Das Licht und der Bär

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Expeditionsarzt Franz „Schurli“ Rhomberg im Einsatz.

Man konnte sich den Ort kaum trostloser vorstellen. Der Gletscher war schuttbedeckt, und weit und breit konnten wir keinen Graspolster entdecken. Aus dem Myagdi Khola pfiff ein eiskalter Wind herauf. Doch wir hatten nur den Berg im Auge und planierten ein jeder für sich einen ebenen Platz für sein Basislagerzelt und waren vergnügt und voller Vorfreude. Einer von uns sagte gar mit keckem Blick in Richtung des Gipfels und im breitesten Südtirolerisch: „Den Zapfn do oben, den reiß ma mit links nieda!“ Wie vorhergesehen, hatten hier mittlerweile auch die Wanzen und Flöhe ihren Geist aufgegeben.

In den folgenden Tagen und Wochen stiegen wir nun am Berg auf und nieder und hatten die üblichen Vorkommnisse, wie man sie aus der Expeditionsliteratur kennt: die eine oder andere Magenverstimmung, kleinere Erfrierungen, hin und wieder einen Lawinenabgang. Einer unserer beiden Sherpas fiel dreißig Meter in eine Spalte und beleidigte sich die Bandscheiben und Rippen, wie übrigens auch der zweite, der ihn sicherte. Die derart spaltengeschädigten Sherpas weigerten sich nun, noch einmal weiter als bis zum Nordostcol auf fünftausendsechshundert Metern aufzusteigen, und von da an hörten wir die Worte „Den Zapfn reiß ma mit links nieda!“ immer seltener.

Zu diesem Zeitpunkt waren Wolfi und ich wieder einmal in Lager zwei im ungemein steilen Nordostsporn angelangt. Es lag auf etwa sechstausendsiebenhundert Metern und war in einer Spalte untergebracht, die sich für fünfzig oder achtzig Meter horizontal durch den Sporn zog und vorne und hinten offen war und daher gut belüftet war, was uns das heimelige Gefühl bescherte, in einem Windkanal zu schlafen. Aber immerhin waren wir hier vor Lawinen sicher.

Müde von der vielstündigen Spurarbeit, entfachten wir unseren Gaskocher und bemühten uns zwei Stunden lang, eine kleine Dose mit Hummersuppe aufzutauen. Wir waren noch im Sturmanzug, hatten die Steigeisen an den Schuhen und starrten wie hypnotisiert in die kleine Gasflamme, die vollkommen kraftlos gegen die vereiste Dose, den schneidenden Nordwind und die Sauerstoffarmut ankämpfte. Nachdem wir in den letzten Tagen immer klaglos und ohne Nebenwirkungen den blauen Bomber genossen hatten, fand ich es ganz natürlich, auch jetzt eine dieser magischen Schlafpillen aus der Packung zu drücken und zu schlucken. Wolfi tat es mir nach.

Ich erwachte am nächsten Morgen durch das spärliche Licht, das in unsere Spalte fiel, und die Kälte, die in den Schlafsack kroch. Die Hummersuppe stand noch am gleichen Platz, nur die Gaskartusche war leer. Wolfi sah mich prüfend an und richtete sich im Schlafsack auf. Er wechselte die leere Kartusche gegen eine volle und entzündete den Brennerkopf.

„Gestern habe ich einen schönen Stress mit dir gehabt“, sagte er dann und lächelte.

„Stress? Was für Stress?“ Ich war völlig ahnungslos.

„Du hast den blauen Bomber genommen und warst kurz darauf bewusstlos!“

„Was? Du hast ihn doch auch genommen!“

„Bei mir hat er nicht gewirkt. Bin die halbe Nacht wach gelegen.“

„Wach gelegen?“

„Na, nicht ganz. Hatte schon einiges zu tun!“

„Was zu tun?“

„Du warst quasi bewusstlos. Du hattest noch die Steigeisen an und den Sturmanzug. Hab’ volle zwei Stunden gebraucht, dir das alles auszuziehen und dich in den Schlafsack zu bringen!“

Erst lange nach der Expedition kam uns der Gedanke, dass man uns vermutlich abwechselnd ein Placebo und einen wirklichen Bomber in die Verpackung fabriziert hatte (wirklich dahinter gekommen sind wir nie, und ich will’s auch gar nicht mehr wissen).

An diesem Tag stiegen wir den steilen Nordostsporn höher. Wolfi trug das Sturmzelt für das letzte Lager und ich die Seilrolle für die steilsten Stellen. Ab einer Höhe von etwa siebentausend bis siebentausenddreihundert Metern fixierten wir ein Seil. In dieser Höhe bei schlechten Verhältnissen den dritten oder sogar vierten Schwierigkeitsgrad zu klettern, fiel uns nicht gerade leicht, aber wir stiegen weiter bis auf siebentausendsechshundert Meter, deponierten das Sturmzelt und fixierten es gegen den Sturm mit einem Felshaken. (Einige Tage vor uns hatten sich unsere Gefährten, recht berühmte Burschen, in diesen Seillängen ganz schön die Zähne ausgebissen).

Bei stärker werdendem Sturm stiegen wir ab. (Ich habe mir bei dieser Gelegenheit die linke Wange erfroren. Zehn Tage später konnte ich den schwarzen Schorf wie die Panier eines Wienerschnitzels herunterschälen.) Wir stiegen gleich über unser zweites Hochlager weiter nach unten und waren wieder im Lager auf sechstausend Metern angekommen. Dann stiegen wir weiter ab. Wolfi war hinter mir und sicherte mich am gespannten Seil.

Plötzlich blieben wir stehen. In Momenten der Gefahr reagieren eingeschworene Seilschaften oft gleich. Der Steilhang unter mir war unheilschwanger. Es war, als hätten wir das Unheil riechen können. Ich tat den ersten Schritt. Da zerriss ein Knall wie von einem Peitschenhieb den lautlosen Raum und eine riesige Lawine brach unter meinen Füßen los. Ich hätte den Halt verloren, wenn mich Wolfi nicht in der gleichen Sekunde am straffen Seil gehalten hätte, und alles war so selbstverständlich, als sei es unser ganzes Leben nicht anders gewesen. Wir sahen der riesigen Lawine zu, wie sie sich über den Nordostcol ergoss. Ich hing im Seil über dem fast zwei Meter hohen Anriss der Lawine, Wolfi stand zwanzig Meter über mir und hielt das Seil. Wir verloren kein Wort und stiegen weiter ab.

Bald wurde die Luft spürbar dicker. Im nächsten Lager angekommen, kochten wir uns ein Abendessen und nahmen einen blauen Bomber zum Nachtisch. Ich wälzte mich schlaflos hin und her und beschloss, an meinem Tagebuch zu schreiben, während Wolfi schon lange schlief. Er schnarchte leise, und ich konnte deutlich vernehmen, dass er völlig ausgetrocknet war. So stupfte ich ihn vorsichtig in seinem Schlafsack. Ein Stöhnen.

„Wolfi“, sagte ich. „Bist du durstig?“ Wieder ein leises Stöhnen.

Ich rüttelte ihn an der Schulter. Endlich wachte er auf, richtete sich im Schlafsack auf, und ich reichte ihm einen Becher Tee aus der Thermosflasche. Er nahm mit beiden Händen den Becher und trank vorsichtig daraus. Dann sagte er: „Der ist aber heiß, der Tschang!“ Hoppala, dachte ich mir, da kann jetzt aber etwas nicht stimmen.

„Das ist aber Tee!“, sagte ich. Wolfi sah mir mit völlig klarem Blick in die Augen und wiederholte: „Heiß ist der Tschang, aber gut!“

Da wusste ich, dass bei dieser Verwandlung wieder einmal der blaue Bomber seine Hände im Spiel haben musste, und ich begann, die weitere Konversation in meinem Tagebuch festzuhalten.

Wolfi sah völlig klar aus, schien aber das Mitschreiben im Tagebuch nicht zu bemerken. Er schien zu träumen, jedoch mit geöffneten Augen. Und dann kam es: „Also, eines sage ich dir: Wenn morgen der … (und er nannte den Namen eines Expeditionsteilnehmers), der faule Hund, nicht zum Gipfel spurt, und wieder wir selber spuren müssen, dann nehmen wir uns einen Hubschrauber.“

Er sprach dermaßen flüssig und zugleich sehr klar und wahr, dass ich mit dem Schreiben kaum nachkam. „… und wenn wir keinen Hubschrauber kriegen können, dann gehen wir nach Jomsom und nehmen uns ein Pony!“

Ich wollte seinen Redefluss nicht unterbrechen, und folgerichtig fuhr er gleich fort: „Mit dem Pony reiten wir dann zum Gipfel!“

Paff, das war interessant.

Aber es kam noch besser: „Und dann, zur Feier des Tages, soll uns die Marlene dreihundert Faschingskrapfen backen. Die essen wir dann alle auf einen Satz auf!“ Marlene war eine gemeinsame Freundin in Innsbruck, die in den Jahren vorher für unsere Expeditionen immer köstlichen Linzer Kuchen als Wegzehrung gebacken hatte.

Am nächsten Morgen konnte sich Wolfi an nichts mehr erinnern. Wir stiegen ins Basislager ab. Wie um die Trostlosigkeit dieses Ortes noch zu unterstreichen, hatte sich unter dem Zelt meines unmittelbaren Nachbarn eine Spalte aufgetan. Wir halfen Friedl beim Übersiedeln und bauten sein Zelt ab. Die Spalte war schon mehr als dreißig Zentimeter breit, und ich nahm einen Stein und ließ ihn hineinfallen. Wir zählten „… einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig … “, bis wir endlich ein fernes Platschen hörten.

Nach einigen Rasttagen waren wir wieder einmal in unserer Eishöhle auf sechstausendsiebenhundert Metern angekommen. Wir saßen in der kraftlosen Abendsonne vor unserer Höhle und hatten fast nichts mehr zu essen. Mit knurrenden Mägen blickten wir in das Tal des Khali Gandaki hinunter. Da hörte ich mich selbst sagen: „Weißt du, was jetzt der Hammer wäre?“

„Nein“, sagte Wolfi.

„Ein Wienerschnitzel. In Butter gebraten.“

Wolfi entgegnete nichts.

Ich darauf: „Mit Kartoffelsalat. Und Preiselbeeren!“

Da fügte Wolfi hinzu (und machte sich damit in einem gewissen Sinne mitschuldig): „Und eine Flasche Weißwein dazu!“

Und auf einmal fing ich zu kauen an und hatte das Schnitzel und seinen Geschmack im Mund, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass auch Wolfi andächtig kaute. Wir kauten und kauten, und es schmeckte uns vorzüglich. Die andächtige Stille wurde nur vom Kauen und dem Wind gestört. Doch auf einmal rief Wolfi ungehalten und ziemlich laut: „Aufhören. Sofort aufhören! Ich halt das nicht mehr aus!“

Ich stellte sofort das Kauen ein, und damit waren auch das Schnitzel und der Kartoffelsalat und der Weißwein Geschichte. Auch Wolfi hatte zu kauen aufgehört und saß nun schweigend neben mir.

Das sollte der einzige nicht harmonische Moment bleiben, den wir während unseres zehnwöchigen Unternehmens erlebten. (Wir Bergsteiger wissen ja alle, wie schnell in der Enge eines Zeltes Unmut entstehen kann. Ein Kletterer, mit dem ich Anfang der Achtzigerjahre zwei der schwierigsten Routen Tirols geklettert war, hatte, viel später, mit einem Franzosen in Tingri eine Woche lang ein Zimmer geteilt. Und er hatte diese eine Woche lang mit dem Franzosen nicht nur kein einziges Wort gewechselt, sondern ihn auch nicht einmal angeblickt. „Comme un chien“, hat der Franzose später berichtet, wie ein Hund hatte er sich dabei gefühlt.)

 

Wir blieben vor dem Zelt sitzen, bis es dunkel wurde, dann zog über dem Khali Gandaki ein Gewitter auf, und wir blickten aus fast siebentausend Metern hinunter, wie etwa viertausend Meter unter uns ein riesiger Feuervorhang das Khali Gandaki durchspannte. Es wirkte wie ein riesiger Theatervorhang, nach oben begrenzt, wie von einem Lineal gezogen und an einer Stange gehalten, und dieser Vorhang bestand aus Millionen, vielleicht Milliarden von Blitzen, die in ihrer Dichte wie eine undurchdringliche Wand erschienen. Diese Vorstellung währte weit mehr als eine Stunde. Uns schien es wie eine Ewigkeit, und wir konnten ihre ganze Pracht mit unseren von Sauerstoffmangel beschränkten Gehirnen gar nicht wirklich erfassen.


Die mächtige Südwand des Dhaulagiri bei Sonnenaufgang.

Am gleichen Abend erhielten wir noch einen Funkspruch von unseren Gefährten. Es war nichts mehr von einem „Den Zapfn reiß ma mit links nieda!“ zu hören. Vielmehr vernahmen wir, wie ein anderer, der uns immer beim Spuren vornehm den Vortritt überlassen hatte, sagte: „Der Berg mag uns nicht. Ich gebe auf!“

Nach über einstündiger Beratung entschlossen wir uns, es ihm nachzutun, und stiegen am nächsten Tag ins Basislager ab.

War die Ankunft dort vor acht Wochen eine Art Triumph gewesen, den wir uns in unserer Siegessicherheit als Vorschuss genehmigt hatten, ähnelte unsere Abreise nun eher einer Flucht. Einige von uns entschlossen sich, über den Dhampus-Pass nach Marpha ins Khali Gandaki abzusteigen, doch Wolfi, Friedl Mutschlechner und ich blieben dabei, die Anmarschroute auch für den Rückweg zu nehmen. Ich glaube, wir haben nie mehr in unserem Bergsteigerleben unsere Rucksäcke so schnell gepackt wie an diesem Tag. Ohne noch einen einzigen Blick auf den Berg zu verschwenden, rannten wir schnellen Schrittes das Tal hinaus.

Wir sollten die Route unseres dreizehntägigen Anmarsches in nur drei Tagen zurücklaufen. Das war ungeheuerlich, und vorsätzlich kann das wohl niemandem gelingen. Doch wir konnten es. Ich erinnere mich unseres Dauerlaufs durch die Schluchten und die dazwischen liegenden Dörfer, unserer unendlichen Müdigkeit und der Blutblasen an den Füßen von Friedl (einige Zeit später wurde er am Manaslu bei tiefblauem Himmel auf siebentausendfünfhundert Metern von einem Blitz erschlagen.) Wir schnitten seine Blutblasen mit meinem Taschenmesser auf, in den wenigen Minuten der Mittagspause, und ich wusste, dass Friedl eine wahnsinnige Angst hatte, als gescheiterter Bergsteiger (er galt seit vielen Jahren als einer der besten Höhenbergsteiger der Welt) wieder ein Installateur werden zu müssen, was er gelernter Weise war, und dass er alles, aber auch alles tun würde, um aus diesem Leben herauszukommen und Bergsteiger sein und bleiben zu dürfen. Und so schnitten wir ihm bei der nächsten Mittagsrast wieder seine Blutblasen auf, und alles war voller Blut, und wir rannten beinahe besinnungslos weiter, währenddessen wir uns niemals umdrehten, um unseren Berg auch nur ein einziges Mal noch anzusehen. Aber ich erinnere mich an das Pochen meines eigenen Herzens, das wie aus der Ferne kam, und an die Geräusche der Dörfer und ihre Gerüche, an das Saugen der Wasserpumpen, das entfernte Gebell der Hunde und an unsere Sehnsucht nach vertrauten Bildern und Menschen, die so weit entfernt waren, wie es zehntausend Kilometer nur sein können.

Biratnagar

Im Südosten Nepals, im Hügelland des Terai, knapp an der indischen Grenze, liegt die Stadt Biratnagar. Am westlichen Stadtrand verfügt Biratnagar über einen Flughafen. Dieser Flughafen ist wohl der einzige Grund, warum man als Bergsteiger diesen Ort aufsucht. Denn hier nehmen die Flugverbindungen zu den Hochgebirgsregionen im Osten von Nepal ihren Ausgang.

Von hier waren wir mittels einer kleinen, zweimotorigen Twin Otter nach Suketar geflogen, einer kleinen Siedlung auf zweitausendsiebenhundert Metern Höhe, die ein nicht asphaltiertes STOL-Flugfeld aufweist (Short Take Off and Landing). Wir umwanderten in einer Schleife von etwa dreihundert Kilometern in den nächsten drei Wochen das Kangchendzönga-Massiv, den dritthöchsten Berg der Erde, und Harald Riedl, der an einem bestimmten Tag uns weit vorauseilte, konnte dabei auf einer Lichtung sogar einen Roten Panda beobachten, in der freien Natur ein äußerst seltenes Schauspiel, weil es wahrscheinlich im gesamten Himalaya nur mehr dreihundert von ihnen gibt. Insgesamt war es eine eher verregnete Tour. Tausende von Blutegeln lauerten uns überall auf, und wir entfernten sie mit Messern, Salz oder Feuerzeugen von unseren Schuhen. Dennoch mussten wir an jedem Abend feststellen, dass es vereinzelte dieser Plagegeister durch die Ösen der Schuhe ins Innere geschafft hatten, sich dort drinnen an unseren Füßen satt tranken und dann fett und aufgeblasen zerplatzten. Abends, beim Herausschlüpfen aus den Schuhen, war dann immer ein Blutbad zu sehen, und weil man das Blut auch nicht mehr wirklich entfernen konnte, nahmen diese Schuhe nach einigen Wochen eine olfaktorische Note an, die bei jedem Aasfresser ein Glücksgefühl hervorrufen musste. Wir lagerten unsere Schuhe wohlweislich immer außerhalb unserer Zelte und erreichten nach besagten drei Wochen wieder wohlgemut den kleinen Flugplatz von Suketar, ohne von einem Tiger oder Bären in näheren Augenschein genommen worden zu sein.

Harald, Renate und ich waren die einzigen Touristen hier. In wenigen Minuten würden wir in das tropisch heiße Biratnagar auf nur siebzig Metern Meereshöhe fliegen. Plötzlich stupfte mich Harry in die Seite. „Da drüben liegt ein alter Mann“, sagte er. Ich konnte nicht sogleich etwas erkennen, weil eine Gruppe von zehn oder fünfzehn Menschen dicht gedrängt beieinander stand, doch nahm ich meinen Rucksack mit der Expeditionsapotheke und ging hinüber. Die Zuseher machten eine schmale Gasse frei, und wirklich lag ein alter Mann an der kleinen Böschung, die die Längsseite des Flugfeldes begrenzte. Er war ganz in Weiß gekleidet, und auch sein Haar und sein Bart waren weiß und sehr gepflegt. Sein gefurchtes, schmales Gesicht verriet große Schmerzen, und er wies mit seiner rechten Hand immer wieder auf seine Brust und seinen Hals. Er sagte, dass seine Speiseröhre brenne, und verlangte seltsamerweise nach Knoblauch. Ich konnte nur einen Herzinfarkt vermuten und legte ihm ein Nitrolingual unter die Zunge. Wenig später wirkte er entspannter, und da hörten wir auch schon die Twin Otter sich nähern und auf dem Flugfeld landen.

Die Maschine rollte aus und kam zum Halten, und wir halfen dem alten Herrn auf die Beine und über die kleine, schwankende Gangway hinauf, wo wir von einer jungen, hübschen, in einen Sari gekleideten Stewardess empfangen wurden. Wir setzten den alten Mann auf einen Sitz gerade vor meinem eigenen, und die Piloten starteten die Motoren und jagten das Flugzeug über die holprigen Graspolster in den makellosen Himalayahimmel hinein.

Der Flug von Suketar nach Biratnagar dauert nicht sehr lange, vielleicht zwanzig oder dreißig Minuten, aber auf halber Strecke krümmte sich der Oberkörper des alten Mannes wieder unter großen Schmerzen, und ich löste meinen Sicherheitsgurt und verabreichte ihm erneut eine Dosis Nitrolingual. Wieder wurde der Mann ruhig. Ich drehte mich zur Stewardess um, die hinter mir saß, und bat sie, zu den Piloten im Cockpit vorzugehen und über Funk einen Krankenwagen zum Flughafen zu bestellen. Sie tat, wie ich ihr geheißen hatte, verschwand für kurze Zeit im Cockpit und kam dann zurück. Ihr Gesicht verriet keine Regung. „Es tut mir leid“, sagte sie, „ihren Wünschen nicht entsprechen zu können.“

„Warum?“, fragte ich. „Das wird doch das Selbstverständlichste der Welt sein!“

„Leider nein“, sagte sie. „Die Vorschriften lassen es nicht zu, Sir.“

„Warum nicht?“

„Der Herr“, sie wies mit der Hand auf den alten Herrn vor mir, der vollkommen regungslos dasaß, „hat keine Verwandte dabei. Ohne Verwandte wird er nicht im Krankenhaus aufgenommen.“

Ich bemühte mich, gegenüber der jungen Frau gefasst zu bleiben, schickte sie aber ziemlich gereizt noch einmal zu den Piloten in die Kanzel und ließ ihnen mitteilen, dass wir – Harald, Renate und ich – für die Behandlungskosten aufkommen würden. Dieses Mal dauerte es etwas länger, bis sie zurückkam, ganz offensichtlich kommunizierten die Piloten mit dem Krankenhaus.

„Leider nein“, sagte sie erneut, als sie sich unverrichteter Dinge wieder vor meinem Sitz aufbaute. „Es sind die Vorschriften, Sir“, ergänzte sie mit steinernem Gesicht.

Wir landeten in Biratnagar. Durch die geöffnete Flugzeugtüre schlug uns die ungewohnte Hitze des Tieflandes entgegen. Wir stützten den alten Herrn hinaus in die flimmernde Luft. Das Flughafengebäude von Biratnagar, ursprünglich ein weißgetünchter Betonbau, hatte nach kurzer Zeit, wie alle diese Gebäude in den Tropen, eine graue Farbe angenommen. Großflächiger Schimmel rahmte die hohen, schmutzigen Fensterscheiben ein. Wir lehnten den Mann im Schatten eines großen Baumes an die Außenmauer des Gebäudes. Harry und Renate versuchten noch einen Taxifahrer zu motivieren, den alten Herrn ins Krankenhaus zu bringen, hatten aber keinen Erfolg.

Für uns war es Zeit, das Anschlussflugzeug nach Kathmandu zu besteigen.

An der Ecke zur Abflughalle drehte ich mich um. Der alte Mann saß regungslos und mutterseelenallein im Gras. Ich ging noch einmal zu ihm zurück und drückte ihm eine weitere Nitrolingual in die schlaffe, hohle Hand. Dann durchschritten wir die lärmende Halle und traten wieder ins gleißende Sonnenlicht und über die Gangway hinauf in diese nun größere Maschine. Dabei fiel mir ein Ausspruch über die Hindus ein, den man Mark Twain zuschreibt. Er musste ihn im Jahre 1896 anlässlich seiner Indienreise von sich gegeben haben: „Sie sind ein merkwürdiges Volk. Ihnen scheint alles Leben heilig zu sein – bis auf das menschliche.“

Das Flugzeug hob ab, und vielleicht hoffte ich im Stillen, dass es eine Schleife fliegen würde und ich den alten Mann noch einmal sehen könnte, um mich aufzuraffen, mit den Piloten dieses Flugzeugs über ihn zu reden. Aber das Flugzeug flog keine Schleife mehr; es befand sich im Steigflug gegen den Wind in gerader Richtung nach Kathmandu, und vielleicht hatte auch mich das dauernde Elend dieses Landes stumpf und gleichgültig gemacht.

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