Seewölfe - Piraten der Weltmeere 419

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 419
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Impressum

© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-827-0

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Roy Palmer

Todesschatten

Der Duellgegner ist kein Ehrenmann – er schießt hinterrücks

Es war der Plan der Roten Korsarin gewesen, sich Sir John Killigrew und seiner Bande hüllenlos und als badende Sirene vorzustellen – ein guter Plan, und er hatte geklappt. Weibliche List siegte über zügellose Männer, die meinten, eine „Indianerin“ sei Freiwild für sie. Die Kerle waren wie eine Meute hechelnder Köter an Land gestürmt, um über die nackte Frau herzufallen. Nur war dieses begehrenswerte Wild flüchtig und verschwand wie ein Geist im Dschungel hinter dem Lagunensee. Dafür tauchten hartgesichtige Männer auf, die gleich zur Sache kamen, mit den Fäusten, versteht sich. Und diese Fäuste lösten in den hitzigen Köpfen der Kerle aufplatzende Sternchen aus – da verflogen die Träume von einem Schäferstündchen sehr schnell …

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Die Hauptpersonen des Romans:

Sir John Killigrew – sein Traum, ein reicher Mann zu sein, ist nur von kurzer Dauer. Seitdem spuckt er Gift und Galle.

Sir Andrew Clifford – der erlauchte Earl zeigt sich als Feigling und handelt als solcher.

Sir Henry of Battingham – läßt wieder einmal Männer auspeitschen und erfreut sich an ihrem Wehgeschrei.

Philip Hasard Killigrew – fordert zwei Schurken zum Zweikampf heraus und vergißt dabei, daß sie keine Ehre haben.

Siri-Tong – die Rote Korsarin deckt den Rückzug der „Isabella“ und zeigt den Engländern die Zähne.

1.

„Wir sind umzingelt!“ zischte Speckled Red. „Jeder Fluchtversuch ist sinnlos!“

„Warte ab“, murmelte Louis Lamare. „Noch ist nicht alles verloren.“

„Sie werden uns töten.“

„Wir kämpfen bis zum letzten Tropfen Blut.“

„Mit zwei alten Musketen, ein paar Unzen Pulver und einem lächerlichen Dutzend Kugeln?“ Speckled Red schüttelte den Kopf. „Wahnsinn. Es wäre der reine Selbstmord. Wir sollten uns lieber ergeben.“

„Du weißt, was sie dann unseren Frauen antun“, flüsterte Lamare. „Und die Kinder? Hölle, ich mag gar nicht dran denken. Wir haben nur eine Chance: Wir müssen uns verstecken.“

„Sie werden alles absuchen.“

„Wir kennen die Insel besser als sie.“

„Das nutzt uns wenig“, sagte Red.

„Ja, und wenn du nicht deinen Mund hältst, haben sie uns hier oben gleich entdeckt“, raunte Lamare und warf wieder einen Blick durch den Kieker.

Sie hockten auf einer gigantischen Sumpfzypresse, einem der höchsten Bäume der kleinen Insel der Grand Cays. Als Aussichtsplatz war sie geradezu ideal, denn man konnte von hier aus nahezu alle Uferstreifen und Buchten überblicken, auch den Lagunensee, dessen Wasserfläche wie geschliffenes Glas durch das Dickicht schimmerte.

Im Morgengrauen hatten die beiden Männer den Dreimaster entdeckt, der in der Nordbucht ankerte. Aber ihnen waren auch die beiden großen, drohenden Schiffe nicht entgangen, die in der Bucht der Nachbarinsel lagen. Und sie hatten die Boote nahen sehen, deren Mannschaften sich anschickten, zu landen. Alles deutete auf eine Invasion von Piraten hin, und nichts schien sich der tödlichen Gefahr entziehen zu können.

Noch waren Red und Lamare im Schutz der großen, lappigen Blätter auf ihrer Zypresse sicher. Aber wie lange würde das noch dauern? Gleich würden die abenteuerlichen Gestalten aus den Booten springen und durch das Dickicht streifen, und es war, wie Red bereits prophezeit hatte: Nichts konnte ihrer Aufmerksamkeit entgehen.

Sie würden töten, vergewaltigen, plündern und brandschatzen, und auch die Tatsache, daß es hier kaum etwas zu holen gab, würde sie nicht zurückhalten.

Red und Lamare begannen zu schwitzen. Außer ihren Musketen und der wenigen Munition hatten sie nur noch Messer, sonst keine anderen Waffen. Gegen die Übermacht, die sich ihnen da näherte, konnten sie nichts ausrichten. Wenn sie kämpften, wurde alles nur noch schlimmer. Die Kerle würden über sie herfallen und in Stücke hauen.

Plötzlich griff Lamare nach Reds Unterarm.

„Hol’s der Henker“, flüsterte er, ohne das Rohr sinken zu lassen. „Da ist ja auch eine Frau dabei – und was für eine!“

„Gib her!“ zischte Red. Er mußte seinem Freund den Kieker jedoch fast gewaltsam entreißen. Dann spähte er hindurch – und um ein Haar hätte er einen Pfiff der Verwunderung und des Staunens ausgestoßen.

Die Frau war nackt, eine schwarzhaarige, exotisch wirkende Schönheit. Sie badete in dem Lagunensee und benahm sich völlig unbekümmert. Red konnte seinen Blick kaum von ihr lösen.

„Ein rassiges Weib, was?“ murmelte Lamare. „Und wer hätte das gedacht! Kaum ist sie gelandet, fängt sie an, herumzuplanschen. Warum tut sie das? Um den Kerlen zu imponieren?“

„Um sie zu reizen“, erwiderte Red.

„Dann fallen sie gleich über sie her.“

„Und wir ziehen uns zurück?“

„Nein, warte noch“, raunte Lamare ihm zu. „Laß mich noch mal hinschauen.“

Sie beobachteten die Frau abwechselnd. Die schien jetzt völlig allein zu sein, ihre Begleiter hatten sich in den Uferverhau zurückgezogen. Doch was dies zu bedeuten hatte, ging Red und Lamare immer noch nicht auf.

Was die Bewertung der Situation betraf, da gingen sie nach wie vor von einer falschen Voraussetzung aus – daß nämlich die Besatzungen der drei Schiffe zusammengehörten und eine einzige Meute bildeten.

Sie wußten nicht, daß es sich um die Dreimastkaravelle „Lady Anne“ unter dem Kommando von Sir John Killigrew sowie um die „Isabella IX.“ von Philip Hasard Killigrew und die „Caribian Queen“ von Siri-Tong handelte – und daß es die Rote Korsarin war, die zwecks Täuschung in dem Lagunensee herumhüpfte.

Red und Lamare hatten lediglich die englische Flagge auf der „Lady Anne“ erkannt – und eine Flagge mit gekreuzten Säbeln an Bord der „Isabella“ und des Zweideckers. Aber was bedeutete das? Die weiße Flagge mit dem roten Georgskreuz war nicht dazu angetan, in Red auch nur einen Anflug von Vertrauen zu erwecken, obgleich er aus England stammte.

Er wußte, daß die meisten Schnapphähne der Karibik unter falscher Flagge segelten, und ein Stück weißes Tuch mit einem Muster darauf war noch lange kein Beweis für Echtheit. Folglich war gut beraten, wer sich mißtrauisch verhielt.

Für Männer wie Red und Lamare verhieß das Auftauchen von Schiffen immer Verdruß, nie die Aussicht auf ein freundschaftliches Zusammentreffen mit biederen Fahrensleuten. Die waren in Gebieten wie diesen außerordentlich selten.

Lamare war wieder mit dem Ausschau halten an der Reihe. Er betrachtete die Frau und deren wippende Brüste, und unwillkürlich gab er einen leisen Seufzer von sich.

„Laß das nur Onda nicht hören“, flüsterte Red.

Lamare grinste schwach. „Sie würde nicht eifersüchtig sein. Sie ist nicht so schön wie das Weib, aber auch nicht so wild.“

„Hast du eine Erklärung für das Ganze?“

„Die Schwarzhaarige ist die Anführerin“, erwiderte Lamare leise. „Sie hat den Teufel im Leib, und wenn sie uns entdeckt und erwischt, zieht sie uns eigenhändig das Fell vom Leib, das kannst du mir glauben.“

„Laß uns abhauen“, raunte Red. „Wir haben genug gesehen.“

„Nur noch einen Augenblick.“

„Denk an Onda, Tampa und die Kinder.“

„Ich denke an sie“, flüsterte Lamare und hielt seinen Blick auch weiterhin auf Siri-Tong gerichtet.

Speckled Red und Louis Lamare hatten sich vor fünf bis sechs Jahren entschlossen, nicht mehr aus der Karibik in ihre Heimat zurückzukehren. Sie hatten beide Indianerinnen vom Stamm der Aruaks geheiratet und zogen mit ihnen von einer Insel zur anderen. Sie führten ein friedliches Leben und ernährten sich vom Fischfang, der Jagd und dem Verkauf von geflochtenen Körben, die sie in den Häfen anzubieten pflegten.

Es war ein bescheidenes, aber friedvolles Dasein. Bisher waren sie noch nie mit Freibeutern aneinandergeraten, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie Gefahren mieden und Auseinandersetzungen aus dem Wege gingen.

Daß sich die beiden Männer nicht der Piraterie verschrieben hatten, wie es die meisten anderen Glücksritter und Abenteurer taten, die von einem freien Leben in der Neuen Welt träumten, hatte seine Gründe. Mit Mord und Raub hatten sie nichts im Sinn. Sie waren Herumtreiber gewesen, aber keine Schlagetots und Beutelschneider.

Speckled Red war in Harwich zur Welt gekommen. Sein Vater war ein Trunkenbold gewesen, seine Mutter hatte die Familie mit Schneiderarbeit über Wasser gehalten. Beide waren früh gestorben, und Red hatte ein paar Jahre im Waisenhaus zugebracht. Seinen richtigen Nachnamen kannte er angeblich selbst nicht mehr.

 

Wer ihm den Beinamen gegeben hatte, war ebensowenig bekannt wie der Grund dafür, doch es fragte ihn auch niemand danach. Jeder, der ihn kannte, nannte ihn einfach nur Speckled Red, als sei es eine Selbstverständlichkeit.

Im Jahre 1570 hatte Red das Waisenhaus verlassen. Damals war er zehn Jahre alt gewesen und hatte sich quer durch England gebettelt, bis er im Hafen von Bristol Arbeit gefunden hatte. Mit zwölf geriet er als Moses an Bord einer Galeone, mit fünfzehn hatte er die Nord- und Ostsee sowie den Atlantik befahren und einmal Schiffbruch erlitten.

Er wurde geschlagen und kujoniert und lernte alle Härten der Seefahrt kennen. Eins der Schiffe, auf dem er als junger Seemann diente, wurde von Piraten überfallen, und nie würde Red vergessen, welch entsetzliches Massaker diese Kerle angerichtet hatten.

Nur wie durch ein Wunder entging er einem schrecklichen Ende, wurde auch von den Haien verschmäht, wie er gern berichtete, und später von einem Sklavenfänger aufgefischt, in Ketten gelegt, verkauft und gedemütigt.

Speckled Red gelangte auf seinen Irrfahrten bis in den Orient und nach China, erkrankte an der Ruhr und der Malaria, und hatte doch wieder Glück. Noch jedesmal hatte er überlebt, und fast schien es so, als habe er einen Schutzheiligen, der ihn vor dem Schlimmsten behütete.

Aber Red wußte auch, daß er das Schicksal nicht herausfordern durfte. Er wollte ein halbwegs redliches Leben führen und sich irgendwann vielleicht an einem Plätzchen, das ihm gefiel, als Siedler niederlassen. Das waren seine Pläne, und er hatte in Louis Lamare einen Freund und Partner gefunden, der diese Ansichten und Ziele mit ihm teilte.

Lamare stammte von der Insel Korsika. Seine Mutter war bei einem Überfall sardischer Küstenwölfe getötet worden. Sein Vater hatte den Verlust nie verwunden und war früh gestorben, im Alter von dreißig Jahren.

Lamare hatte vier Geschwister gehabt. Zwei Brüder und eine Schwester waren von der Schwindsucht dahingerafft worden. Nordafrikanische Piraten hatten seine zweite Schwester entführt, er hatte nie wieder etwas von ihr gehört. Wie Red hatte sich auch Lamare früh durchschlagen müssen und das Leben nur von seinen Schattenseiten kennengelernt.

Auf Fischerbooten und Küstenseglern hatte Lamare sein Dasein gefristet, bis er in Marseille auf einem größeren Schiff anheuerte und das Mittelmeer verließ. Er lernte die halbe Welt kennen, ehe er nach Jamaica gelangte und dort durch einen Zufall auf Speckled Red stieß. Sofort waren sie dicke Freunde geworden.

Gemeinsam schafften sie sich eine Schaluppe an und verdienten sich ihr Brot als Fischer. Ein Jahr lang ging es gut, dann sank die Schaluppe in einem Sturm, und sie wurden von den Aruaks aufgefischt, die ihnen das Leben retteten und sie wieder aufpäppelten. Eine kleine Insel südlich von Kuba war für Monate ihr Zufluchtsort, und hier verliebten sie sich in Tampa und Onda, mit denen sie sich bald nach dem Ritual der Indianer trauen ließen.

Red und Tampa hatten zwei Kinder, Lamare und Onda eine kleine Tochter. Lamare dachte in diesem Augenblick an seine kleine Familie und wollte sich nun endlich von dem Anblick der rassigen Frau losreißen, von der Sumpfzypresse klettern und zu der Lichtung zurückkehren, wo ihre Hütten standen und sie ihre Boote verborgen hatten – da geschah es.

Red und Lamare verfolgten, wie die nackte Frau davonlief, weil sich eine Meute Kerle von der Dreimast-Karavelle auf sie stürzen wollte. Plötzlich war sie im Dickicht verschwunden. Die Kerle verfolgten sie – nach Reds Schätzungen waren es gut zwei Dutzend –, aber aus dem Verhau waren Kampfgeräusche zu vernehmen. Es setzte Hiebe. Das entsetzte Keuchen, das Fluchen und Schnaufen der Männer war deutlich zu hören.

„Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr“, sagte Red verdutzt. „Was hat das zu bedeuten? Hauen die sich um das Weib?“

„Das glaube ich nicht“, entgegnete Lamare. Er hatte sich halb umgewandt und warf einen Blick auf die in der Bucht ankernde Dreimast-Karavelle. Dort pirschten sich von Norden her zwei Boote heran, aber die vier Männer, die an Bord der Karavelle geblieben waren, schienen davon nichts zu bemerken. Sie starrten sich die Augen aus dem Kopf und schienen noch nicht richtig zu begreifen, was am Lagunensee vor sich ging.

„Mann“, murmelte Red, der sich ebenfalls umdrehte. „Die entern ja!“

„Und sie räumen die vier Kerle ab“, sagte Lamare. „Weißt du was? Jetzt geht mir ein Licht auf. Das sind zwei feindliche Banden. Die gehören nicht zusammen. Die haben sich ausgerechnet unsere feine Insel ausgesucht, um sich totzuschlagen.“

Red stieß einen grimmigen Laut aus. „Uns soll’s recht sein. Solange sie sich gegenseitig abmurksen, sind wir ziemlich sicher. Los, sagen wir jetzt endlich den Frauen Bescheid. Wir warten die weitere Entwicklung ab und verholen uns, wenn die Gelegenheit günstig ist.“ Sie glitten am Stamm der Sumpfzypresse hinunter, lautlos und gewandt, tauchten im Inseldschungel unter und arbeiteten sich auf geheimen Pfaden auf ihr Lager zu. Sie ahnten nicht, was sich weiterhin ereignen würde, aber es sollte noch ein heißer, bewegter 22. August 1594 werden.

Ed Carberry hob die Arme etwas an und bewegte die Finger, als wolle er jemanden die Luft abdrehen. Die Knöchel knackten laut, und er stieß einen saftigen Fluch aus.

„So ein Mist“, sagte er. „Da war wirklich nicht viel zu tun. Wie wär’s, wenn wir an Land gehen und dort ein bißchen mithelfen?“

Hasard hob lauschend den Kopf. Die Kampfgeräusche, die vom Lagunensee herüberdrangen, waren verstummt.

„Da scheint auch bereits alles gelaufen zu sein“, sagte er. „Das war ein schnelles Aufräumen.“ Er blickte auf Sir John Killigrew und die drei anderen Kerle, die lang ausgestreckt zu ihren Füßen auf den Planken des Hauptdecks der „Lady Anne“ lagen. Fragt sich nur, was jetzt mit ihnen geschieht, dachte er.

„Ich bin ein bißchen enttäuscht“, sagte der Profos. Dann beugte er sich über Sir John. „He, vielleicht wird er gleich wieder mobil und stürzt sich auf uns?“

„Mach dir keine Hoffnungen, Ed“, sagte Dan O’Flynn. „Sie sind bewußtlos, alle vier, und wachen so schnell auch nicht wieder auf.“

„Wir sollten sie gleich zu den Haien ins Wasser befördern“, sagte Carberry mit grimmigem Gesicht. „Da gehören sie nämlich hin. Also, auf was warten wir noch?“

„Auf genaue Anweisungen“, sagte Don Juan de Alcazar. „Unser Kapitän ist Hasard. Er bestimmt, was geschieht.“

Die beiden Enterkommandos hatten sich um Hasard, den Profos und Don Juan versammelt, und alle warteten auf neue Befehle.

Hasard sah seine Männer der Reihe nach an und sagte: „Zu den Haien schicken wir sie natürlich nicht. Ich weiß, daß es euch allen in den Fingern juckt. Mir übrigens auch. Aber das darf jetzt nicht ausschlaggebend sein. Lassen wir uns nicht zu voreiligen Taten verleiten. Dan, du pullst mit deinen Männern zu den Schiffen zurück. Sie können jetzt hierher, in die Bucht, verholen.“

„Aye, Sir“, sagte Dan. Er drehte sich zu seinen Leuten um und gab ihnen einen Wink. Sie enterten in ihre Jolle ab, das Boot löste sich von der „Lady Anne“ und glitt zur Nachbarinsel hinüber.

Ben Brighton und die anderen, die an Bord der „Isabella“ und der „Caribian Queen“ zurückgeblieben waren, hatten die Vorgänge an Bord der „Lady Anne“ durch ihre Kieker verfolgt, aber sie wußten noch nicht, ob sich Siri-Tongs Plan hatte verwirklichen lassen, wie sie sich das vorgestellt hatte. Gespannt warteten sie auf Nachrichten.

Über den genauen Verlauf des Handgemenges am Lagunensee konnten auch Dan O’Flynn und seine Begleiter noch keine Auskunft geben, aber die Stille, die sich jetzt ausbreitete, schien der Beweis dafür zu sein, daß alles geklappt hatte.

Hasard enterte das Achterdeck der „Lady Anne“ und blickte sich um. Das Schiff befand sich in keinem sehr sauberen Zustand – typisch für die Bande, die darauf hauste, von Sir John über Simon Llewellyn und Thomas Lionel bis hin zu O’Leary und den anderen Kerlen.

Erst hatten sie hoch auf See ein wüstes Zechgelage veranstaltet, und dann hatten sie sich eingebildet, sie könnten auf einer der vielen kleinen Inseln der Cays landen und eine wilde Hetzjagd auf Indianerinnen veranstalten. Das war nun vereitelt worden.

Sie hatten allesamt Brummschädel, und das Erwachen nach der durchzechten Nacht war hart. Sie hatten sich in eine Falle locken lassen – und jetzt mußten sie teuer bezahlen.

Was war der Preis, wie das Urteil, das er, Hasard, über sie verhängen würde? Er wußte es noch nicht. Er wußte nur, daß diese Kerle schlimmer waren als der übelste Haufen von Spaniern – und daß sie seine Ehre befleckt und ihn zutiefst beleidigt hatten. Dafür würden sie büßen – Sir John und Sir Andrew Clifford, der Earl of Cumberland, an erster Stelle.

Die „Isabella“ und die „Caribian Queen“ hatten sich in Bewegung gesetzt, Dans Jolle befand sich jetzt an Bord der „Isabella“. Hasard beobachtete, wie sie die kurze Distanz überbrückten und sich anschickten, in die Nordbucht der Insel einzulaufen. Dann sah er zum Ufer der Bucht und versuchte, irgendwo eine Regung im Mangrovendickicht zu erkennen.

Tatsächlich teilten sich kurz darauf die Blätter, und die Rote Korsarin – nunmehr wieder angekleidet – erschien am Strand. Sie lachte und hob die Hand.

„Wir haben es geschafft!“ rief sie.

„Habt ihr sie?“ schrie der Seewolf zurück. „Alle?“

„Fünfundzwanzig Mann!“ erwiderte sie. „Und wie sieht es bei euch aus?“

„Sir John und drei Mann!“ rief Hasard.

„Dann scheinen wir die Schweinebande ja vollzählig beisammen zu haben!“ sagte Jean Ribault, der in diesem Moment aus dem Dickicht trat.

Er zerrte einen der Gefangenen hinter sich her – es war O’Leary –, fesselte ihn an den Stamm eines Mangrovenbaumes und bedeutete den nun nach und nach erscheinenden Männern, seinem Beispiel zu folgen.

Siri-Tong stand am Strand und blickte zu den Schiffen. Die „Isabella“ und die „Caribian Queen“ segelten in die Bucht. Rufe und Pfiffe wurden laut, und einer der Männer – Sam Roskill – brüllte: „Arwenack!“

„Ar-we-nack!“ schrien die Männer im Chor.

Die Segel wurden aufgegeit, die Schiffe drehten bei, und die Anker rauschten an ihren Trossen aus.

Die Rote Korsarin sah zu Hasard, der immer noch auf dem Achterdeck der „Lady Anne“ stand. Ihre Blicke schienen sich zu kreuzen und ineinander zu verfangen. Beide dachten sie an das, was hinter ihnen lag, auch an das Ende der Black Queen, Caligulas und Pablos, des Kreolen, des letzten Getreuen der Schwarzen.

Kaum war ein Feind besiegt, tauchte der nächste auf – und dieses Mal kam er aus England. Das war wie ein Dolchstoß, besonders für Hasard. Mit allem hatte er gerechnet, nur damit nicht. Hörte das denn nie auf – würde die Bedrohung ewig andauern?

Nicht zu vergessen war auch Don Antonio de Quintanilla, der dicke Gouverneur von Havanna. In ihm hatte der Bund der Korsaren immer noch einen Feind, den er nicht unterschätzen durfte. Höllisch gefährlich war der Kerl.

Da er jetzt als einziger Gegner die Lage der Schlangen-Insel kannte, war früher oder später damit zu rechnen, daß er dieses Wissen auf verbrecherische Weise ausnutzte, wie er es bereits getan hatte. Eine Schlacht um die Schlangen-Insel war gescheitert, wie aber würde die nächste ausfallen?

Unter diesem Aspekt war Hasards Plan, einen neuen Schlupfwinkel für den Bund der Korsaren zu suchen und zumindest als Ausweichstelle zu verwenden, völlig richtig. Für die Sicherheit der Schlangen-Insel, von Coral Island und all ihrer Bewohner konnte nicht genug getan werden. Das war jetzt vorrangig, aber natürlich hatten Hasard, Siri-Tong und Ribault trotzdem versucht, die spanische Galeone „Santa Cruz“ aufzubringen. Dabei waren sie an Sir John und seine „Lady Anne“ geraten – und an die vier englischen Kriegsgaleonen natürlich, mit denen Sir John anfangs im Verband gesegelt war.

Hasard brach seine Überlegungen jäh ab. Auf dem Hauptdeck der „Lady Anne“ entstand leichte Unruhe. Carberry stieß wieder einen seiner Flüche aus, aber er wurde durch eine andere Stimme übertönt.

Jemand brüllte aus vollem Halse: „Ihr dreckigen Bastarde! Hurensöhne! Laßt mich los!“

Es war Sir John Killigrew. Er hatte eben das Bewußtsein wiedererlangt und versuchte jetzt, sich von den Planken aufzurappeln, was jedoch von Carberry, Don Juan de Alcazar und den anderen verhindert wurde. Der Alte war außer sich vor Wut und überhäufte sie mit den übelsten und lästerlichsten Verwünschungen. Er wollte sich losreißen. Aber Caberry versetzte ihm einen Hieb vor die Brust, der ihn rückwärts bis zur Luke beförderte.

 

Sir John stolperte über den Süllrand und setzte sich auf die Gräting. Jemand lachte höhnisch – Big Old Shane, der von drüben alles beobachtet hatte.

Sir John fluchte wieder, hob die rechte Hand und ballte sie zur Faust: „Ihr Hurenböcke! Lumpenpack! Mein Fluch soll euch vernichten! An der Pest sollt ihr verrecken! An den Blattern!“

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