Die Nadel im Heuhaufen

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Die Nadel im Heuhaufen
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Rudi Kost



Die Nadel im Heuhaufen



Ein Hohenlohe-Krimi





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Inhaltsverzeichnis





Titel







Dienstag







Mittwoch







Donnerstag







Freitag







Samstag







Sonntag







Montag







Dienstag







Mittwoch







Donnerstag







Freitag







Nachwort







Mehr von Rudi Kost







Der Autor







Impressum neobooks







Dienstag



Der Polizist schaute nach oben und seufzte. Ich tat ihm den Gefallen, schaute ebenfalls nach oben und seufzte mit. »Wie kann man nur so unvorsichtig sein!«, sagte er.



In den tragischen Momenten des Lebens treibt uns die Sprachlosigkeit unweigerlich zu Banalitäten. Man musste ihm das nachsehen.



Wir blickten hinauf in eine dunkle, viereckige Luke im Holzboden. Dort oben lagerten Heu und Stroh. Gemein­sam schauten wir wieder nach unten.



Fritz Huber lag seltsam verrenkt auf dem Betonboden der Scheune. Eigentlich interessant. Tote liegen immer selt­sam verrenkt da, niemals normal verrenkt oder einfach nur so verrenkt.



Wenigstens bestand kein Zweifel, dass der Bauer tot war. Seine Augen waren starr in die Ferne gerichtet. Unter sei­nem Hinterkopf hatte sich eine Blutlache gebildet. Er trug einen blauen Arbeitsanzug, auf dem ein wenig Heu ver­streut war.



Der Polizist war noch jung und etwas blass um die Nase. Er hatte wohl noch nicht viele Tote gesehen.



Ich auch nicht, um ehrlich zu sein. Aber ich war tapfer und ließ mir nichts anmerken.



»Das weiß doch jedes Kind, wie leicht man da abstür­zen kann«, sagte er. Noch so eine tiefschürfende Bemer­kung.



»Gestürzt. Geschubst. Gesprungen. Wer weiß das schon.«



Der Polizeibeamte sah mich etwas argwöhnisch an. Ich trug mein Lässig-aber-elegant-Outfit: beige Jeans von Boss, einen sandfarbenen Cashmere-Rolli, eine hellbraune Leder­jacke von Versace. Er trug seine Uniform.




***




Wir standen im Hof des Anwesens. Vor den Fenstern des Bauernhauses mit seinem schönen Fachwerk verwelkten die letzten Geranien in der milden Herbstsonne.



Mittlerweile hatte sich das halbe Dorf versammelt. Nur die Huber-Bäuerin und der Sohn fehlten. Sie waren wegge­fahren, so gegen neun Uhr, erfuhr ich von einer Nachbarin. In solchen Dörfern bleibt wenig unbemerkt.



Ich mischte mich unters Volk. Man erzählte sich die Ge­schichten, die jeder kannte: wie der Sohn vom Reber beim Dachdecken abgestürzt war und sich fast das Kreuz gebro­chen hatte, wie dem Hummels-Bauer die Kettensäge ins Bein gefahren war, der Röger vom Baum erschlagen wurde, der Otter die Hand in die Häckselmaschine brachte … Ein Bauernhof ist ein gefährlicher Arbeitsplatz.



Doch unter die Betroffenheit mischten sich auch andere Stimmen. Fritz Huber war offenbar nicht sonderlich be­liebt gewesen im Dorf, und sein Tod stimmte die Nachbarn nicht gerade milder.



Als Kommissar Keller auf den Hof fuhr, hätte ich mich am liebsten verdrückt. Aber ich wusste, dass das keinen Sinn hatte, und arbeitete mich langsam vor.



»Und wer hat ihn entdeckt?«, fragte Keller gerade den jungen Polizisten.



Der sah sich suchend um und wies auf mich: »Der da!«



Keller entdeckte mich und seufzte. »Ich hätte es mir denken können.«



Ich grinste ihn an. »Jeder hat halt so seine Hobbys, She­riff. Und ich bin in diesem County eben für die Entdeckung der Leichen zuständig.«



Keller zog seine linke Augenbraue in die Höhe. Das hatte er sich von Roger Moore abgeschaut und bestimmt wochenlang vor dem Spiegel geübt. Ich kannte mich da aus. Ich hatte auch mal geübt, aber nach zwei Tagen auf­gegeben. »Wie kommt’s, dass ausgerechnet Sie ihn gefun­den haben?«



»Ich hatte einen Termin mit ihm.«



»Und warum?«



»Er wollte seine Lebensversicherung ändern. Jemand anders sollte begünstigt werden.«



»Wer sollte das werden?«



»Hat er nicht gesagt.«



»Warum haben Sie nicht gefragt?«



»Ich bin doch nicht neugierig.«



»Und wer war es bisher?«



»Wie üblich. Seine Frau.«



»Warum, um alles in der Welt, wollte er das ändern?«



»Weil ihm die Frau davonlaufen wollte? Weil er seine Frau satthatte? Keine Ahnung. Er hat’s mir nicht verraten. Ich hätte es schon noch erfahren.«



Nun wurde Keller doch etwas nachdenklich.



»Und ausgerechnet, bevor Sie kommen, stürzt er vom Heuboden und bricht sich das Genick. So ein Zufall!«



»Ich glaube nicht an Zufälle«, sagte ich.



Vor allem nicht, wenn es meine Versicherung eine hüb­sche Stange Geld kostet. Hunderfünfzigtausend Euro, das Doppelte bei einem Unfalltod, sind kein Pappenstiel.



Mittlerweile hatte der Arzt seine Untersuchungen abge­schlossen. Es war der Dorfarzt, den irgendwer aus dem Nachbarort geholt hatte, um das Offensichtliche festzu­stellen. Er fühlte sich sichtlich unwohl.



»Todeszeitpunkt zwischen acht und zehn Uhr«, sagte er.



»So genau legen Sie sich fest?«, fragte Keller verblüfft.



»Ist ja noch nicht lange her. Man sieht’s an der Blut­gerinnung.«



»Todesursache?«



»Er hat sich eindeutig das Genick gebrochen. Aber ob das die Todesursache war …«



»Anzeichen von Fremdeinwirkung?«



»Hören Sie, ich bin kein Pathologe. Dass er eine stark blutende Wunde am Hinterkopf hat, sehen Sie selbst. Ob er sich beim Sturz irgendwo angeschlagen hat oder ob es was anderes war, muss die Obduktion klären.«



»Kannten Sie ihn?«



»Er war mein Patient.«



»Hatte er irgendwelche Beschwerden?«



Der Arzt schaute Keller an und brachte das Kunststück fertig, würdevoll und beleidigt zugleich auszusehen.



»Haben Sie schon mal etwas von der ärztlichen Schweige­pflicht gehört?«



Wenn ihm etwas gegen den Strich ging, konnte Keller ziemlich ruppig werden. »Die geht mir am Arsch vorbei. Ich habe hier einen nicht natürlichen Todesfall, wie das im Amtsdeutsch heißt, und ich will wissen, was die Ursachen sind und was ich ausschließen kann. Und ich will es sofort wissen. Also?«



Der Arzt kämpfte mit sich und seiner Würde. Wir Um­stehenden verfolgten das Duell interessiert. Ich war amü­siert. Ich kannte den Kommissar und wusste, wer gewin­nen würde.



Keller schaute den Arzt grimmig an, wie eine Bull­dogge vor dem Zuschnappen. Schließlich gab der Arzt seine Würde auf und war nur noch beleidigt.



»Fritz Huber war kerngesund«, meinte er patzig.



Man sah Keller an, was er dachte. Und dass er es am liebsten laut gesagt hätte.



»Schwindelanfälle oder so was?«, fragte er stattdessen.



»Nicht dass ich wüsste.«



»Verbindlichsten Dank, Herr Doktor«, erwiderte Keller mit ätzender Liebenswürdigkeit und scheuchte den Arzt mit einer Handbewegung weg.



Dann starrte er auf den toten Fritz Huber hinab, zog einen Zigarillo aus der Tasche und begann, darauf herum­zukauen. Seit ich ihn kannte, war er dabei, sich das Rau­chen abzugewöhnen. Den Zigarillo malträtierte er immer, wenn er wütend war oder nachdenken musste.



Und jetzt musste er entscheiden, ob er den ganzen Appa­rat in Bewegung setzen sollte.



Er starrte mich an.



Ich starrte zurück.



Er kaute heftig.



Ich nickte ihm zu.



»Manchmal irre ich mich auch«, sagte ich.



Keller schaute mich böse an.



»Übrigens hat er mir geflüstert, dass er auch sein Testa­ment ändern wollte«, sagte ich leise zu ihm. Das musste ja nicht jeder hören.



Keller seufzte. »Also gut, das volle Programm.«



Nun würde sich also die Gerichtsmedizin mit der Leiche befassen. Die Spurensicherung würde anrollen und jeden Zentimeter unter die Lupe nehmen – eine mühselige Ar­beit in einer Scheune, die staubig und dreckig und voller Spinnweben ist. Hier etwas Brauchbares zu finden, glich wahrhaft der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.



»Wo bleibt eigentlich Ihr Gartenzwerg?«, fragte ich.



Da kam er auch schon angewatschelt, der kleine, dicke Berger, Kellers Assistent. Als er mich sah, stöhnte er auf.



»Was macht der denn hier, Chef?«, fragte er.



»Auch wenn Sie’s nicht gern hören, Berger«, meinte ich. »Ich habe die Leiche entdeckt.«



»Aha«, sagte er nur.



Ich nickte Keller zu. »Morgen auf dem Revier fürs Protokoll?«



»Sie können den doch jetzt nicht laufen lassen, Chef!«, protestierte Berger.

 



»Der läuft von selber«, sagte ich. »Nicht wahr, Chef?«



Keller knurrte. Er hasste es, Chef genannt zu werden.



Und außerdem sah er viel Arbeit auf sich zukommen. Sei­nem Blick nach gab er mir die Schuld. Ich hatte ihm den Tag gründlich verdorben.



Es gab für mich im Augenblick auf dem Bauernhof der Hubers nichts mehr zu tun. Ich tratschte noch ein wenig mit den Dorfbewohnern, ohne etwas Wesentliches zu er­fahren, dann trollte ich mich und setzte die Tour fort, die ich mir für diesen Tag vorgenommen hatte. Es stand ohne­hin nur Kundenpflege auf dem Programm.



Normalerweise sind das für mich als Versicherungsver­treter erholsame und auch ergiebige Tage. Wir plaudern über dies und jenes, und die Bauern stecken mir zum Ab­schied eine Wurstbüchse zu oder was Frisches aus der Hausschlachtung.



Doch heute war ich nicht recht bei der Sache, und den Besuch bei der Witwe Huber an diesem späten Dienstag­nachmittag hätte ich gerne vermieden. Ich hasse Kondo­lenzbesuche. Ich fühle mich immer so hilflos dabei.



Bei den Hubers kam ich jedoch nicht in die Verlegenheit, mir irgendwelche hohle Phrasen abstottern zu müssen.



Ich hatte verweinte Augen und nasse Taschentücher er­wartet. Anita Huber und ihr Sohn Gerd jedoch benahmen sich nicht im Mindesten, wie man es von trauernden Hin­terbliebenen erwartet hätte. Sie gaben ein Bild stoischer Gelassenheit. Und kamen gleich zur Sache.



»Wann kriegen wir das Geld?«, fragte Anita Huber.



»So schnell geht es leider nicht. In solchen Fällen müssen die Untersuchungen abgewartet werden.«



»Welche Untersuchungen?«



»Erst muss die genaue Todesursache geklärt werden, dann erst kann der Totenschein ausgestellt werden. Und den Totenschein brauchen wir, damit die Versicherung aus­bezahlt werden kann.«



Ich hasse es, im Angesicht des Todes über diesen nüch­ternen Formalienkram zu reden.



Aber bei Anita Huber musste ich mir keine Gedanken machen. Die Frau sah mich nur prüfend an.



»Die Sache ist doch klar, oder? Der Fritz war halt unvor­sichtig«, sagte sie.



»Eben das muss untersucht werden«, erwiderte ich.



Ich konnte sie nicht einordnen. Sie musste früher mal hübsch gewesen sein, jetzt wirkte sie verhärmt. Bei meinen Besuchen hier im Hause war ich ihr selten begegnet. Alles Geschäftliche hatte der Huber-Bauer alleine geregelt, ganz, wie es die alte Rollenstruktur wollte. Die Gemahlin durfte nicht mal stumm dabeisitzen.



Ich startete einen Versuchsballon.



»Ihr Mann hatte mich für heute herbestellt. Wissen Sie, warum?«



»Nein.«



»Aber Sie wussten, dass ich kommen würde?«



»Nein.«



»Ihr Mann sagte was von der Lebensversicherung.«



Sie zuckte mit den Schultern. Nicht gerade mitteilsam, die trauernde Witwe. Übertroffen nur von ihrem Sohn. Der machte den Mund nämlich überhaupt nicht auf. Saß nur da und starrte mich an. Apathisch. Auf eigenartige Weise entrückt. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.



Ich fuhr zurück nach Schwäbisch Hall. Fritz Huber ging mir nicht aus dem Kopf. Sollte das wirklich nur ein tra­gischer Unfall gewesen sein? Ich fragte mich, ob es auch nichttragische Unfälle gab.



Huber hatte eine hohe Lebensversicherung. Ungewöhn­lich hoch für einen Bauern. Er wollte sie umschreiben las­sen. Auch ungewöhnlich. Und kurz zuvor war er tödlich verunglückt. Noch ungewöhnlicher.



Ich war neugierig geworden. Und ein wenig misstrau­isch. Ich beschloss, vorerst einmal nicht zu glauben, dass er einfach so vom Heuboden gestürzt war. Bis zum Beweis des Gegenteils.



Zur Entspannung joggte ich noch ein paar Runden durch den Park. Es half nicht viel. Huber joggte mit. Ich wollte es immer noch nicht glauben.



Kochen bringt mich immer auf andere Gedanken. Ich schaute im Kühlschrank nach. Nichts davon machte mich an. Gehen wir also essen, Herr Huber.



In der Innenstadt gibt es ungefähr sieben Restaurants, bei denen man sich nicht den Magen verrenkt. Schon von Berufs wegen sollte ich mich überall hin und wieder bli­cken lassen. Aber jeder hat so seine Vorlieben. Also ging ich auf einen Teller hausgemachte Kutteln in mein Stammlokal. Damals war das die »Sonne«, als die Familie Würtz noch Regie führte.



Normalerweise plauderte ich mit der Wirtin so ausgiebig, wie es der Restaurantbetrieb zu ließ. Wir tauschten den neuesten Klatsch und ereiferten uns über die Eskapaden der Stadtverwaltung. Aber an diesem Abend war ich ein maulfauler Gast. Ich saß in Hall, war in Gedanke jedoch in Hohenberg. Warum wollte Huber die Versicherung umschreiben? Und auf wen? Hatte das etwas mit seinem Tod zu tun? Oder war doch alles nur Zufall?



Ich würde keine Ruhe haben, bis ich die Antworten wusste. Und ich würde auch keine Ruhe geben, bis ich sie hatte.



Nach dem Essen brauchte ich noch einen Absacker. Ich sah mich in den Kneipen um, fand jedoch niemanden, des­sen Gesellschaft mir nach so einem Tag genehm gewesen wäre. Bis ich schließlich auf meinen alten Kumpel Robert traf. Wir hatten fast alle Probleme der Menschheit gelöst, als man uns hinauswarf. Das ist die Tragik des Lebens. Es fehlt immer das letzte Bier zur end­gültigen Lösung.



Ich machte mich auf den Heimweg. Die alte Stadt lag still und friedlich da. Es war eine klare, kalte Herbstnacht. Auf der Henkersbrücke schaute ich in die braunen Fluten des Kochers. Da jetzt hinunterfallen! Aber es war nur Was­ser, kein Betonboden. Ich würde es überleben.



Außer mir war niemand in der Neuen Straße unterwegs. Für eine Stadt, die je nach Bedarf ihre erste Erwähnung auf das Jahr 1037, 1156 oder 1204 zurückführt, war die Straße tatsächlich noch neu.



Beim großen Stadtbrand von 1728 war ein Großteil der Altstadt abgefackelt. Wo das Feuer haltgemacht hatte, kann man heute noch sehen. Erhalten geblieben waren die mittel­alterlichen Fachwerkbauten, den Rest hatte man barock neu erbaut.



Damals war auch die Neue Straße angelegt worden, als Brandschneise und als gerader, schneller Weg zum Lösch­wasser des Kochers.



Die Horde Jugendlicher, die sich vor der Disco am Hafenmarkt auf einen multikulturellen Dialog vorberei­tete, hatte davon garantiert keine Ahnung. Die hatten andere Sorgen. Gleich würde die Schlägerei losgehen. Rus­sen gegen Türken.



Das war nichts Ungewöhnliches hier. Ich machte, dass ich weiterkam.





Mittwoch



Hauptkommissar Keller saß an seinem Schreibtisch und bemühte sich erfolgreich, einen miese­petrigen Eindruck zu machen. Es musste ihn ziemlich viel Mühe kosten, das Klischee vom griesgrämigen Kommissar zu kultivieren: schlecht gekleidet, schlecht rasiert, schlecht gelaunt. Jeder hat halt so seine Ticks.



Keller war Mitte fünfzig, hager, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen. Auf seine Art ein attraktiver Mann. Neuer­dings trug er sein dichtes, graues Haar ganz kurz. Wenn er wollte, konnte er durchaus charmant sein. Meistens wollte er nicht. Heute schon gar nicht.



»Sie schon wieder«, brummte er.



Mein Verhältnis zu Keller war nicht eindeutig. Wir waren uns berufsbedingt bei ein paar Fällen über den Weg gelau­fen und hatten uns halbwegs vertragen. Ich hatte sogar den leisen Verdacht, dass er mich ganz gut leiden konnte.



»Ich habe Sie doch nicht etwa aus Ihrem Beamtenschlaf geweckt?«, fragte ich so munter, wie es mir um diese Zeit möglich war.



»Sie haben mir einen schönen Mist eingebrockt«, knurrte Keller und linste über den Rand seiner Lesebrille zu mir.



Er schaute noch zerknautschter aus als sonst und kaute schon am frühen Morgen auf einem Zigarillo herum. Kein gutes Zeichen.



»Eine glasklare Geschichte. Aber ich muss meine Zeit verschwenden mit Vernehmungen und Protokollen«, schimpfte er. »Und warum?«



»Weil ich Sie irritiert habe?«, schlug ich vor.



»Weil Sie eine gottverdammte Eingebung hatten!«



»Na, dann will ich euch doch gerne an meinen göttlichen Eingebungen teilhaben lassen«, grinste ich.



Keller nahm mein Gequassel nicht ernst, aber sein Assis­tent sprang natürlich prompt an. Bergers Haltung zu mir war wenigstens klar. Er mochte mich ganz entschieden nicht. Das beruhte freilich auf Gegenseitigkeit.



»Dillinger, Ihre Meinung interessiert hier überhaupt nicht!«, herrschte er mich an.



So, so. Ein bloßes »Dillinger«, ohne ein »Herr« davor, wie das unter gebildeten und gesitteten Menschen üblich ist. Gut, Keller sprach mich auch so an. Aber Berger war nicht Keller.



»Ein Kerl muss eine Meinung haben, Bergerchen«, sagte ich ganz freundlich. »Haben Sie auch eine Meinung?«



»Von Ihnen schon!«, giftete er. »Sie sind nichts weiter als ein Klugscheißer.«



Hm. Darüber könnte man diskutieren. Aber nicht jetzt. Und nicht mit Berger.



Der Kerl war nur neidisch. Er war etwa so alt wie ich, sah aber lange nicht so gut aus. Klein und dick war er, mit strähnigen Haaren, seine Brille rutschte ihm ständig auf die Nase und das Hemd aus der Hose. Sie gaben ein göttliches Bild ab, er und Keller, wenn sie gemeinsam durch die Stadt trot­teten.



»Und überhaupt, Chef«, sagte Berger zu Keller, »weiß ich nicht, was der Dillinger hier zu suchen hat.«



»Schon vergessen, Herr Berger«, sagte ich, wobei ich das »Herr« betonte, »dass der Dillinger so was wie ein Zeuge ist? Ich habe den Toten schließlich gefunden. Ich muss doch das Protokoll unterschreiben, das Sie sicher schon fertig haben. Aber bitte ohne Tippfehler diesmal.«



Berger starrte mich wütend an. Er war ja so leicht auf die Palme zu bringen.



»Fertig jetzt?«, fragte Keller ungerührt. »Dann zu den Fakten. Todeszeitpunkt ist klar, zwischen acht und zehn Uhr, genauer lässt er sich im Moment nicht eingrenzen. Wunde am Hinterkopf. Bei der eigentlichen Todesursache will sich die Gerichtsmedizin im Moment noch nicht ein­deutig festlegen. Vielleicht ein Schlag auf den Schädel, möglicherweise eine Folge des Sturzes, von was immer der ausgelöst wurde.«



»Was gefunden?«



Er schüttelte den Kopf.



»Noch nichts. Wenigstens nichts, was als mögliche Tat­waffe in Betracht käme. Blutspuren am Rand der Luke, durch die er gefallen ist. Wahrscheinlich hat er sich beim Sturz angeschlagen.«



»Irgendeine Theorie?«



»Das Geländer oben auf dem Heuboden ist morsch. Vielleicht hat er sich dagegengelehnt, vielleicht ist er aus­gerutscht.«



»Oder er ist dagegengesprungen«, gab ich zu bedenken.



Berger mischte sich ein: »Ein als Unfall kaschierter Selbstmord? Wozu das denn?«



»Doppelte Versicherungssumme bei Unfall. Reine Fürsorge. Man tut ja alles für seine Lieben«, sagte ich.



»Das ist doch Blödsinn!«, fuhr Berger auf. »Dillinger, Sie haben eine krankhafte Phantasie!«



»Ei forbibbsch! Wänn’s um dä Mäbbse gäht!«, sagte ich spöttisch.



Berger lief rot an. Er war ein Wendeimport aus Sachsen, der sich krampfhaft bemühte, hochdeutsch zu reden. Ein aussichtsloses Unterfangen. Er mochte es gar nicht, wenn man ihn damit hänselte.



Keller wiegte bedächtig den Kopf.



»Ko scho sei«, sagte er. »Älles scho do gwest.«



Er war auch nicht von hier. Aber als Schwabe von der Ostalb, sozusagen als landsmannschaftlicher Vetter, hatte er einen Bonus. Außerdem: Er konnte Hochdeutsch. Und sprach es auch meist.



Er wechselte wieder in die Amtssprache. »Wir können derzeit jedenfalls kein Verdachtsmoment ausschließen.«



Das Wort »Verdachtsmoment« hörte ich gerne. Es be­deutete, dass der Kommissar die Akte noch nicht geschlos­sen hatte.



»Was weiß man über den Tathergang?«, fragte ich.



»Vorerst gibt es noch keinen Tathergang, sondern nur einen Todesfall, dessen Ursache wir untersuchen«, belehrte er mich.



»Es war ein Unfall, nichts weiter«, sagte Berger.



»Das glaube ich vorerst mal noch nicht«, erwiderte ich.



»Und warum nicht?«, wollte Berger wissen.



»Sagt mir mein Gefühl.«



»Pah!« Berger plusterte seine Pausbäckchen auf. »Ge­fühl!«



»Mit dem Wort können Sie nichts anfangen, gell?«



Keller bot mir seine Thermoskanne an. Ich lehnte dan­kend ab. Wenn ich etwas hasse, dann ist es Kamillentee. Keine Ahnung, weshalb er den trank. Vielleicht half er bei der Ausnüchterung.



Keller konsultierte seine Notizen.



»Also zum Hergang. Gesehen oder gehört hat natür­lich niemand etwas. Die Nachbarn waren im Stall oder sonst wo beschäftigt. Ach ja, der Viehhändler war im Dorf, ein gewisser …« Er blätterte in seinen Unterlagen. »… ein gewisser Norbert Czichon. Der war übrigens auch bei Huber. Er hat ihn im Stall nicht gefunden, hat am Haus geläutet, aber keiner hat aufgemacht. Dann ist er wieder gegangen.«

 



»Sagt er.«



»Sagt er. Irgendwelche Zweifel?«



»Es kommt mir seltsam vor. Ich habe ja auch in der Scheune nachgeschaut, als ich Huber nirgends gefunden habe.«



Keller dachte nach. »Vielleicht hatte er es eilig. Vielleicht war es ihm nicht so wichtig. Er kommt ja regelmäßig vor­bei. Und er hatte keinen festen Termin mit Huber.«



»Wann war er bei Huber?«



»Nach seiner Aussage zwischen neun Uhr und halb zehn. Genauer weiß er’s nicht.«



»Da war Huber vermutlich schon tot. Hat den Vieh­händler jemand gesehen?«



»Im Dorf ja, bei Huber nein.«



»Was ist mit der Frau und dem Sohn?«



»Alle drei waren wie üblich im Stall. Von sechs bis etwa halb acht. Danach haben sie gemeinsam gefrühstückt. Wie jeden Morgen. Frau und Sohn haben sich umgezogen und sind gegen halb neun nach Schwäbisch Hall gefah­ren. Einkaufen. Huber ging nicht mit. Was er auf dem Hof vorhatte, wussten sie nicht. Sie haben ihn zuletzt gesehen, als er in die Scheune ging. Er wollte Heu hinunterwerfen. Sagen sie.«



»Wozu er aber nicht mehr kam.«



»Richtig. Auf dem Scheunenboden lag kein Heu.«



»Das grenzt den Todeszeitpunkt zumindest ein, wenn die Hubers um halb neun weggefahren sind.«



Keller schüttelte den Kopf.



»Seit dem Frühstück haben sie den Huber nicht mehr ge­sehen.«



Ich blieb hartnäckig.



»Andersherum: Es könnte gleich nach dem Frühstück passiert sein, weil er nicht mehr dazu kam, das Heu hinun­terzuwerfen.«



»Muss nicht so sein. Wer weiß, was er sonst noch getan hat?«



»Was ist mit einem Motiv?«



»Das einzige Motiv, das ich bisher sehe, haben Sie ins Spiel gebracht. Das mit der Lebensversicherung hat mich stutzig gemacht. Kommt es häufiger vor, dass die Ehefrau als Begünstigte gestrichen wird?«



Ich schüttelte den Kopf.



»Habe ich noch nie erlebt. Außer nach einer Scheidung.«



»Stand da bei den Hubers etwas an?«



»Keine Ahnung. Aber besonders mitgenommen haben Frau und Sohn auf mich nicht gewirkt.«



Ich erzählte von meinem kurzen Gespräch mit den so eigenartig gefassten Hinterbliebenen. Mein Eindruck deckte sich mit dem von Keller.



»Haben Sie die Hubers danach gefragt?«, wollte ich wissen.



Keller tat unschuldig: »Noch nicht.«



Ich merkte, worauf es hinauslief.



»Haben Sie sich im Dorf schon umgehört?«, fragte Kel­ler nun mich wie beiläufig.



Nun spannte es auch Berger.



»Chef, das ist aber nicht in Ordnung, dass der Dillinger sich da einmischt!«, protestierte er.



Keller und ich schauten uns an. Kellers Gesicht war un­durchdringlich, ich grinste.



»Rein professionell, Berger«, sagte ich. »Schließlich geht es um meine Versicherung.«



»Gudden Daach, de Härrn«, verabschiedete ich mich in meinem besten Sächsisch. Es war genauso grauenhaft wie Bergers Hochdeutsch.




***




Im Büro duftete es nach Räucherstäbchen. Sonja legte die Handflächen aneinander und verbeugte sich.



»Namaste«, sagte sie.



Meine Partnerin sah umwerfend aus wie immer. Ich hätte mich jeden Morgen neu in sie verlieben können. Mit ihren zweiunddreißig Jahren hatte sie auch genau das richtige Alter dazu. Sie war einfach zum Anbeißen. Ein geschmeidiger, sportlicher Körper. Außerdem war sie blitz­gescheit, ungeheuer tüchtig, ausnehmend hübsch und lei­der unbelehrbar lesbisch.



War vielleicht besser so fürs Betriebsklima.



Sonja war derzeit auf dem Indientrip. Das war so, seit sie im hiesigen »Indian Forum« eine Ayurveda-Behandlung ausprobiert und dabei ein nettes Mädchen kennengelernt hatte. Tatsächlich, das gibt es in Schwäbisch Hall, ein »Indian Forum«. Sogar mit echten Indern, Restaurant, Yoga, Ayurveda und diesem ganzen Zeugs. Wir sind halt weltläufig, wir Hohenloher.



Seitdem trug sie im Büro einen seidigen Hauch von Etwas. Türkisfarbene Pluderhosen, darüber eine Art ge­schlitzten Rock. Ein enges, kurzärmeliges Oberteil aus demselben Stoff, das den Bauch frei ließ, einen flachen, harten Bauch übrigens. Sie sah aus wie eine Tempeltän­zerin.



Es stand ihr gut.



Sie hatte schon die Zen-Phase hinter sich mit ausgiebi­gen Meditationen, einen Rückfall in die Hippie-Ära mit wallenden Gewändern und Zöpfchen im Haar und ebenso die vegane Periode, die mich allerdings zutiefst verstört hatte: Wie kann man von Gemüse allein glücklich werden?



Irgendwie war das alles hormongesteuert und hing mit ihren jeweiligen Partnerinnen zusammen.



Das war schon in Ordnung so. Nur hatte sie sich dies­mal die falsche Jahreszeit ausgesucht. Wir mussten die Hei­zung schon ganz schön hochdrehen. Hoffentlich legte sich dieser Fimmel wieder, bis der Winter kam.



Ich erzählte ihr von Huber. Sie hatte schon die kurze Notiz in der Zeitung gelesen, ohne zu wissen, dass es uns betraf. Natürlich war kein Name genannt worden.



Normalerweise hätte sich Sonja jetzt an den ganzen For­mularkrieg gemacht. Zuverlässig und schnell wie immer. Ich bat sie, damit noch zu warten.



»Da ist etwas faul. Es war vielleicht wirklich nur ein Unfall. Es könnte aber auch ein Mord gewesen sein«, sagte ich.



»Und wenn schon«, sagte Sonja. »Mord ist auch ein Unfall. Zahlen müssen wir so oder so, das weißt du ge­nau.«



»Nicht wenn der Begünstigte der Mörder ist.«



Sie sah mich überrascht an.



»Mal wieder auf dem Kriegspfad?« Ich sah ein wohl­bekanntes Glitzern in ihren grünen Augen. »Nun erzähl schon«, sagte sie.



Und ich erzählte, wie ich den Toten gefunden hatte, be­richtete von meinem Gespräch mit Keller und dem selt­samen Verhalten der beiden Hubers.



»Hast du sie allen Ernstes im Verdacht?«, fragte Sonja.



Ich zuckte mit den Achseln.



»Ich will einfach wissen, was passiert ist. Irgendwo müssen wir ja anfangen.«



»Was wissen wir über die Hubers?«, fragte Sonja.



Ich fuhr meinen Computer hoch und öffnete unsere in­terne und höchst geheime Datenbank, in der wir alle Fak­ten, vor allem aber Klatsch und Tratsch über bestehende und potenzielle Kunden sammeln.



Ich druckte den Datensatz in zwei Exemplaren aus und gab eines davon Sonja. Sie hatte mittlerweile einen Ayurveda-Tee aufgegossen. Er schmeckte furchtbar.




***




Fritz Huber war siebenundfünfzig Jahre alt geworden. Er stammte aus dem Dorf. Sozusagen alter Adel. Seine Vor­väter waren seit Urzeiten hier ansässig und hatten sich im Laufe der Zeit zu den größeren Bauern emporgearbeitet. Zwei jüngere Schwestern waren ausbezahlt worden. Die eine war, wie praktisch, mit einem Landwirtschaftsmecha­niker verheiratet, von der anderen wusste ich nichts.



Anita Huber war sechs Jahre jünger und die Tochter eines Kleinbauern aus dem Nachbardorf. Außer ein paar mageren Äckern hatte sie vermutlich nicht viel in die Ehe eingebracht.



Sie hatten für dörfliche Verhältnisse spät geheiratet, er mit zweiunddreißig, sie mit sechsundzwanzig, und bei der Hochzeit musste Anita un­übersehbar im sechsten Monat gewesen sein. Ihr Sohn jedenfalls kam drei Monate nach der Hochzeit zur Welt.



Das war keine Schande, und deshalb wurde auch kein Geheimnis daraus gemacht. Zu jenen Zeiten heiratete man aus genau diesem Grund oder weil auf einen Hof eben eine Bäuerin gehört. Möglichst eine, die was mitbrachte. Liebe stellte sich automatisch ein. Oder auch nicht.



Manchmal wurde die Zukünftige vermutlich auch auf ihre Gebärfähigkeit getestet. Schließlich braucht ein Hof Nachfolger. Und Arbeitskräfte.



Gerd, der Heiratsgrund, war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt. Dann musste es im Hause Huber dieses Jahr ja eine Sil­berhochzeit gegeben haben, fiel mir auf. Ich hätte gratulie­ren sollen.



Soweit ich es mitbekommen hatte, verstanden sich Vater und Sohn nicht besonders. Aber das war ja nun keine Sel­tenheit.



So viel also wussten wir. Mehr würde ich bestimmt von den Nachbarn erfahren.



Als Versicherungsvertreter ist man für seine Stamm­kunden auch so etwas wie ein Beichtvater. Nach dem Arzt. Und vor dem Pfarrer. Die Leute brauchen jemanden, dem sie von ihren Kümmernissen erzählen können. Und nach Hubers Todesstu