Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 507»

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Impressum

© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-915-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Roy Palmer

Auf dem Weg in die Hölle

Noch drei Strolche waren es – doch der Sensenmann stand bereit

Das Licht der frühen Sonne zeichnete die Schatten der Häuser auf die Kopfsteinpflaster der Gassen von Havanna. Eigentlich hätten die Ratten jetzt aus ihren Löchern kriechen können, doch Straßen und Plätze waren wie ausgestorben. Nirgends ließen sich die Plünderer und Galgenstricke blicken, um grölend und johlend den neuen Morgen zu begrüßen. Irgend etwas war noch in der Nacht dieses 13. Juli 1595 geschehen.

Stille lag über der Stadt. Der Frieden, den man so sehr herbeisehnte, schien eingetreten zu sein. Doch die Ruhe war geisterhaft, alles schien nur eine Täuschung zu sein. Konnte man dem Bild, das sich dem Auge darstellte, trauen? Die Zweifel waren angebracht. Es konnte sich um einen Trick, um eine mörderische Falle handeln.

Die Hauptpersonen des Romans:

Denaro – Ein junger Teniente, der Mut beweist und dabei eine erstaunliche Tatsache feststellt.

Maria – Das junge Mädchen gerät vom Regen in die Traufe, aber es ist klug genug, zu einer Finte zu greifen.

Arne von Manteuffel – Der deutsche Kaufherr erhält eine Einladung in die Residenz und empfängt ein Ehrengeschenk.

Carberry – Der Profos der „Isabella“ unternimmt eine Erkundung an Land und hat es mit zwei Galgenvögeln zu tun.

Sancho – Der Leibwächter des Kaschemmenwirts Bastida hat keine Freude an dem geraubten Goldrelief.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

1.

Einer der ersten, der die veränderte Lage in ihrem vollen Ausmaß registrierte, war der junge Teniente Denaro. Er versah seinen Morgendienst auf der Wehrmauer, die die Gouverneurs-Residenz umgab, und hielt mit seinen Männern Wache.

Keiner der Soldaten sprach ein Wort. Es herrschte Niedergeschlagenheit, aber auch trotzige Erbitterung. Zu lange schon dauerte der Belagerungszustand an. Zu groß waren die Opfer und Entbehrungen, Tote und Verletzte hatte es bei den Kämpfen in Havanna gegeben. Der Kommandant der Stadtgarde selbst, Don Luis Marcelo, lag verwundet in einem Raum der Residenz.

Was noch schlimmer wog: Munition und Proviant der im Palast Eingeschlossenen gingen zur Neige. Es gab nur noch wenig zu essen, und auch das Trinkwasser war knapp. Die Soldaten mußten mit Pulver und Kugeln sparen.

Lange konnten sie die Residenz nicht mehr halten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dann fiel diese letzte Bastion wie von selbst. Im Triumph würden die Aufrührer sie übernehmen – und jeden töten, der sich ihnen in den Weg stellte. Auch die Frauen und Kinder, die in der Residenz Unterschlupf gefunden hatten, würden von den Kerlen nicht verschont werden.

Gewiß, es gab noch ein anderes Bollwerk mitten in der Stadt, das bislang den Angriffen der Aufsässigen getrotzt hatte – das Stadtgefängnis. José Cámpora, der Direktor, hatte sich mit seinen fünfzehn Wächtern erfolgreich verteidigen können. Doch offenbar waren inzwischen auch ihm die Hände gebunden. Er konnte nicht wagen, einen Stoßtrupp zur Residenz zu schicken. Was war solch ein Trupp im Vergleich zu den hundert Schlagetots, die an der Plaza ihre Stellungen errichtet hatten?

All dies ging Denaro durch den Kopf, als er im blassen Morgenlicht auf die Plaza schaute. Dort regte sich nichts. Es herrschte absolute Ruhe.

Auch die Soldaten hoben jetzt die Köpfe. Sie standen bei Denaro auf der Wehrmauer oder den Wehrtürmen, die Musketen im Anschlag. Ihre Mienen wurden verblüfft und verdutzt. Lauernd spähten sie durch die Schießscharten.

„Teniente“, sagte einer der Soldaten. „Da ist gähnende Leere.“

„Abwarten“, erwiderte Denaro. „Es könnte eine Falle sein.“

„Um uns herauszulocken?“

„Oder um ein Zielschießen auf uns zu veranstalten“, erwiderte der junge Teniente.

Rasch zog der Soldat den Kopf wieder ein. Die Aussicht, eine Kugel einzufangen, war alles andere als heiter. Aber – wenn die Kerle da draußen auf die Männer der Garde und der Miliz feuern wollten, mußten doch zumindest die Läufe ihrer Musketen und Tromblons zu sehen sein. Und die Drehbassen? Warum wurden die nicht mehr auf die Mauer der Residenz gerichtet?

„Señor Teniente“, sagte ein anderer Soldat, ein in Ehren ergrauter Sargento. „Da ist wirklich keiner der Hundesöhne mehr zu sehen. Ich glaube nicht, daß es ein Trick ist.“

„Das wird sich herausstellen“, meinte Denaro etwas unsicher.

„Die Bastarde haben es doch gar nicht nötig, uns etwas vorzugaukeln“, sagte der Sargento.

„Sie sind unberechenbar.“

„Sie wissen ohnehin, daß wir uns nicht mehr lange halten können“, erwiderte der Sargento.

„Vielleicht ist ihre Geduld am Ende.“

„Kaum“, sagte der Sargento. „Sie haben doch alles, was ihr Herz begehrt.“ Seine Miene wurde grimmig. „Reichlich zu futtern, jede Menge zu saufen und sogar Weiber. Was will der Mensch noch mehr? Je länger sich die Belagerung für sie hinzieht, desto besser. Es ist ein Riesenfest. Bastida läßt sich nicht lumpen.“

„Nun ja“, sagte Denaro. „Aber was ist Ihrer Meinung nach passiert, Sargento?“

„Ich weiß nur eines“, entgegnete der ältere Soldat. „Seit ein Uhr nachts ist nicht mehr geschossen worden. Keine einzige Kugel mehr gegen die Residenz. Das geht nicht mit rechten Dingen zu.“

„Oder es gehört zu ihrer neuesten Taktik“, meinte Denaro.

Der Sargento schüttelte den Kopf. „Auch das glaube ich nicht. Sie sind gestört worden.“

„Von wem?“ fragte der Teniente überrascht.

Der Sargento hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Das weiß der Himmel. Aber es ist etwas geschehen.“

Tatsache war, daß die Bewacher der Residenz nicht einen Mann der Belagerer entdeckten – so sehr sie auch die Augen aufsperrten und Ausschau hielten. Die Belagerer, die sich bisher hinter den Barrikaden und sonstigen provisorischen Verschanzungen verborgen hatten, schienen sich buchstäblich in Luft aufgelöst zu haben.

„Sargento“, sagte Denaro. „Unterrichten Sie den Primer Teniente.“

„Sofort, Señor Teniente“, erwiderte der Sargento. Er salutierte und verschwand.

Wenig später kehrte der Sargento in Begleitung des Primer Teniente Echeverria zurück. Echeverria war der Stellvertreter des Kommandanten Marcelo, der ja wegen seiner Verletzungen nicht einsatzfähig war. Mit raschen Schritten hielt der Primer Teniente auf Denaro zu, verharrte neben ihm und sah durch eine Schießscharte auf die Plaza.

Echeverria preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Eine Weile beobachtete er, dann drehte er sich zu Denaro und dem Sargento um.

„Sollten die Kerle abgezogen sein?“ fragte er. Er schien jedoch Zweifel an seinen eigenen Worten zu haben.

„Oder es ist eine Falle“, sagte der junge Teniente.

Echeverria rieb sich nachdenklich das Kinn. Wie sollte er sich verhalten? Die Lage gab weder Anlaß zu Jubel noch zu übersteigerten Hoffnungen. Möglich war immerhin, daß die Belagerer die Eingeschlossenen zu einer Unvorsichtigkeit verleiten wollten – daß sie nur darauf warteten, die Verzweifelten zu überrumpeln. Wenn Echeverria jetzt beispielsweise das Residenztor in der Wehrmauer öffnete, um auf der Plaza nachzusehen, was wirklich los war, konnte es passieren, daß die Gegner aus Verstecken das Feuer auf die Soldaten eröffneten. Eine Entscheidung fiel Echeverria nicht leicht. Er war zur Untätigkeit verdammt – ihm waren die Hände gebunden.

In diesem Moment näherte sich vorsichtig ein Zivilist von der Innenseite der Wehrmauer. Langsam stieg er die Steintreppe hoch. Echeverria hätte fast aufgestöhnt. Don Alfonso Cortés y Menacha – der hatte ihm noch gefehlt!

Don Alfonso Cortés y Menacha hatte sich zum Sprecher und Führer der Bürger ernannt. Immer wieder wies er auf die Gefahr hin, in der die Zivilisten schwebten. Er erhielt regen Zuspruch von Bürgern wie Don Felipe Ravena und anderen Männern, die mehr an ihr privates Eigentum als an die Residenz und die Belange der Stadtgarde und der Miliz dachten.

Sie betrachteten die ganze Situation von einer völlig anderen Warte. Dieser Umstand hatte schon des öfteren zu Reibereien geführt, seit die Bürger und die Soldaten gezwungen waren, sich von der Residenz aus gegen die Belagerer zu verteidigen. Echeverria hatte auch seinem Vorgesetzten, Capitán Don Luis Marcelo, darüber Bericht erstattet, als dieser ihn zu sprechen verlangt hatte. Der Kommandant der Garde hatte erklärt, daß er diese Entwicklung geahnt hatte.

Tatsache war: Die Belagerten waren in zwei Parteien gespalten. Die eine Partei bestand aus Miliz und Stadtgarde unter der Führung des Primer Teniente Echeverria. Diese Partei hatte die persönliche Verteidigung der Residenz übernommen und war entschlossen, den Palast auch mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Übermacht der Feinde zu halten. Die Soldaten wußten nur zu genau, daß sie keine Gnade zu erwarten hatten. Daher waren sie entschlossen, ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.

Die andere Partei, das waren die Bürger der Stadt mit ihren Familien. Frauen und Kinder stellten das Hauptproblem in dieser prekären, bedrohlichen Lage dar. Ein Beschluß des Bürgerrats hatte bei Beginn der eigentlichen Unruhen in Havanna dazu geführt, daß die Familien aus ihren Wohnhäusern evakuiert worden waren. Auf diese Weise hatte man sie vor den Plünderern schützen wollen. Im Ansatz war dieser Gedanke richtig. Keiner hatte ahnen können, daß de Escobedo und Bastida, die Rädelsführer, mit aller Macht danach trachten würden, die Residenz zu erobern.

Dennoch erschien es inzwischen logisch: Alonzo de Escobedo hatte nur den einen Wunsch – wieder Gouverneur von Kuba zu werden. Seit er das Gefängnis verlassen hatte, war er darauf aus, Macht und Gewalt wieder an sich zu reißen. Seinerzeit war er der Nachfolger von Don Antonio de Quintanilla gewesen.

De Escobedo hatte sein Amt mißbraucht und sich unter anderem an der Bucht bei Batabanó an de Quintanillas geheimen Schatz bereichern wollen. Das hatte ihm praktisch das Genick gebrochen. Er war gefaßt und eingesperrt worden und wartete seither im Gefängnis auf seinen Prozeß. Inzwischen aber war auch de Campos, der kommissarische Gouverneur, nicht mehr am Leben, und das wiederum hatte zum Chaos geführt. Der Mob von Havanna hatte die Chance wahrgenommen. Terror und Gewalt regierten die Stunde.

Don Alfonso Cortés y Menacha blieb auf der drittobersten Steinstufe stehen und blickte aus kleinen, wäßrigen Augen zu den Soldaten.

„Echeverria“, sagte er etwas außer Atem. „Was geht hier vor?“

„Für Sie immer noch Señor Echeverria oder Primer Teniente“, erwiderte Echeverria kühl.

„Ja, schon gut. Señor Teniente, was ist hier los?“

„Werfen Sie doch mal einen Blick durch eine der Schießscharten“, forderte Echeverria den Mann spöttisch auf.

„Warum wird nicht mehr geschossen?“ fauchte Don Alfonso.

„Vielleicht ist den Gegnern die Munition ausgegangen.“

„Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten über Sie beschweren!“ stieß Don Alfonso zornbebend hervor. „Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden?“

„Gehen Sie doch zu Capitán Marcelo“, sagte der Primer Teniente.

„Der will mich nicht empfangen“, sagte Don Alfonso wütend.

„Bedenken Sie, daß er schwer verletzt ist“, sagte der Sargento.

Don Alfonso warf dem älteren Soldaten einen schiefen Blick zu.

„Der Capitán will nicht mit mir reden“, sagte er. „Aber auch das wird noch seine Folgen haben. Ich lasse das nicht so durchgehen.“ Er war ein behäbiger, zum Fettansatz neigender Mensch – alles andere als ein Kämpfer, eher ein Hasenfuß. Ein Magistratsbeamter. Welche Heldentaten konnte man von dem schon erwarten?

Erbitterte Auseinandersetzungen hatte es zwischen Echeverria und Don Alfonso gegeben. Don Alfonso hätte, wäre es nach ihm gegangen, längst kapituliert. Sollte der Pöbel doch die Residenz besetzen – was kümmerte es ihn?

Die Hauptsache war, daß er mit heiler Haut davonkam. Strich man die Flagge, so dachte er, durfte man die Hoffnung hegen, zu überleben. Aber es war eine feige Hoffnung, und die Chancen, von den Galgenstricken und Lumpenkerlen verschont zu werden, waren gleich Null.

Echeverria hingegen lehnte als Offizier eine Kapitulation gegenüber den Strolchen und Mördern ab. Er wurde hierin von seinem Kommandanten voll unterstützt. Don Luis Marcelo war inzwischen endlich wieder bei Bewußtsein und nahm trotz der Proteste seines Arztes regen Anteil an dem Geschehen.

Immer wieder ließ der Capitán Echeverria zu sich rufen. Der Primer Teniente hatte ihm Bericht zu erstatten. Marcelo fällte daraufhin seine Entscheidungen. Sein Beschluß war immer wieder derselbe: durchhalten. Auf keinen Fall durften die Belagerer die Residenz besetzen.

Marcelo war zwar über den Berg, aber noch lange nicht gesund und ans Krankenbett gefesselt. Keinen Schritt vermochte der Kommandant zu tun. So konnte er nicht aktiv am Geschehen teilnehmen, sondern mußte seine Befehle vom Lager aus erteilen.

Don Alfonso Cortés y Menacha hatte insgeheim gehofft, daß Marcelo – den er unter anderem einen „versoffenen Hurenbock“ nannte – sozusagen über den Jordan gehen würde. Der Kommandant taugte in den Augen des Magistratsbeamten nicht viel. Ein anderer Mann an Marcelos Stelle wäre besser gewesen – vielleicht auch besser zu beeinflussen als dieses „sture Hund“, dem der Alkohol den Geist verblendet zu haben schien.

Laut Gesetz der Krone war Marcelo schließlich zur Zeit ranghöchster Offizier im Standort Havanna und damit kommissarischer Gouverneur – wenn kein anderer Mann von der Krone für dieses Amt bestimmt wurde und kein höherer Offizier – wie Generalkapitän de Campos, der gefallen war – für den Posten zur Verfügung stand.

Marcelo also war derzeit Gouverneur von Havanna und Kuba. Don Alfonsos Hoffnungen erwiesen sich als Illusionen. Marcelo hatte überlebt und befand sich auf dem Weg der langsamen, aber sicheren Besserung. Was Don Alfonso und den meisten anderen Bürgern nicht aufging: Marcelo hatte sich verändert.

Der Tod, den er so nah vor Augen gehabt hatte, hatte ihn stark beeinflußt, und auch die neue, verantwortungsvolle Aufgabe veränderte seinen Charakter. Gewiß, er war dem Wein und den Frauen verfallen. Aber in lichten Momenten war Marcelo eben doch ganz Soldat und Offizier.

Capitán Don Luis Marcelo fühlte sich jetzt gefordert. Im übrigen hatte er eine gleichsam mörderische Wut auf die Strolche und Galgenvögel, denen ein erheblicher Anteil Gardisten und Miliz zum Opfer gefallen war – ganz abgesehen von seiner eigenen Verwundung. Er wartete nur darauf, etwas gegen die Belagerer unternehmen zu können.

Echeverria ließ die Drohungen und Beschimpfungen des Don Alfonso Cortés y Menacha über sich ergehen. Dann suchte er seinen Kommandanten auf. Don Alfonso schlich indes zu einer der Schießscharten und vollbrachte die Heldentat auf die Plaza zu spähen.

„Da ist keiner mehr“, sagte er verdutzt. „Sie sind alle verschwunden.“

„Das haben wir auch schon festgestellt“, entgegnete der ältere Sargento ruhig. „Aber die große Frage ist, aus welchem Grund sich die Kerle zurückgezogen haben.“

Während der Magistratsbeamte die Zivilisten über die Neuigkeiten unterrichtete und mit ihnen darüber diskutierte, was wohl vorgefallen sein mochte, setzte Echeverria Don Luis Marcelo die neue Situation auseinander.

Zusammenfassend sagte er zum Schluß: „Alles deutet, vorbehaltlich einer möglichen Falle, darauf hin, daß die Strolche aus unbekannten Gründen die Belagerung aufgegeben haben.“

Marcelo überlegte nicht lange.

„Gut“, erwiderte er. „Wir werden herausfinden, warum das so ist. Schicken Sie sofort einen Stoßtrupp los. Er soll die Lage erkunden. Wählen Sie die Männer selbst aus.“

„Ich schlage den Teniente Denaro als Führer des Trupps vor, Capitán“, sagte Echeverria.

„Einverstanden“, entgegnete Marcelo. „Ein guter, gewissenhafter Mann. Auch ich halte ihn für geeignet, das Unternehmen zu führen. Wegtreten.“

Echeverria salutierte und verließ den Krankenraum. Sofort begab er sich wieder zu seinen Männern. Nach allem Dafürhalten war Marcelos Entscheidung richtig. Die Eingeschlossenen mußten wissen, was draußen vorging. Dies festzustellen, gab es nur einen Weg – nachschauen. Sollte der Stoßtrupp angegriffen werden, mußten die Soldaten hinter der Wehrmauer und auf den Wehrtürmen ihnen Feuerschutz geben, auch wenn dabei die letzten Kugeln und das letzte Pulver drauf gingen.

2.

Unbehelligt schlich zur selben Stunde eine zerlumpte Gestalt durch die Stadt – Jussuf in der Verkleidung des gammligen Streuners José. Er hatte keine Beobachter zu fürchten. Der Mob war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Nur am Stadtgefängnis hatte Jussuf aufpassen müssen. Von dort aus wurde geschossen. Wer die Nase zu weit vorstreckte, kriegte eine Kugel verpaßt.

Cámpora, der Gefängnisdirektor, war eben ein knarscher Kerl. Wie hart und kompromißlos er durchgriff, hatte er gerade wieder bewiesen. Zwei Tote baumelten an der hohen Pinie, die vor dem Gefängnis ihre mächtigen Äste ausstreckte: Alonzo de Escobedo und Gonzalo Bastida. Die beiden Rädelsführer hatten ihre letzten Schandtaten vollbracht. Niemals hätten sie damit gerechnet, daß ihnen irgend jemand in den Rücken fiel. Das war ihr Fehler gewesen.

Jean Ribault und der Trupp des Bundes der Korsaren von den Schiffen „Isabella“, „Golden Hen“ und „Le Griffon“ hatten als erstes in der Hafenkaschemme aufgeräumt. Danach hatten sie sich de Escobedo geholt, der sein Hauptquartier an der Plaza der Residenz aufgeschlagen hatte. Schließlich hatten sie die beiden Kerle an Cámpora übergeben, der seinerseits nicht lange gefackelt hatte.

Cámpora hatte de Escobedo und Bastida nach dem Standrecht abgeurteilt. Tod durch Erhängen. Das Urteil war unverzüglich vollstreckt worden. Jetzt hingen die Kerle dort am Strick – als Abschreckung und Mahnung für alle, deren Weg am Gefängnis vorbeiführte.

Daß es de Escobedo und den Dicken erwischt hatte, mußte sich herumgesprochen haben. Die Gassen des Hafenviertels waren wie leergefegt. Rette sich, wer kann – die Ratten verließen das sinkende Schiff. Es war keiner mehr da, der sie führte und befehligte. So handelten sie wieder nach der alten Schnapphahndevise: zusammenraffen, was es zu raffen gibt, und abhauen.

Als Jussuf nach seiner Morgenrunde in die Faktorei zurückkehrte, war es heller Tag. Isabella servierte ihm ein heißes Getränk. Arne von Manteuffel und Jörgen Bruhn, die ein wenig geruht hatten, erschienen ebenfalls und ließen sich bei Jussuf am Tisch nieder.

„Na, du Nachtschwärmer“, sagte Arne lächelnd. „Nun erzähle mal.“

„Es scheint alles vorzüglich zu klappen“, begann Jussuf. „Überall herrscht Ruhe. Die Galgenstricke sind weg. Sie scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben. Oder der Scheitan hat sie gefressen.“

„Schön wär’s“, sagte Jörgen. „Wie sieht es denn an der Plaza aus?“

„Nichts rührt sich.“

„Und die Leute in der Residenz?“ fragte Isabella.

„Die scheinen sich mit Entscheidungen sehr schwer zu tun“, erwiderte Jussuf seufzend. „Jedenfalls haben sie bis jetzt nichts unternommen. Na, was nicht ist, kann ja noch werden.“

„Das meine ich auch“, sagte Arne. „Vielleicht ergreift ja auch José Cámpora, der Gefängnisdirektor, als erster die Initiative.“

Jussuf leerte schlürfend seine Tasse. Er verdrehte ein wenig die Augen und erklärte: „Es ist ein feiner Anblick, die beiden Halunken da hängen zu sehen. Ich finde, sie baumeln ganz hervorragend an der Pinie, und es dürfte sich empfehlen, sie noch eine ganze Weile dort hängen zu lassen.“

„Wie grausam du sprichst“, sagte Isabella.

„Ich habe meine Gründe dafür“, entgegnete Jussuf ernst. „Was diese beiden Kerle angerichtet haben, läßt sich mit Worten kaum beschreiben. Sie haben noch Glück gehabt, daß man sie gleich aufgehängt und nicht noch gepiesackt hat.“

„Wir haben jedenfalls unsere Pflicht und Schuldigkeit getan“, sagte Arne. „Den Rest überlassen wir jetzt unseren lieben Freunden, den Dons. Irgendwas werden sie sich schon einfallen lassen.“

„Was ist denn aus deinen neuen Freunden geworden?“ fragte Jörgen beiläufig.

„Ach“, erwiderte Jussuf. „Die sind weg.“

„Die beiden Diebe und die beiden Mädchen?“ erkundigte sich Isabella.

„Richtig“, sagte Jussuf. „Sie haben ja von Anfang an vorgehabt, Havanna den Rücken zu kehren. Cuchillo hatte sie gezwungen, zu bleiben. Aber an den Gewalttaten sind sie nicht beteiligt gewesen, das kann ich bezeugen. Osvaldo und El Sordo sind ehrliche Diebe. Juanita hat Haare auf den Zähnen, aber im Grunde ihres Herzens ist sie auch kein schlechter Mensch. Und diese Maria, das Mädchen – na, sie ist natürlich froh, daß sie ihrem Dienstherrn Don Felipe entwischt ist.“

„Don Felipe wer?“ fragte Isabella.

„Don Felipe Ravena.“

„Ein wohlhabender Kaufmann“, sagte Arne. „Sein Haus steht am Rand der Stadt.“

„So ist es“, versetzte Jussuf grimmig. „Und dort hatte er das arme Kind in eine Art Käfig im Keller gesperrt.“

„Warum denn?“ stieß Isabella entsetzt hervor.

„Sie wollte ihm nicht zu Willen sein“, entgegnete Jussuf. Er räusperte sich verlegen. „Mehr kann ich darüber nicht sagen.“

„Da gibt’s nichts zu vertuschen“, sagte Jörgen. „Wir haben schon begriffen. Don Felipe wollte sich an dem Mädchen vergreifen. Dagegen hat sie sich gewehrt. Zur Belohnung hat er sie gepeinigt.“

„So ist die Welt“, sagte Jussuf düster. „Grausam und herzlos. Aber Allah wird dafür sorgen, daß dieser Lumpenhund seine gerechte Strafe empfängt. Er ist jetzt in der Residenz. Ich wünsche ihm, daß er über einen Stein stolpert und sich auf dem Pflaster das Genick bricht.“

„Von der Sorte gibt es viele“, sagte Jörgen.

„Eben“, sagte Isabella aufgebracht. „Sie haben keine Achtung vor dem weiblichen Geschlecht. Sie würden unsereins am liebsten wie Sklavinnen halten.“

„Es müßte so manches geändert werden in Havanna“, sagte Arne. „Aber warten wir ab, wie sich die Lage jetzt entwickelt. Von José Cámpora werden wir sicherlich noch hören. Vielleicht auch von Marcelo, der ja kommissarischer Gouverneur ist.“

„Es soll ihm wieder etwas besser gehen“, erklärte Jussuf.

„Gut, dann gibt es wenigstens jemanden, der die Soldaten befehligt“, sagte Arne.

„Aber Marcelo ist ein Trunkenbold“, gab Jörgen zu bedenken.

Arne lächelte. „Ich nehme mit Sicherheit an, daß er zur Zeit nüchtern ist. Das wird seine Entscheidungen wesentlich beeinflussen. Und laßt euch nicht zu Vorurteilen verleiten. Vielleicht haben wir von diesem Mann doch Positives zu erwarten.“

„Möglich ist alles“, sagte Jussuf. „Aber die Hauptsache ist, daß wieder Frieden einkehrt.“

Diese Hoffnung hegten alle – auch die Männer der vier Schiffe des Bundes der Korsaren. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, Jean Ribault, Edmond Bayeux und Old Donegal Daniel O’Flynn waren mit der „Isabella IX“, der „Golden Hen“, der „Le Griffon II.“ und der „Empress of Sea II.“ noch in der Nacht aus Havanna verschwunden. Niemand sollte die Schiffe sehen – sie hätten Anlaß zu Verdachtsmomenten verschiedener Art geben können.

Immerhin war die „Isabella“ ein zu auffallendes Schiff, und die „Le Griffon II.“ war einmal unter dem Namen „Chubasco“ gesegelt und in Fort St. Augustine stationiert gewesen. Der Seewolf hatte es vorgezogen, mit dem kleinen Verband eine Bucht westlich von Havanna anzusteuern, die man von früheren Unternehmungen her noch kannte.

Dort lagen die Segler jetzt vor Anker. Erst, wenn Arne seinem Vetter die Nachricht überbrachte, daß sich in Havanna alles normalisiert hatte, konnten die Schiffe zum Stützpunkt des Bundes auf Great Abaco zurückkehren.

So gab es sowohl für die vier Bewohner der Faktorei als auch für die Männer an Bord der Schiffe vorläufig nur das eine zu tun. Sie mußten ausharren und abwarten, was der Tag an Ereignissen brachte.

Osvaldo und El Sordo, die beiden „ehrlichen“ Diebe, führten das von ihnen in Havanna requirierte Fortbewegungsmittel eigenhändig durch den Dschungel südlich der Stadt. Auf dem Bock des zweirädrigen Karrens saßen Juanita, die Schwarzhaarige, und das Mädchen Maria. Maria hielt die Zügel in der Hand. Der Karren quietschte und knarrte etwas. Burrito, das Maultier, gab schnaubende Protestlaute von sich.

Schon nach der ersten Meile auf dem Weg nach Süden hatte Burrito gestreikt. Der Anblick der grünen Blätterwand schien ihm nicht zu gefallen. Er war einfach stehengeblieben, wie es sich für ein ordentliches Grautier gehörte. Nichts hatte ihn zum Weitergehen bewegen können, weder Flüche noch Tritte noch Peitschenhiebe.

Gewalt war im Falle eines Dickschädels wie Burrito sowieso nicht angebracht. Maria hatte dem Vierbeiner gut zugeredet. Das half ein bißchen. Zögernd trottete Burrito dem Urwald entgegen. Schließlich hielt er wieder an.

Maria redete mit Engelszungen auf ihn ein, Juanita versprach ihm die herrlichsten Leckerbissen. Osvaldo und El Sordo, der Taubstumme, zerrten ein wenig am Geschirr – und weiter ging’s. So folgten sie dem Verlauf eines Pfades, der tief durch den Regenwald führte.

Juanita begann zu schimpfen. „Also, wenn es in diesem Zuckeltempo weitergeht, sind wir in einem Monat noch nicht in Batabanó. Oder wir kommen nie an.“

„Du mußt mehr Geduld mit Burrito haben“, sagte Maria. „Er ist ein guter Bursche, aber er mag nicht, wenn man ihn anschreit oder beschimpft.“

„Ein störrisches Biest“, sagte die Hure verächtlich. „Sollen wir ihm vielleicht auch noch Zucker zu fressen geben?“

„Ja, ein Pferd wäre besser gewesen“, brummte Osvaldo.

El Sordo, der seinem Kumpan wie üblich die Worte von den Lippen ablas, nickte zustimmend. Mit Burrito hatten sie keinen sonderlich guten Griff getan.

Maria war anderer Meinung.

„Ihr seid nicht gerecht“, sagte sie. „Burrito ist genügsam. Er frißt lange nicht so viel wie ein Pferd.“

„Er bringt uns aber um den Verstand“, sagte die Schwarzhaarige. „Hast du Lust, die Reise auf diese Weise fortzusetzen? Himmel, wir sind ja langsamer als eine Schnecke.“

Maria erwiderte: „Im Dschungel geht’s nun mal nicht schneller.“

„Da magst du auch wieder recht haben.“

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100 S. 1 Illustration
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9783954399154
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