Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 99»

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Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-423-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Als sich der Sturm über den unergründlichen Tiefen des Pazifischen Ozeans erhob und die See in eine kochende dunkelgrüne Landschaft mit schäumenden Gipfeln, steilen Hängen und gähnenden Schluchten verwandelte, stand Philip Hasard Killigrew auf dem Achterdeck seiner Dreimastgaleone „Isabella VIII.“ und schaute zum wiederholten Mal zu Dan O’Flynn in den Großmars auf.

Der hatte sich längst auf der luftigen Plattform festgebunden, sonst wäre er von dem wild hin und her schwankenden Posten gefegt worden wie ein unnützes Bündel Lumpen. Der Wind heulte aus Südwesten heran und zerrte an der Segeltuchverkleidung, die den Großmars umspannte. Der Schimpanse Arwenack war längst auf Deck abgeentert, er hatte nicht den Nerv, hier oben einen heulenden Orkan durchzustehen.

Dan richtete sich kurz auf, klammerte sich mit beiden Händen fest und schrie nach unten: „Deck – verdammt! Ich kann nirgends Land entdekken!“

Der Seewolf hatte verstanden und antwortete, aber seine Stimme nahm sich nur schwach gegen das Sturmtosen aus. „Der Teufel soll dich holen, Dan!“

„Aye, aye, Sir!“

Nein, es gab keine Insel inmitten der brüllenden Urgewalten, einen Hort des Schutzes und der Zuversicht, in dessen Bucht sie sich verholen konnten. Hasard stand da und stieß eine Serie deftiger Flüche aus. Er hielt die Handleiste der Five-Rail fest umspannt, balancierte die tanzenden Decksbewegungen aus und verfolgte, wie seine Crew auf dem Hauptdeck die letzten Manntaue spannte.

Unerwartet hatte das Wetter gewechselt. Der Wind hatte geschralt und nicht mehr wie vorher aus Südosten geblasen, aber anfangs hatte das Ganze nur nach einem simplen Aufbrisen ausgesehen. Dann hatte sich jedoch eine schwarzblaue Wolkenwand auf die „Isabella“ und den schwarzen Segler zugeschoben, rasch und drohend, und gigantische Türme mit bizarren Formen gebildet.

Es war kalt geworden. Dieser Wind schien direkt aus den Regionen des ewigen Eises heranzuorgeln. Hasard spürte ein frostiges Prickeln auf seiner Rückenhaut, aber nicht wegen der Temperatur, sondern weil er sich dessen entsann, was er im Packeis erlebt hatte. Das Abenteuer lag noch nicht sehr lange zurück.

Er blickte zu Siri-Tongs schwarzem Viermaster hinüber. Auch sie hatte die Sturmbesegelung setzen lassen. Der „Eilige Drache“, sonst trotz seiner Größe ein schnelles, manövrierfähiges Schiff, taumelte wie betrunken durch die Fluten.

Ben Brighton hangelte an den Manntauen von der Kuhl aufs Achterdeck und brüllte noch auf dem Niedergang: „Es ist wie verhext! Kein Land in Sicht. Wir haben nur noch eine Chance.“

„Ja, Ben!“ rief Hasard. „Wir müssen diesen elenden Sturm abreiten.“

„Die Osterinsel und Sala-y-Gomez liegen auch bereits viel zu weit hinter uns.“

„Mehr als hundert Meilen!“ schrie der Seewolf gegen das Heulen und Brausen an. „Wir können nicht dorthin zurückkehren. Es wäre sinnlos, es überhaupt zu versuchen. Legt also alle Mann die Ohren an und paßt auf, daß sie euch nicht abgerissen werden.“

„Aye, Sir!“ rief Ben.

„Sir John, du Rabenaas!“ brüllte auf der Kuhl Profos Edwin Carberry. „Wo, zum Teufel, steckst du?“

„Achterdeck!“ schrie Big Old Shane. „Ich hab ihn im Schott verschwinden sehen, als auch Arwenack stiftenging!“

„Um so besser“, stieß Carberry grollend aus. „Sonst verlieren wir unser Viehzeug nämlich in dieser riesengroßen Scheiße.“ Er verstummte, denn ein Brecher rollte gegen die Bordwand der „Isabella“. Ein Rütteln lief durch den Schiffsleib, Sturzseen hieben auf das Oberdeck, und der Profos und einige andere Männer wurden von Gischt eingehüllt.

Der Sturm wütete und entwickelte sich. Das Unheil war steigerungsfähig. Es war Tag, aber der Himmel hatte sich schwarz wie die Nacht gefärbt, und die See war ein Höllenfluß, der sie geradewegs dem Leibhaftigen in den Rachen spülte.

„Odin galoppiert auf seinem achtbeinigen Roß!“ schrie Thorfin Njal, der Wikinger, an Bord des schwarzen Schiffes. „Geri und Freki, die Wölfe, heulen um die Wette, und die Raben Hugin und Munin begleiten sie als schwarze Boten des Todes!“

„Der Blitz soll deine verflixten Götter treffen!“ wetterte Juan.

„Wotan, der Herr über Blitz und Donner, wird dich vernichten“, prophezeite der Wikinger.

Siri-Tong stand neben den beiden und hielt einen Arm unter eine Nagelbank des Achterdecks gehakt, um Halt zu haben.

Sie ging nicht auf das Wortgefecht ein, sondern rief nur: „Himmel, wir werden die ‚Isabella‘ aus den Augen verlieren, wenn das so weitergeht. Thorfin, Juan, Boston-Mann – versuchen wir, den Kontakt zu Hasard zu halten.“ Sie sagte es und wußte dabei ganz genau, daß alle Bemühungen in dieser Richtung nichts fruchten würden. Schon jetzt war die „Isabella“ von einem Gischtschleier umgeben, torkelte in tintenschwarze Sphären hinein und war immer schwerer zu erkennen.

Desgleichen das schwarze Schiff. Sein Kampf gegen den Sturm fand auf einer Ebene statt, die nie die gleiche wie die der „Isabella“ war, ein rollender Tanz, ein ewiges Heben und Senken und Schlingern war das, in dem jeder für sich dastand.

Hasard stellte in diesem Augenblick ähnliche Überlegungen an wie Siri-Tong. Eine Barriere senkte sich zwischen sie, er war machtlos dagegen. Sie wurden auseinandergetrieben. Wer das Toben überstand, würde nach dem Bundesgenossen suchen, wer nicht, würde das nicht mehr nötig haben, denn die eine positive Seite ließ sich dem Tod abgewinnen: Wer über die düstere Schwelle ins Jenseits gesprungen war, brauchte sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die Probleme des Diesseits keine Sorgen mehr zu bereiten.

Den Pazifischen Ozean überqueren wollte der Seewolf, aber es schien eine Macht zu geben, die ihn immer wieder davon abhielt. Vor der Ankunft auf den Philippinen und in China hatte der liebe Gott mannigfache Widrigkeiten gesetzt: die Amazonashölle, Bahia, den Rio de la Plata, graue Giganten, Vulkaninseln, Eis und Verdammnis, die Osterinseln — und jetzt dies.

Dabei hatte es so gut angefangen. Nach den Abenteuern auf den Osterinseln hatten sie unter Ausnutzung des Südost-Passats westlichen Kurs genommen, waren also mit Backstagswinden und auf Steuerbordbug liegend dem fremden Kontinent entgegengesegelt.

Magellan, Drake – auf ihren Spuren bewegte sich der Seewolf. Er wußte nicht genau, wie es denen bei der Weltumseglung ergangen war, die Details waren ihm nicht bekannt geworden, aber sie hatten es lebend überstanden, während der Teufel, dem er so gern ins Gesicht spuckte und ein Ohr absegelte, ihn um jeden Preis vernichten zu wollen schien.

Das Schicksal war ihm nicht wohlgesonnen. Bewahrheiteten sich die düsteren Voraussagen der Roten Korsarin? Sie hatte ihn ja gewarnt, bis in das Land ihrer Ahnen vorzudringen, begleitete ihn jedoch, weil er durch nichts, aber auch gar nichts von seinem Vorhaben abzubringen war.

Nur durch den Tod.

Der Sturm brachte sie vom Westkurs ab und drückte sie nach Nordosten. Sie waren ihm ausgeliefert, weil es in diesen Breiten nicht ein einziges noch so winziges Eiland zu geben schien. Aber das war bei weitem nicht das Schlimmste.

Als der Sturm seinen vernichtenden Höhepunkt erreichte, kuschelten sich Arwenack und Sir John in einem der Achterdecksräume zusammen. Der Schimpanse hatte den Papagei in seine Vorderpfoten geschlossen. Es schien eine schützende Geste zu sein, aber er hatte genausoviel, wenn nicht noch mehr Angst als der karmesinrote Ara.

Arwenack brabbelte fast unausgesetzt vor sich hin und rollte die Augen.

Sir John zog den Kopf ein, wenn es gegen die Schiffswände donnerte und bis in die letzten Verbände knackte und knirschte. Seine Nakkenfedern waren gesträubt, und er stieß alle Flüche aus, die Ed Carberry ihm beigebracht hatte, beispielsweise „Himmelkreuzdonnerwetter“ oder „Schockschwerenot“ oder „Himmel, Arsch und Zwirn“.

Und als er die wüstesten Kraftausdrücke auf englisch von sich gegeben hatte, krächzte er die spanischen Verwünschungen hinaus. Arwenack nickte dazu, jammerte, brabbelte und keckerte, obwohl er nichts verstand. Tief in seinem Inneren jedoch war er mit dem Federtier einig darüber, daß dies eine gemeine Welt war, in der es keinen Platz für anständige Affen und Papageien gab. Er hätte das auch herausgebrüllt, wenn er einer Sprache mächtig gewesen wäre.

Die See hob die „Isabella“ hoch und ließ sie wieder fallen, daß Arwenack ganz schlecht im Magen wurde. Er kollerte quer durch den Raum, stieß sich den Kopf, heulte und ließ Sir John los. Sir John flatterte umher und rappelte wieder die englischen Flüche herunter, weil die spanischen aufgebraucht waren.

Arwenack wußte nicht mehr, wo oben und unten war. Er kauerte sich verzweifelt zusammen und nahm Sir John von neuem zwischen die Pfoten, als dieser zu ihm segelte und nach einem Unterschlupf suchte.

Es krachte und donnerte, die „Isabella“ schien auseinanderzubrechen.

„Ihr Rübenschweine!“ krähte Sir John. „Euch zieh ich die Haut in Streifen von euren …“

Weiter gelangte er mit diesem Carberry-Zitat nicht, denn die Galeone wurde von neuen, noch fürchterlicheren Stößen geschüttelt. Wieder schleuderte es die beiden Tiere durch den Raum. Der Weltuntergang schien dazusein, die Sintflut, und es gab keine rettende Arche Noah.

Arwenack und Sir John lebten sonst nicht in trauter Eintracht miteinander auf der „Isabella“. Im Gegenteil, der Affe war eifersüchtig auf den Papagei, Sir John schien ähnlich zu empfinden, und beide suchten immer nach Möglichkeiten, den lästigen Rivalen zu ärgern.

Nur in dieser Stunde größter Not schlossen sie Burgfrieden – und das war der Gradmesser für die Stärke und Ungeheuerlichkeit des Unglücks, das da über Schiff und Mannschaft hereingebrochen war.

Hasard hielt auf dem Achterdeck aus und bangte um Dan O’Flynn, der jeden Augenblick trotz der Leinen, die ihn hielten, aus dem Großmars gerissen werden konnte. Warum, zum Teufel, war Dan auch nicht abgeentert, als die Sturmstärke es noch zugelassen hatte?

Es war völlig sinnlos, diese Frage zu stellen. Dan war der beste Ausguck, den man sich denken konnte, er hatte seinen Posten halten wollen. Jetzt konnten seine Freunde nur noch beten, daß das Schicksal ihn vor einem grausamen Ende bewahrte.

Hasard fluchte und betete abwechselnd und hielt sich an der Five-Rail fest. Aber dann brach die Five-Rail, er stürzte von dem abschüssigen Achterdeck nach vorn aufs Quarterdeck und krachte schwer gegen das Ruderhaus. Er richtete sich auf und klammerte sich wieder fest – und das war sein Glück, denn eine Sekunde später wischte ein Brecher mit voller Wucht über Deck und riß alles mit, was nicht niet- und nagelfest war.

„Hasard!“ schrie Ben Brighton. Er stand bei Pete Ballie im Ruderhaus und hatte verfolgt, wie der Seewolf mit der splitternden Balustrade nach unten gesaust war. „Mein Gott – alles in Ordnung?“

„Soweit ja!“ brüllte Hasard zurück. „Was ist mit dem Ruder?“

„Noch hält es!“

„Gut so!“ schrie Hasard. „Haltet die Stellung!“

Er arbeitete sich am Ruderhaus entlang zum nächsten Manntau, hangelte daran zum Steuerbordniedergang und kroch auf Teufel komm ’raus auf die Kuhl hinunter. Er wußte, daß es lebensgefährlich war, aber er mußte nach Carberry und den anderen schauen.

Die Sturmsegel hingen in Fetzen von den Rahen. Die „Isabella“ war ein Spielball der Urgewalten geworden, von Stabilität konnte keine Rede sein – und doch, im Unglück hatte der Seewolf noch Glück, denn das Ruder hielt. Er hatte das Rad festzurren und achtern eine Trosse U-förmig ausbringen lassen, um dem Schiff wenigstens ein bißchen Halt in der verrückt gewordenen See zu verleihen – mehr konnte er weiß Gott nicht für die „Isabella“ tun.

Gischt fegte über die Kuhl und verzerrte die Konturen der Männer. Jemand brüllte, daß etwas ganz verdammt am Dampfen sei, und Hasard wußte nicht nur, was gemeint war, ihm war auch klar, daß es nur einen Mann mit einem solch gewaltigen Organ an Bord gab.

„Carberry!“ schrie er.

„Sir?“

„Blas den Dampf weg und komm zu mir ’rüber!“

Aus der Gischt tauchte die wuchtige Gestalt des Profos’ auf. Er kämpfte sich an den Manntauen auf seinen Kapitän zu und hörte nicht auf zu fluchen. Er rutschte aus, rappelte sich wieder auf und stand dann auf schwingenden, glitschigen Planken vor dem Seewolf.

„Sir – ich hab Angst, daß sich eine der Culverinen aus den Brooktauen lösen könnte“, stieß er hervor.

„Dann laß doch das Deck räumen, Ed!“ rief Hasard.

„Das habe ich getan …“

„Und warum, zum Teufel, stehst du hier noch ’rum?“

„Meine Pflicht, Sir!“ schrie Carberry.

Hasard schob sich noch ein Stück näher auf ihn zu. „Ed, willst du, daß dir eine Kanone über die Plattfüße rollt, Himmel noch mal? Mann, selbst wenn sich ein verdammtes Geschütz selbständig macht und durch das Schanzkleid fegt – ich pfeife darauf.“

„Jawohl, Sir …“

„Los, nichts wie weg hier!“ rief Hasard ihm zu. Er dirigierte ihn auf die Back zu.

Das Vorkastell war wie die Poop eine Bastion im Orkan, ein Wehrturm, der aus den Fluten aufragte und ein letztes Gefühl von Widerstandsfähigkeit und Sicherheit vermittelte. Der Seewolf erkannte Gestalten, die sich dort oben bewegten. Smoky, Al Conroy und Ferris Tukker. Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, stieß eine Verwünschung aus.

In diesem Augenblick begriff Hasard, daß oben etwas nicht in Ordnung war.

„Ferris, was ist los?“ rief er.

Aber ein Brecher bäumte sich an der Bordwand der „Isabella“ auf, die See rauschte über das Oberdeck, der Sturmwind riß Hasards Worte in Fetzen und trug sie in das schwarze Inferno hinaus.

Carberry fluchte auch, und im selben Moment sah Hasard den Fockmast wanken. Gleichzeitig knirschte es vernehmlich. Es war ein Geräusch, das sich peinigend in die Herzen der Männer grub. Sie kannten es, erlebten das nicht zum erstenmal.

„Der Fockmast!“ brüllte der Profos. „Er bricht!“

„Du merkst aber auch alles, Hölle und Teufel!“ schrie Smoky zurück.

„Ferris!“ rief der Seewolf. „Wir helfen dir!“

Tucker hatte weitere Taue angeschlagen, um den Fockmast zu halten, unter Einsatz seines Lebens. Smoky und Al assistierten ihm, so gut sie konnten. Alle drei hatten sich festgelascht, um nicht von Bord gerissen zu werden.

Hasard und Carberry waren auf der Back, banden sich ebenfalls an und klammerten sich mit an den Tauen fest, die den Fockmast vor der totalen Zerstörung bewahren sollten. Dann erschienen auch noch Big Old Shane, Matt Davies, Luke Morgan und Bob Grey, und andere Männer drängten von den Niedergängen aus nach. Mit vereinten Kräften trachteten sie, den Mast zu halten, aber es nutzte nichts.

Brecher von unsagbarer Macht rammten das Schiff und überspülten es, und wieder war da das fürchterliche Knacken und Knirschen. Ferris Tucker wetterte Mord und Bein, Carberry fiel mit ein, aber auch das hatte wenig Zweck.

Der Fockmast lehnte sich nach Backbord und kippte wie ein gefällter Baum.

„Hinlegen!“ brüllte Hasard. „In Deckung! Haltet euch fest!“

Der Mast hieb auf das Backbordschanzkleid nieder und zerdrückte es. Hasard konnte gerade noch Al Conroy packen und zu sich heranziehen, sonst wäre sein Waffenmeister unter dem Holz begraben worden.

Der Mast lag zu gut zwei Dritteln seiner Länge außenbords in Schaumseen und Sprühwasser, ging aber nicht völlig verloren, weil er an der Bruchstelle noch mit dem splittrigen Stummel verbunden war, der aus dem Vordeck aufragte. Die „Isabella“ krängte gefährlich nach Backbord, ihr Oberdeck war eine steile Rutschbahn, die die Männer in die tosende See zu werfen drohte. „Wir schlagen quer!“ rief Shane.

„Besorgt mir eine Axt!“ schrie Hasard.

Ferris Tucker hatte bereits seine Zimmermannsaxt gezückt und rückte auf den Maststummel zu. Big Old Shane zog den Tschakan, die türkische Wurfaxt, aus dem Gurt. Sie war ein Überbleibsel der Abenteuer im Mittelmeer und hatte Shane schon mehrfach gute Dienste geleistet.

Matt Davies hatte es geschafft, ins Vorschiff zu kriechen. Jetzt kehrte er robbend auf die Back zurück und händigte seinem Kapitän die Axt aus, die er hatte beschaffen können.

Hasard, Ferris und Shane hieben wie die Besessenen auf die Bruchstelle des Fockmastes ein, kappten die Wanten und Fallen und das gesamte laufende und stehende Gut. Sie vollbrachten akrobatische Leistungen, denn auf dem abschüssigen Deck konnte kein Mann mehr stehen – nur noch in seinem Haltetau hängen, liegen, kriechen.

Das Backbordschanzkleid der „Isabella“ schnitt unter und war nicht mehr zu sehen. Bedrohlich hatten sich der Groß- und Besanmast zur Seite geneigt. Jeden Augenblick konnte das geschehen, was Shane prophezeit hatte, sie waren nicht mehr weit davon entfernt.

Wenn die Galeone querschlug, gab es keine Rettung mehr. Selbst wenn der Seewolf dann noch die Boote zu Wasser bringen und bemannen konnte, waren die Überlebenschancen gleich Null.

Nein, er mußte den Ballast loswerden, um jeden Preis. Wütend hackte er mit der Axt auf den Maststummel ein. Zoll um Zoll barst das Holz. Der Mast ruckte, die „Isabella“ krängte noch weiter, Splitter wirbelten unter den Hieben der drei Männer.

Das Holz war hart und widerstandsfähig. Gute englische Eiche, die vor der Orkanstärke zwar hatte kapitulieren müssen, sich jetzt aber weigerte, endgültig der See geopfert zu werden. So erschien es den Männern jedenfalls. Sie kämpften gegen die Tücke des Objekts, gegen den drohenden Untergang.

Dann, endlich, verlor der Fockmast seinen letzten Halt zur „Isabella“. Knirschend löste er sich von dem Stumpf, rutschte beschleunigend über das demolierte Schanzkleid und verschwand im kochenden und brodelnden Wasser.

Für Sekunden krängte die „Isabella“ noch weiter nach Backbord. Bis der Mast nicht endgültig außenbords gerast war, bildete das Oberdeck eine beinahe vertikale Gleitfläche. Ausgerechnet in diesem Moment riß Ferris Tukkers Haltetau.

Er sauste in die Tiefe – dem Fockmast nach.

2.

Ein einziger Aufschrei gellte über Deck. Die Männer schickten sich an, ihrem rothaarigen Kameraden nachzuspringen, aber Hasards Ruf stoppte sie.

„Keiner rührt sich von Bord – keiner außer mir!“

Er schlug mit der Axt gegen sein Tau und durchtrennte es etwa zwei Handspannen von der Hüfte entfernt. Sofort glitt auch er die teuflische Rutschbahn hinab und jagte auf das Backbordschanzkleid zu. Die „Isabella“ richtete sich jedoch wieder auf, weil der Fockmast baden gegangen war, und diese Bewegung fing Hasards Schwung etwas ab.

Er landete mit den Füßen unten am Schanzkleid, stieß sich mit den Händen vom Deck ab, schwang hoch und hechtete über die Handleiste weg in die schäumende See. Er sah gerade noch Ferris Tucker untertauchen. Wenige Yards entfernt schwamm der Fockmast, er mutete wie eine riesengroße Vogelscheuche an, die mit ausgebreiteten Armen und Beinen hilflos im widrigen Element trieb.

Hasard streckte die Arme weit vor und tunkte kopfunter ein. Die Fluten rissen ihn sofort mit, sie schienen aus Tausenden von Strudeln zusammengefügt zu sein. Hasard riß die Augen auf, konnte aber nichts erkennen als tintenschwarze Finsternis. Er ruderte mit den Gliedmaßen gegen das Saugen und Wirbeln des Wassers an, richtete aber kaum etwas aus.

Dabei mußte er noch aufpassen, nicht mit dem Fockmast zu kollidieren. Prallte er von unten gegen das Ding, konnte es ihm glatt die Besinnung rauben.

Und Ferris Tucker? Himmel, dem konnte das gleiche passieren!

Hasard tauchte auf, schnappte Luft und schloß den Mund, als eine Woge ihn unterzuwühlen drohte. Ein gurgelnder Schub Wasser brandete gegen ihn an, er hätte es gallonenweise geschluckt, wenn er nicht sofort wieder den Mund geschlossen hätte.

Schreie wehten von der „Isabella“ herüber. Das Schiff war ein grauer Schatten im Sturm, angeschlagen, seinem Schicksal ausgeliefert. Die Crew war kaum zu erkennen, nur schwach gezeichnete Punkte bewegten sich am Schanzkleid hin und her, das waren die Köpfe der Männer. Die Unzulänglichkeit des Menschen zeigte sich in dieser Kraftprobe mit der Natur in aller Deutlichkeit.

Hasard dachte, die Männer schrien nur aus Sorge um ihn und Ferris Tukker, aber dann hörte er doch noch mehr heraus. Sie wollten ihn auf etwas hinweisen – und das konnte bei diesen Verhältnissen nur von Dan O’Flynn ausgehen. Dan, dieser Mordskerl! Er hielt sich nach wie vor im Großmars und schien durch die Gischt hindurch etwas entdeckt zu haben.

„Weiter nach achtern!“ brüllte Carberry.

Achtern – Hasard orientierte sich an der „Isabella“ und kämpfte sich in Richtung auf ihr Heck zu. Die Wogen zerrten an ihm, wollten ihn nicht, versuchten, ihn zu vernichten. Er stieg wie von einem Katapult befördert in einen der schäumenden Kämme auf, verharrte für eine Sekunde, vielleicht für zwei, und sah unter sich den Fockmast.

Die Welle riß ihn in die Tiefe, auf den Mast zu. Sie drohte ihn unterzubaggern und gegen das Holz zu werfen, aber Hasard tauchte. Er schwamm mit aller Kraft, so tief er konnte. In seinen Ohren war das Urbrüllen der Welt. Der Teufel schien hier unten näher zu sein als anderswo. Aber der Seewolf preßte die Zähne zusammen und dachte nur das eine: Fahr du selbst zur Hölle, du Satansbraten!

Die Fluten stießen ihn vor sich her. In seinen Lungen machte sich die Atemnot bemerkbar, er mußte wieder auftauchen. Er drehte sich um die Körperlängsachse und blickte nach oben. Etwas Schemengleiches schien über ihm dahinzuhuschen. Er ließ sich vom Auftrieb mitnehmen, schwang an die Oberfläche und pumpte wieder Luft in sich hinein.

Der Fockmast trieb keine fünf Yards hinter ihm.

Plötzlich sah er auch Ferris Tukker. Ferris befand sich in unmittelbarer Nähe des Mastes, Dan hatte also richtig beobachtet. Hasard drehte sich im Wasser, schwamm auf den Rothaarigen zu – und kriegte einen Schreck.

Ferris Tucker bewegte sich nicht. Wie tot trieb er in der See. Kein Zweifel, er war zu dicht an den Fockmast geraten und wahrscheinlich gegen die Vormarsrah geprallt. Die schweren Spiere mußten seinen Kopf getroffen haben. Er war ohnmächtig und schluckte Wasser.

Hasards Arme ruderten unablässig, er bewegte die Beine heftig auf und ab. Ungeachtet des Orgelns und Tobens, Kochens und Schäumens des Wassers hielt er auf Ferris zu. Er war bei ihm, als der Rotschopf schon unter der Oberfläche der See verschwand.

Hasard tauchte, griff Ferris von hinten unter die Arme und zog ihn mit sich hoch. Sie schossen hoch und drohten erneut unterzugehen. Hasard strampelte mit den Beinen, arbeitete sich auf den Fockmast zu und packte den ersten Halt, der sich bot.

So wurde der Mast, der sie beinahe alle ins Verderben gestürzt hätte und Ferris zum Verhängnis geworden war, jetzt ein Rettungsmittel. Anfeuernde Rufe tönten von der „Isabella“ herüber. Hasard hörte Carberrys, Ben Brightons und Dan O’Flynns Stimmen heraus.

Es wäre heller Wahnsinn gewesen, ein Boot zur Übernahme der beiden Männer abzufieren. Es wäre sofort gekentert.

Ben Brighton ließ deshalb beidrehen, soweit das im Orkan möglich war, und rief: „Werft Taue aus!“

Der Seewolf sah, wie die Taue flogen und ins Wasser klatschten. Er ließ den Mast wieder los, weil er sich zu weit von der „Isabella“ entfernte, nahm Ferris in Schlepp und schwamm rücklings auf sein Schiff zu.

Es wurde ein Unterfangen, das ihn beinah umbrachte. Er schluckte Wasser und spie es wieder aus, litt Atemnot und japste unter der Last des bewußtlosen Schiffszimmermanns. Ferris Tucker war ein wuchtiger Mann mit einem Kreuz „so breit wie ein Rahsegel“. Er drohte wie ein Bleigewicht in die Tiefe abzusacken und seinen Kapitän dabei mit zum Ersaufen zu bringen.

Aber plötzlich lag da ein Tampen in Griffnähe, und Hasard streckte die Hand danach aus. Er kriegte ihn zu fassen und krallte sich fest. Das Tau war wie ein Lebensnerv, der, einmal verloren, einmal durchtrennt, nicht wiedererlangt werden konnte.

„Aufhieven!“ brüllte Carberry. „Hievt an, ihr Himmelhunde, schuftet, daß die Schwarte kracht, oder ich zieh sie euch in Streifen ab! Jawohl, diesmal tu ich’s wirklich, das schwöre ich euch!“

Ein Ruck lief durch das Tau, und der Seewolf brauchte plötzlich nicht mehr zu kämpfen, um an der Wasseroberfläche zu bleiben. Die Männer zogen ihn, er glitt auf die „Isabella“ zu. Brecher überspülten ihn und Ferris Tucker, aber es kümmerte ihn nicht mehr. Hier hatte nur noch das eine Wert: so schnell wie möglich an Bord der Galeone zu gelangen.

Die Bordwand der „Isabella“ war eine tödliche Mauer, an der man zerschellen konnte. Ben Brighton ließ die beiden. Schiffbrüchigen zwar in Lee übernehmen, aber die Brecher rollten von allen Seiten gegen das Schiff an. Die Gefahr, sich die Knochen zu brechen, bestand also auch hier.

Hasard gab den Männern ein Zeichen, dann knüpfte er das Tau kurzerhand um Ferris’ Oberkörper fest. Er war froh, daß er es fertiggebracht hatte, lachte wild und bedeutete der Crew durch eine Gebärde, den rothaarigen Riesen hochzuziehen.

Ferris erhob sich wie ein Klotz aus den Fluten und baumelte über ihm. Unter Carberrys Hau-ruck-Rufen schwebte er ziemlich rasch hoch. Die „Isabella“ krängte nach Steuerbord, und er drohte hart gegen die Backbordseite zu schlagen, aber die Männer konnten die Bewegung im Tau auffangen und dämpfen. Ferris prallte zwar gegen die „Isabella“, wurde aber nicht verletzt. Hastig hievten die Männer ihn vollends hoch.

Hasard hielt alle viere von sich gestreckt und rauschte auf die Bordwand seines Schiffes zu. Er setzte auf, begann zu kriechen und enterte auf diese Weise tatsächlich allmählich auf. Er rutschte aus, strauchelte fast, fluchte, gab aber nicht auf.

Zwei Taue flogen, Ben Brighton hatte sie neu werfen lassen. Eins davon ergriff der Seewolf, als sich die „Isabella“ wieder auf die Backbordseite legte. Er klammerte sich fest, verlor den Kontakt zur Außenhaut, schwebte frei und drohte in die See hinabgestoßen zu werden.

Die Crew feuerte ihn wieder an, und er klomm an dem Tau hoch, daß selbst Arwenack darüber gestaunt hätte. Hände schoben sich ihm entgegen, packten sein Tau, holten es hoch, griffen auch nach ihm, hatten ihn endlich im Griff und zogen ihn über das Schanzkleid auf die Oberdecksplanken.

Sie banden ihn fest. Keine Sekunde zu früh, denn schon donnerte der nächste Brecher über Deck. Hasard setzte sich am Schanzkleid auf, hielt sich fest und blickte zu Ferris Tukker.

Shane und Ben Brighton hatten Ferris rasch an einer Nagelbank festgezurrt und hielten ihn noch zusätzlich fest. Die Gestalt des Rothaarigen war nach wie vor schlaff. Er regte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Es schien kein Leben mehr in ihm zu stecken.

Unter schwierigsten Bedingungen transportierten die Seewölfe Ferris Tukker unter Deck. Der Eile halber brachten sie ihn gleich ins Vorschiff, wo der Kutscher seinen Behandlungsraum eingerichtet hatte. Bevor sie Ferris auf einer Koje festbanden, beugte sich der Kutscher, der der Koch und Feldscher der „Isabella“ war, über ihn und lauschte an seiner Brust nach dem Herzschlag.

„Er lebt“, sagte er. „Ich kann das Herz nur ganz schwach hören, aber, Hölle und Teufel, unser Zimmermann scheint durch nichts kleinzukriegen zu sein.“

„Was machen wir mit ihm?“ sagte der Profos. „Wir können ihn doch nicht einfach so liegenlassen.“

„Wir müssen ihn wiederbeleben“, entgegnete Hasard. Er hielt sich an der Koje fest. Er stand noch ein bißchen wacklig auf den Beinen, und die wilden Schlingerbewegungen des Schiffes drohten ihn umzureißen. „Er muß opfern, was er bei dem unfreiwilligen Bad in sich ’reinschlingen mußte. Stimmt’s, Kutscher?“

„Stimmt, Sir.“

„Hab ich doch gesagt!“ rief Carberry. „Und jetzt laßt mich mal ’ran, ich – ehm – ich wollte sagen, bitte um die Erlaubnis, Tucker wiederbeleben zu dürfen, Sir.“

„Dann mal los, Ed“, sagte Hasard.

Carberry hatte eine ganz rüde Methode, so was zu regeln, aber der Seewolf war sicher, daß nur eine so konsequente „Behandlung“ den Mann schnell ins Bewußtsein zurückholen konnte.

Carberry legte sich den Rothaarigen bäuchlings übers Knie, was bei dem Tanzen und Rollen der „Isabella“ auch nicht gerade leicht war. Ferris reagierte, wie jeder andere es tut, wenn er ein fremdes Knie in der Magengrube hat: er opferte.

Mehrere Gallonen Seewasser sprudelten in den Raum und verliefen durch die Türritze in Richtung auf den Vordecksgang. Und dann, ja, dann konnten die Männer auch plötzlich wieder lachen, trotz aller Gefahren und trotz des Sturms.

Ein kleines, zappeliges Lebewesen schoß aus Ferris Tuckers Mundhöhle und landete auf den Planken. Es hüpfte, kam aber nicht vom Fleck.

„Ein Fisch“, stieß Carberry hervor. „Ich werd verrückt, Ferris hat einen Fisch mit Haut und Gräten gefuttert, bei lebendigem Leib. Mann, muß der einen Kohldampf gehabt haben!“

Sie lachten und bogen sich vor Vergnügen. Der Kutscher wollte sich den Fisch greifen, rutschte aber aus und stürzte. Er schlidderte quer durch die Kammer, bumste mit dem Kopf gegen die Tür und gab einen Wehlaut von sich.

Die Männer wollten sich ausschütten vor Lachen, und der Seewolf fiel mit ein, denn dieser ungestüme Heiterkeitsausbruch war gleichzeitig eine Möglichkeit, einen Ablaß für die aufgestauten Sorgen zu finden.

Der Kutscher drehte sich um, kroch zu dem Fisch und kriegte ihn jetzt doch zu fassen. Carberry schüttelte währenddessen Ferris Tucker wie einen Kartoffelsack, und der gab auch den letzten Rest aller Geheimnisse preis, die er in seinem Magen hütete.

Auf Hasards Befehl hin ließ der Profos den Schiffszimmermann dann rücklings auf die Planken plumpsen. Der Kutscher kniete sich hin und wollte mit den Wiederbelebungsversuchen anfangen, die er von Sir Anthony Abraham Freemont gelernt hatte, aber Ferris schlug plötzlich die Augen auf.

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Umfang:
110 S. 1 Illustration
ISBN:
9783954394234
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Rechteinhaber:
Bookwire
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