort, wo keine Zirkulation mehr bestand. Wie in einem Taifun.
„Tss, tss, das bisschen Nebel“, sagte ich deshalb, „und das bisschen Regen. Das macht uns doch eigentlich gar nichts aus.“ Ich lächelte zuerst den Captain, dann den Oberkapo an.
„So ist es“, sagten sie fast zugleich und lächelten zurück.
„Wir werden fliegen. Heute noch. Sie können sicher sein. Hundertprozentig.“
Ich verließ den Gastraum, und sie wandten sich wieder ihrem Imbiss zu. Während ich überlegte, was ich meiner aufgebrachten Gruppe als Trost mitteilen sollte, hörte ich schon das vertraute Trommeln des wieder stärker werdenden Regens auf den Blechdächern. Das Ende der Landepiste war schon nicht mehr zu sehen, und die Nebel waren noch immer im Steigen. Es war vier Uhr nachmittags.
In der Unterkunft angekommen, versuchte ich meine Gruppe zu vertrösten (beim ersten Aufhellen, und sonst morgen früh … usw. usf.). Dann sah ich aus dem Augenwinkel, wie die Crew die Lodge verließ und das Flugzeug ansteuerte. Für einen kurzen Moment tat mein Herz einen hoffnungsvollen Hüpfer, aber nein, knapp vor dem Betreten des Flugfeldes schwenkten sie gemeinsam nach links ab und steuerten die Sherpa Coop Lodge an. Das verhieß nichts Gutes. Ich ließ in meiner Unterkunft noch etwa eine halbe Stunde alle möglichen Drohungen inklusive Regressforderungen über mich ergehen, wartete das vertraute und überaus tröstliche „Meine Mission ist erfüllt!“ ab und suchte dann umgehend mein Zimmer auf. Hier halfen nur mehr drastische Maßnahmen.
Ich entnahm der Deckeltasche meines Rucksacks ein handliches Päckchen Dollarscheine. Dies waren ungefähr zwei Monatslöhne eines Captains. Was die Italiener konnten, das sollte ich doch auch können. Entschlossen machte ich mich zur Sherpa Coop Lodge auf.
Inzwischen war etwa eine Stunde vergangen.
Das Innere der Sherpa Coop Lodge bestand in der Hauptsache aus einem großen Raum mit einem offenen Kamin. Draußen war es noch nicht dunkel, aber man hatte schon ein Feuer entzündet, und davor saßen nun meine Eisheiligen und wärmten sich die Hände. Eine zusätzliche Wärmequelle war der Whisky, der auf dem kleinen Tischchen stand. Freudig musste sich der Captain davon genehmigt haben, denn die Flasche Johnnie Walker Red Label war schon halb leer. Nur der Co-Pilot saß bescheiden daneben und nippte an seinem Tee.
Ich bat den Captain höflich vor die Tür. Etwas schwankend folgte er mir.
„Hören Sie“, sagte ich, „die Nebel lichten sich gerade etwas. Wir haben noch eine Stunde Zeit bis zum Dunkelwerden. Könnte nicht Ihr Co-Pilot …?“
Ich hielt ihm das Päckchen Dollarscheine unter die Nase. Für einen kurzen Moment betrachtete er es, musste sich dann aber seines eigenen Schwankens allzu sehr bewusst geworden sein.
„Der Co-Pilot schafft das nicht“, sagte er dann und hielt sich am Türstock.
„Aber ich bitte Sie“, versuchte ich ihn zu ermuntern, „mit Ihrer Anleitung!“ Ich wedelte verführerisch mit dem Päckchen Dollarscheine unter seiner Nase. Wieder blickte er angestrengt hin.
„Nein, nicht möglich“, lallte er dann und schwankte zurück zu seinem Tisch. Ich steckte das Päckchen mit den Dollars wieder ein und zog ein anderes heraus, das mit den Beschwerdebriefen von den etwa fünfunddreißig Gruppen, die sich hier in Lukla inzwischen angesammelt hatten.
„Bist du nicht willig …“, so murmelte ich und baute mich vor dem Captain auf. Inzwischen hatte man ihm nachgeschenkt, und er tat einen tüchtigen Schluck. Sein Zustand drohte sich besorgniserregend zu verschlimmern, aber ich baute noch immer auf den Co-Piloten.
Ich zog das Paket mit den Beschwerdebriefen aus dem Anorak.
„Ich habe hier“, sagte ich und machte eine kurze dramaturgische Pause, bevor ich fortfuhr: „fünfunddreißig Beschwerdebriefe mit fünfhundert Unterschriften verschiedener Nationen. Die werde ich dem Tourismusminister vorlegen, wenn Sie es, verdammt noch einmal, nicht schaffen, Ihren Flieger klarzumachen und uns nach Kathmandu zu bringen.“
Der Captain war aufgestanden und gerade dabei, die fünfunddreißig Zentimeter Mindestabstand zu meinem Gesicht, die für die Wahrung der Intimsphäre nun einmal notwendig sind, zu unterschreiten.
„Dem Tourismusminister?“, fragte er. Seine Augen waren schon etwas blutunterlaufen.
„Dem Tourismusminister“, bekräftigte ich.
Da ließ er das halbvolle Whiskyglas demonstrativ fallen.
„Das können Sie ruhig“, sagte er. „Aber es wird Ihnen nichts bringen. Der Tourismusminister ist nämlich mein Onkel!“
Sagte es und ließ sich wieder in den Stuhl fallen, während ihm der Wirt ein frisches Glas brachte.
Ich ging entlang der Rollbahn zurück zu meiner Lodge. Es hatte wieder stärker zu regnen begonnen. Der abendliche Reis mit Linsen wollte uns gar nicht recht schmecken. Morgen hätten wir vom Tagesanbruch bis zum Anschlussflug in Kathmandu allerhöchstens zweieinhalb Stunden, denn der Abflug nach Bangkok war um viertel nach elf angesetzt.
Es regnete bis halb sechs Uhr früh. Um sechs blickte ich durch das Fenster der Lodge auf das Rollfeld. Drei Personen stapften darin mit gesenkten Köpfen auf und ab. Sie sanken bis zu den Knöcheln im Morast ein. Es waren der Oberkapo, unser Captain und ein weiterer Bediensteter. Ich putzte mir provisorisch mit Mineralwasser die Zähne und fuhr in die Hosen. Vor der Lodge prüfte ich die Bewölkung. Acht Achtel bedeckt, doch mit einer Schichtbewölkung. Der Thaksindo-Pass, die Einflugschneise für den Flugverkehr, war frei zu sehen. Hoffnungsfroh schlenderte ich den drei Eisheiligen entgegen.
„Guten Morgen“, sagte ich.
„Guten Morgen“, sagten sie.
„Schaut nicht schlecht aus!“
Der Captain wackelte traurig mit dem Kopf, um den ich ihn heute nicht beneidete. Lama Drum nennen die Sherpas solche Zustände postalkoholischer Natur, weil er sie mit seinem Trommeln an dasjenige der Lamas bei ihren Gesängen erinnert.
„Werden wir jetzt endlich fliegen?“
„Das ist nicht möglich!“ Ich fiel aus allen Wolken.
„Wie das?“
„Das Flugzeug ist kaputt!“
„Kaputt?“ Wie konnte ein Flugzeug über Nacht kaputtgehen?
„The hinge of the door“, sagte er.
„Das möchte ich sehen!“ Auf dem Weg zum Flugzeug fiel mir wieder ein, was hinge hieß: Scharnier.
Und tatsächlich: Die Einstiegstür des Flugzeuges hing schief in den Angeln, denn ein Scharnier war gebrochen.
„Wer was das?“, fragte ich, doch etwas fassungslos.
Der Captain zuckte mit den Schultern: „Materialermüdung, wahrscheinlich.“
„Über Nacht?“
„Das passiert.“
„Sie warten hier!“ Und setzte ein höfliches Bitte! nach. Ich eilte in die Lodge und scheuchte meine Mannschaft auf, die gerade beim morgendlichen Reis mit Linsen saß. Ich berichtete in kurzen Worten das Geschehene, und wir eilten gemeinsam zum Flugzeug.
„Die Ratte hat das Scharnier zerbrochen!“, stieß Herr X scharfsinnig zwischen den Zähnen hervor.
„Was sollen wir jetzt tun?“
„Wisst ihr was?“ Mir war eine blendende Idee gekommen. Ich ließ meinen Blick über die Flugzeugwracks am Rande der Piste schweifen. „Es hat doch ein jeder von euch ein Schweizermesser?“ Alle nickten. „Dort unten, die Flugzeuge. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht ein unversehrtes Scharnier finden!“
Wir schwärmten aus, während die drei Eisheiligen wieder dem Tower zustrebten. Eine halbe Stunde lang durchsuchten wir die Wracks der fünf oder sechs Flugzeuge und konnten keine einzige Schraube, geschweige denn ein Scharnier darin finden. Enttäuscht machten wir uns wieder mit unseren Schweizermessern davon und versammelten uns vor unserem Flugzeug.
„Wisst ihr was?“, sagte auf einmal einer aus der Gruppe. „Wir verkleben die Tür mit einem unserer breiten Klebestreifen und steigen dann durch die Tür des Cockpits ein.“
„Und von innen sichern wir die Tür mit einem Kletterseil!“, setzte ich hinzu. Zwei von uns machten sich umgehend auf den Weg, den Klebestreifen und das Seil aus der Lodge zu holen, während sich der Rest von uns zum Tower begab. Dort unterbreitete ich dem Captain meinen Lösungsvorschlag. Doch hatte ich nicht mit seiner geradezu Nestroy’schen Beamtenmentalität gerechnet.