Seewölfe - Piraten der Weltmeere 294

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 294
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Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-691-7

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Stoker drehte plötzlich durch.

Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, sich gegen die Übermacht von Soldaten aufzulehnen, die seine Kameraden und ihn auf dem winzigen quadratischen Platz von Concarneau umstellt hatten. Es war glatter Selbstmord und widersprach jeder Vernunft, jetzt etwas zu unternehmen. Dennoch spielte Stoker mit einemmal nicht mehr mit. Etwas schien in seinem Geist auszuhaken.

Als ihm zwei der insgesamt achtzig Gegner auf das Kommando des Stadtkommandanten Douglas hin Fesseln anlegen wollten, duckte er sich unversehens und brach zur Seite aus.

Philip Hasard Killigrew, dem Seewolf, nützte es nichts mehr, daß er einen warnenden Laut ausstieß und Stoker durch eine Gebärde aufzuhalten versuchte. Auch Jerry Reeves, der Kapitän der „Fidelity“, vermochte nichts mehr zu tun – es war schon geschehen, Stoker entzog sich seinen Bewachern und versuchte, in eine der angrenzenden Gassen zu fliehen.

Stoker war der Decksälteste der „Fidelity“. Viele Männer, die ihm zum erstenmal begegneten, täuschten sich in ihm und schätzten ihn falsch ein, denn seine Gestalt war gedrungen, seine Arme lang, seine Hände groß und grob und seine Stirn flach und gefurcht. Mit anderen Worten: Seinem Aussehen nach hatte er etwas Affenartiges an sich. Big Old Shane hatte aus diesem Grund auch schon mal behauptet, Stoker sähe Arwenack, dem Schimpansen, ähnlicher als einem richtigen Menschen.

In Wirklichkeit aber gehörte Stoker zu den besten Leuten der Reeves-Crew. Er war keineswegs dumm und einfältig. Er stand in jedem Sturm und in jedem Gefecht seinen Mann, und er war allen ein guter Kamerad, was er nicht zuletzt auch durch sein Verhalten nach dem Zerwürfnis mit Easton Terry bewiesen hatte.

In diesen dramatischen Augenblicken nun, als die Soldaten bereits ihre Musketen hochrissen und auf ihn anlegten, handelte Stoker rein instinktiv und war darauf aus, wenigstens bis zu den Piers von Concarneau zu gelangen, um den Männern an Bord der „Hornet“, der „Fidelity“ und des Schwarzen Seglers etwas zurufen zu können. Irgend jemand mußte sie warnen, sonst erfuhren sie nie, in welche Falle der Seewolf und seine elf Begleiter geraten waren.

Hasard und die anderen waren bereits gefesselt, sie konnten nichts mehr unternehmen. Sie alle hätten durchaus die Verwegenheit gehabt, sich vor die Soldaten zu stellen und sie am Schießen zu hindern, doch sie waren zwischen den Pferden der Gegner eingekeilt und konnten sich nicht vom Fleck rühren.

„Stoker!“ rief Hasard. „Aufpassen!“

Douglas fuhr zu ihm herum und hob drohend die Faust. „Schweig, du Galgenstrick, oder ich stopfe dir eigenhändig das Maul!“

„Wir sprechen uns noch ausführlich“, knurrte der Seewolf, und der Blick, den er dem Stadtkommandanten aus seinen eisblauen Augen zuwarf, verhieß wahrhaftig nichts Gutes.

„Wir sind keine Piraten“, sagte Jean Ribault. „Wie oft soll ich das noch sagen? Sie unterliegen einem peinlichen Mißverständnis, Monsieur.“

„Maul halten!“ zischte René Douglas ihm zu.

Ben Brighton, Big Old Shane, Dan O’Flynn und Ferris Tucker, die neben Hasard standen, hätten sich jetzt gern auf den Mann gestürzt – und auch Jerry Reeves’, Mulligans, Juans und Nils Larsens Mienen war abzulesen, wie sie in diesem Moment dachten. Thorfin Njal hatte den Kopf gesenkt und schoß finstere Blicke auf den Kommandanten ab, die, hätten sie töten können, Douglas auf der Stelle ins Jenseits befördert hätten.

Stoker hetzte weiter, bemerkte jedoch zu spät den Schatten einer Gestalt hinter sich, die seine Verfolgung aufgenommen hatte.

Es war der Lieutenant des Trupps von Soldaten, der dem flüchtenden Decksältesten nachstürzte, jener Mann, der den Trupp aus einer nahen Garnison nach Concarneau geführt hatte. Ihm oblag der eigentliche Befehl über die achtzig Mann, Douglas war nur ein Begleiter. Douglas und Jean-Luc Martier, der Hafenkapitän, hatten einen Boten mit der Bitte um Hilfe geschickt, als sie das Unheil hatten nahen sehen, und der Ruf war erhört worden.

Concarneau war kein sonderlich gut befestigter und bewachter Hafen, auf den Wehrgängen des Kastells gab es lediglich vier Minions, die im Vergleich zu der Armierung der Schiffe eher lächerlich wirkten. So gesehen, hatten Douglas und Martier durchaus richtig gehandelt, als sie sich um Unterstützung bemüht hatten.

Trotzdem verkannten sie die Lage, denn nicht die Männer der drei Schiffe, die dort im Hafen vor Anker lagen, waren die „Piraten“, vor denen sie Angst haben mußten. Die Stadt zitterte vor einem Angriff, die meisten Bürger hatten sich in der Kirche versammelt, um vor einem furchtbaren Schicksal bewahrt zu werden, viele waren auch geflohen, als der Kanonendonner von Mordelles herübergedrungen war. Doch es waren nicht der Seewolf und dessen Kameraden, die der Stadt das große Unglück brachten. Gegen Yves Grammont hätten Douglas und Martier vorgehen müssen, gegen Lucio do Velho und die spanischen Spione, doch das sollte den Franzosen erst aufgehen, als es bereits zu spät war.

Der Lieutenant hechtete vor und brachte Stoker zu Fall. Stoker prallte hart auf die Katzenköpfe der Gasse und stöhnte auf, dann aber drehte er sich trotz der Last des Gegners herum und setzte sich zur Wehr.

Sie balgten sich wie zwei Straßenjungen. Stoker mußte einen Hieb gegen die Brust einstecken, doch dann schlug er zurück und erwischte den Lieutenant am Kinn. Dem Franzosen drohten die Sinne zu schwinden. Schon wollte sich Stoker von ihm befreien, aufspringen und forthetzen, aber da waren zwei, drei andere Uniformierte heran und traten mit ihren Stiefeln auf ihn ein. Stoker brach in den Knien zusammen und schützte seinen Kopf mit den Händen.

„Diese Schweine“, sagte Ben Brighton. „Das werden sie noch bereuen. Drecksäcke!“

„Den Kerl da, den Lieutenant, fordere ich noch zum Duell heraus“, sagte Thorfin Njal mit grollender Stimme. „Mit dem rechne ich ganz groß ab.“

„Nein.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Den überläßt du mir.“

„Baxter!“ brüllte Stoker. „Baxter!“

Dies war der Name des Profos’, der während der Abwesenheit von Reeves, Stoker und Mulligan auf der „Fidelity“ das Kommando übernommen hatte. Wie er warteten auch Old O’Flynn von der „Hornet“ und Arne vom Schwarzen Segler auf die Rückkehr des zwölfköpfigen Landtrupps, der eigentlich wieder von sich hatte hören lassen wollen.

Einer der Franzosen drehte seine Muskete um und knallte Stoker den Kolben gegen den Kopf. Stoker fiel bewußtlos auf die Katzenköpfe und regte sich nicht mehr. Der Soldat wollte noch einmal zuschlagen, doch in diesem Moment richtete sich der Lieutenant auf und hob die Hand.

„Das genügt“, sagte er. „Wir brauchen diese Kerle lebend.“

„Sehr richtig“, pflichtete ihm Douglas bei, der jetzt ebenfalls die Gasse betreten hatte. „Wir wollen sie verhören. Möglicherweise haben wir sogar noch irgendwelche Verwendung für sie.“

„Habt ihr das gehört?“ flüsterte Jean Ribault seinen Kameraden zu. „Womöglich legen die uns in Ketten und verfrachten uns in ein Lager, wo wir Zwangsarbeit verrichten müssen.“

„Gibt’s denn so was auch in Frankreich?“ erkundigte sich Juan.

„Natürlich“, erwiderte Jean Ribault. „Denkst du etwa, meine Landsleute sind Engel? Gerade unter Heinrich von Bourbon hat die Verfolgung der Hugenotten wieder stark zugenommen.“

„Wenn Le Testu jetzt hier wäre“, sagte Ferris Tucker. „Dann würden die Franzmänner vielleicht was zu hören kriegen.“

„Das würde auch nicht viel nützen“, sagte Ben Brighton. „Glaubst du, er könnte mehr ausrichten als Jean?“

„Natürlich nicht“, brummte der rothaarige Schiffszimmermann. „Aber es wurmt mich höllisch, daß Le Testu, Montbars und alle unsere Freunde ahnungslos drüben auf den Schiffen hocken und auf uns warten.“

„Wenn ich bloß ein Messer hätte“, flüsterte Dan O’Flynn. „Dann würde ich schon von hier verschwinden, das schwöre ich euch. Aber sie haben uns ja durchsucht und uns alles abgenommen. Der Teufel soll sie holen.“

„Schreien wir doch mal alle zusammen“, schlug Jerry Reeves vor. „Das hören unsere Leute doch bestimmt.“

Douglas und der Lieutenant waren jedoch zu ihnen zurückgekehrt, und Douglas sagte mit verzerrtem Gesicht: „Wenn jetzt noch einer Scherereien versucht, wenn auch nur einer einen Ton von sich gibt, dann lasse ich ihm in die Beine schießen.“

Der Lieutenant bedeutete seinen Leuten durch eine Gebärde, mit den Musketen auf die Gefangenen anzulegen. Wieder hoben sich die Waffenläufe, wieder wuchs die Bedrohung, der Hasard und seine elf Begleiter ausgesetzt waren.

 

Deshalb gab der Seewolf seinen Leuten mit den Augen ein Zeichen, sie sollten schweigen und sich ruhig verhalten. Jean Ribault übersetzte noch für Reeves und Mulligan, die kaum ein Wort Französisch konnten, was Douglas gesagt hatte, dann verstummte auch er.

Stoker wurde aus der Gasse zurück auf den Platz geschleppt, die Soldaten legten auch ihm Fesseln an. Die Gefangenen wurden unter den barschen Worten des Lieutenants abgeführt, ein Weg ins Ungewisse lag vor Hasard und seinen Männern.

René Douglas folgte dem Trupp. Seine Züge hatten sich wieder etwas geglättet, ein schales Grinsen kerbte sich in seine Mundwinkel. Diese Kerle waren ausgekocht und mit allen Wassern gewaschen, doch ihn konnten sie nicht hereinlegen. So hatte er sich auch durch die wiederholten Erklärungen dieses Ribault, es läge ein fataler Irrtum vor, nicht im geringsten beeinflussen lassen. Nach wie vor war er fest davon überzeugt, daß die Bande Concarneau hatten plündern und vielleicht sogar niederbrennen wollen.

Douglas ließ seine Gefangenen zunächst einmal in die Hafenfeste bringen. Dort wollte er mit Martier beratschlagen und entscheiden, was mit ihnen geschehen sollte.

Dumpf hallten die Schritte der Männer und der Hufschlag der Pferde von den Mauern der eng beieinanderstehenden Häuser wider. Die Finsternis hing wie eine Gewitterwolke über der Stadt.

Die Nacht sollte noch voller Überraschungen sein.

Old Donegal Daniel O’Flynn hatte den Befehl auf der „Hornet“, bis Hasard wieder an Bord zurückkehrte. Allerdings hätte er sich gewünscht, diese Aufgabe unter etwas glücklicheren Bedingungen zu versehen. Concarneau wollte ihm nicht gefallen, er witterte überall Unrat: im Wasser des Hafens, zwischen den Piers, am Kai und zwischen den hohen Steinhäusern, die sich gegeneinanderlehnten, als müßten sie sich gegenseitig vor dem Umfallen bewahren. In der Festung, die sich würdig über all dem erhob, schien sowieso das Unglück zu nisten.

„Die Sache stinkt“, sagte er zu Smoky, dem Decksältesten, der ihm auf dem Quarterdeck der Galeone Gesellschaft leistete. „Hier ist was oberfaul, glaub es mir, Smoky.“

„Mal doch nicht schon wieder den Teufel ans Schott.“

„Es ist keine Unkerei. Man wird uns eine Falle stellen. Vielleicht ist es schon geschehen.“

Smoky hob die Augenbrauen und blickte in das zerknitterte Gesicht des Alten, das wie ein zerfurchter Acker wirkte. „Du meinst, wir sollten nachsehen, was mit Hasard, Shane, Ferris und den anderen ist?“

„Das müssen wir mit Sicherheit.“

„Zur Hölle, Donegal“, sagte Smoky, der jetzt allmählich auch unruhig wurde.

Old O’Flynn hob den Kopf. „Was war das? Hat da nicht jemand gerufen?“

„Das scheint mir nicht der Fall zu sein.“

„Ich war schon immer der Ansicht, daß du gelegentlich auf deinen Ohren sitzt, Mann“, sagte der Alte mit verdrossener Miene.

„Hör mal, jetzt reicht’s mir aber.“ Smoky enterte das Achterdeck und trat in den rötlich-dämmrigen Schein der Hecklaterne, die sie auf Hasards Befehl hin entfacht hatten. Er blickte zur „Fidelity“ hinüber und erkannte George Baxter, der ebenfalls ganz achtern auf der Kampanje stand.

„Baxter!“ rief er hinüber. „Hast du eben einen Schrei oder so was Ähnliches gehört?“

„Nein, habe ich nicht. Wer soll denn geschrien haben?“

„Das wissen wir nicht.“

„Es kam aus der Stadt“, sagte Old O’Flynn, dessen Gesichtsausdruck jetzt noch grimmiger geworden war. „Da besteht kein Zweifel.“

Baxter wandte sich seinerseits dem schwarzen Schiff zu, das unweit der „Fidelity“ ankerte, und erkundigte sich bei Arne, Eike, Olig und dem Stör, ob sie etwas vernommen hätten.

Aber auch die vier Wikinger verneinten.

„Zum Donner“, brummelte Old O’Flynn. „Da wird man doch glatt für verrückt erklärt. Aber ich hab mir das nicht eingebildet. Und ich sehe auch keine Gespenster.“

„Sir“, sagte Bill, der eben seinen Posten im Großmars räumte und auf das Hauptdeck abenterte. „Ich habe auch jemanden rufen hören, aber nur ganz schwach.“

„Gut.“ Der Alte zeigte ein freudloses Grinsen. „Wenigstens einer, der mich unterstützt. Ihr anderen werdet schon noch sehen, daß ich recht habe.“

„Wenn das so ist, dann hat Albert uns vielleicht hereingelegt“, sagte Carberry, der jetzt von der Kuhl zum Quarterdeck hochstieg. „Montbars nimmt den Kerl auseinander, wenn’s wirklich der Fall ist. Und es kann gut sein, daß ich ihm dabei helfe.“

„Unsinn“, erklärte Smoky. „Albert hat viel zuviel Angst vor dem Korsen. Ich glaube, daß er die Wahrheit gesagt hat. Außerdem, was für ein Interesse sollte er daran haben, uns hereinzulegen?“

„Das fragst du auch noch.“ Old O’Flynn sah Smoky aus zornblitzenden Augen an. „Natürlich ist der Hund immer noch darauf aus, entweder mit Grammont oder mit do Velho zusammenzuarbeiten.“

„Kann sein“, meinte Smoky. „Aber weder der eine noch der andere wird hier aufkreuzen. Grammont hat damit zu tun, seine Wunden zu lecken. Und do Velho, Quintaval, Bonano und Lucille scheinen ertrunken zu sein.“

„Denk, was du willst“, sagte der Alte.

Plötzlich regte sich etwas auf dem Hauptdeck, und die Männer fuhren herum.

Blacky und Jaek Finnegan näherten sich aus Richtung des Vordecks, und Blacky fragte: „Was ist denn los? Sind Hasard und die anderen schon zurück?“

Carberry beugte sich über die Querbalustrade zwischen Kuhl und Quarterdeck und sagte: „Siehst du sie hier irgendwo, du Molch? Wir haben uns nur darüber unterhalten, ob sie do Velhos Kasse gefunden haben oder nicht. Das ist alles. Und du? Wieso hast du deinen Posten verlassen?“

„Um nach dem Rechten zu sehen“, erwiderte Blacky. „Batuti ist unten geblieben und hält weiterhin vor der Vorpiek Wache.“

„Dann schieb auch du wieder ab!“ fuhr ihn der Profos an. „Wir können uns keinen Schlendrian erlauben, keine einzige Nachlässigkeit, verstanden?“

„Aye, Sir“, erwiderte Blacky der Einfachheit halber, drehte sich um und marschierte zum Vordecksschott zurück. Es lohnte sich nicht, mit Carberry zu diskutieren. Außerdem hatte der ja recht: Sie mußten jederzeit auf der Hut sein, denn Easton Terry, der jetzt als Gefangener in der Vorpiek der „Hornet“ saß, war zu jeder Teufelei fähig.

Auch Lucio do Velho, de Fambrin, Ignazio, Quintaval, Bonano und Lucille waren auf der „Hornet“ eingesperrt gewesen, als die zweite Schlacht bei Mordelles ihren Verlauf genommen hatte, doch dann hatte sich die Hafenhure aus Quimper befreit und auch den beiden Portugiesen und den drei Spaniern aus der Klemme geholfen.

Mitten im Gefecht waren alle sechs mit einemmal auf dem Hauptdeck erschienen. Do Velho, der alte Gegner der Seewölfe, hatte die „Hornet“ in einem tollkühnen Handstreich erobern wollen. Doch er hatte sich verrechnet. Ferris Tuckers Flaschenbombe hatte de Fambrin und Ignazio ins Jenseits befördert. Do Velho, Lucille und die beiden Spanier hatten von Glück sprechen können, daß ihnen überhaupt noch die Flucht von der „Hornet“ gelungen war.

„Und du?“ Carberry wandte sich mit demselben barschen Tonfall an Jack Finnegan, den er auch Blacky gegenüber benutzt hatte. „Was willst du hier, Mister Finnegan? Geht es Paddy Rogers besser? Willst du das melden?“

„Leider nicht. Er hat immer noch hohes Fieber.“

„Dann verschwinde auch du! Noch gibt’s hier oben nichts zu sehen, kapiert?“

„Aye, Sir.“ Finnegan warf noch einen Blick auf Old O’Flynns gallebittere Miene, dann zog er sich ins Vordeck zurück, wo er gemeinsam mit dem Kutscher und den Zwillingen Krankenwache an Paddy Rogers’ Lager hielt.

Paddy, sein bester Freund, war bei dem jähen Ausfall do Velhos auf der „Hornet“ von diesem durch einen Musketenschuß in die Brust lebensgefährlich verwundet worden. Der Kutscher hatte ihn inzwischen operiert und die Kugel herausgeholt. Doch ehe Paddy nicht das hohe Fieber überwunden hatte, das sich im Anschluß daran eingestellt hatte, war die Gefahr nicht vorüber. Noch schwebte er zwischen Leben und Tod, noch bangten die Männer und Hasards Söhne Stunde um Stunde um ihn.

Easton Terry hatte sein eigenes Süppchen kochen wollen: Auf der „Louise“ hatte er mitten im dicksten Getümmel das Deck geräumt und sich in Grammonts Kapitänskammer umgesehen. Dabei war er auf die Schatulle gestoßen, die der Piratenführer dort versteckt hatte. Dann aber war Hasard erschienen, hatte Terry zum Duell gefordert und gesiegt.

Terry saß in der Vorpiek, die Schatulle befand sich im Besitz der Seewölfe.

Ein gebranntes Kind scheut jedoch das Feuer, wie man sagt, und so rechneten die Männer ständig damit, Terry könne sich wie do Velho oder Lucille durch irgendeinen Trick befreien.

Auch dies trug zu der Nervosität bei, die sich wieder auf der „Hornet“ ausgebreitet hatte und nun auch auf die „Fidelity“ und „Eiliger Drache über den Wassern“ übergriff. Wieder einmal herrschte größte Ungewißheit über das, was geschehen würde.

Albert, der vermeintliche Bucklige, befand sich, gut bewacht von Gustave Le Testu und Montbars, dem Korsen, an Bord der „Fidelity“. Er hatte beteuert, die Wahrheit gesprochen zu haben. Er wollte do Velho, Quintaval, Bonano und Lucille gesehen haben, die von Mordelles nach Concarneau geschwommen waren. Und er wußte auch, daß do Velho in der Stadt seine „Kriegskasse“ verbarg, aus der er Grammonts Störmanöver gegen die Engländer finanzierte. Dies hatte er angeblich erlauscht, als sich do Velho mit Grammont in dem Lager von Mordelles getroffen hatte.

Stimmte das wirklich?

War Lucio do Velho in Concarneau – oder nicht? Gab es hier wirklich das Geld der Spanier zu holen? Oder war es eine Lüge?

Der Seewolf hatte sich vorgenommen, dies herauszufinden und die Spanier zu schädigen, wo er konnte. Aber wie weit war er mit seinen Ermittlungen? Warum meldete er sich nicht, warum schickte er keinen Boten?

Alle diese quälenden Fragen beschäftigten die Männer der „Hornet“, der „Fidelity“ und des schwarzen Schiffes, die nun unentwegt zum Hafen und zur Festung von Concarneau blickten. Wann würden sie eine Antwort erhalten?

2.

Der Seewolf war davon überzeugt, do Velhos Geldern so fern wie nie zuvor zu sein. Wahrscheinlich ist alles nur ein Trick von Albert gewesen, um uns in die Hände des Stadtkommandanten zu spielen, dachte er, und bei dieser Hinterlist hofft er selbst natürlich, mit heiler Haut davonzukommen.

An Bord der „Hornet“, der „Fidelity“ und des Schwarzen Seglers hatte bestimmt keiner bemerkt, was geschehen war. Auch das malte er sich in diesem Moment aus, als er mit seinen Männern in der Halle des Festungsgebäudes stand und von mehr als zwei Dutzend Soldaten bewacht wurde. Es war zu dunkel, Old O’Flynn, Baxter und Arne konnten nichts gesehen haben. Und Stokers Ruf? Nun, der war zu schwach gewesen. Er hatte sich in den Gassen verloren, ehe er den Hafen erreicht hatte.

Das Haupttor der Festung war vom Hafen aus auch bei Tageslicht sehr schlecht einzusehen, deswegen konnte man nicht erwarten, daß die Männer an Bord der Schiffe verfolgt hatten, wie die Soldaten ihre Gefangenen ins Innere der Anlage gebracht hatten.

Die ganze Situation war verfahren. Hasard schalt sich selbst einen Narren und Anfänger, weil er sich viel zu leichtfertig an Land begeben hatte. Er hätte damit rechnen müssen, daß in Concarneau alles getan wurde, um die Stadt zu verteidigen, ganz abgesehen von dem Wahrheitsgehalt dessen, was Albert gesagt hatte.

Männer wie René Douglas oder dieser Jean-Luc Martier, der eben auch kurz erschienen war, schlossen keinesfalls aus, daß englische Korsaren in Concarneau landen konnten, um die Stadt zu plündern. Sie fanden auch keinen Unterschied zwischen Korsaren und Piraten. Warum sollten sie? Zweifellos waren sie mit den Ansichten der Bourbonen einverstanden, und die waren mit den Spaniern liiert, die heimlich Heinrich unterstützten und ihn als nächsten König Frankreichs auf den Thron bringen wollten. Das Wetter in diesem Land war umgeschlagen – ganz eindeutig blies ein stürmischer Wind gegen England an, der nichts Gutes zu bedeuten hatte.

Demzufolge hatten Douglas und Martier auch keine Skrupel, die Gefangenen trotz aller Versicherungen Hasards und Jean Ribaults, es handle sich um ein Mißverständnis, festzuhalten und in den Kerker zu werfen.

Sie berieten jetzt darüber, was sie tun sollten. Hasard war aber sicher, daß sie ihre Meinung nicht änderten. Dieser Douglas und auch der Lieutenant waren keine Männer, die sich leicht vom Gegenteil dessen überzeugen ließen, was sie dachten. Und Martier? Der würde auch keine Wende herbeiführen.

 

Hasard blickte zu Ben, zu Shane, Dan, Ferris und den anderen. Ihre Mienen drückten genau das aus, was auch er dachte: Sie saßen in der Klemme und hatten keine Chance, aus ihr zu entwischen.

Hasard sah sich in der Halle um. Nein, es gab nach wie vor keine Möglichkeit, sich den Soldaten zu entziehen und zu fliehen. Stoker war wieder bei Bewußtsein. Sein Schädel brummte höllisch, aber sonst schien er unversehrt zu sein. Weitere Risiken wollte und durfte der Seewolf vorläufig nicht eingehen.

Aber was sollte er tun? Irgend etwas mußte geschehen, ehe die Franzosen womöglich auch die Kameraden von der „Hornet“, der „Fidelity“ und dem Schwarzen Segler gefangensetzten.

Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg. Wenn jetzt nicht ein Wunder geschah, waren sie alle geliefert.

Jean-Luc Martier stand René Douglas und dem Lieutenant gegenüber und hörte sich Douglas’ Bericht über die Gefangennahme der „verdammten englischen Freibeuter“ an. Martier war ein hagerer, hochaufgeschossener Mann mit einem bartlosen, markanten Gesicht. Seine dumpfe Ahnung, daß es doch noch Ärger geben könnte, war nicht gewichen. Er war ein größerer Skeptiker als Douglas. Aber er hielt es für besser, den beiden anderen Männern nicht zu widersprechen. Das zahlte sich nicht aus. Er wollte seinen Posten als Hafenkapitän behalten und nicht bei nächster Gelegenheit von Douglas bei den Bourbonen als Zweifler und Nörgler angeschwärzt werden.

Douglas saß hinter dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers, seine große, schwere Gestalt füllte den geschnitzten Holzstuhl mit den Armlehnen voll aus. Sein rotes Gesicht strahlte vor Triumph und Zuversicht, und immer wieder strich er sich mit den Fingern über sein weißes Oberlippenbärtchen.

„Damit haben die Hunde nicht gerechnet“, sagte er abschließend. „Wir haben sie, und wir haben auch die anderen in der Hand, die an Bord der Schiffe warten. Ich weiß, was Sie denken, Martier. Sie könnten mit ihren Kanonen das Feuer auf die Festung eröffnen. Aber genau das werden sie nicht tun. Wir haben zwölf Geiseln, und die Kerle werden nicht wagen, sie zu gefährden. Wenn mich nicht alles täuscht, ist der große Schwarzhaarige der Kapitän des Haufens. Er ist unser wichtigstes Faustpfand.“

„Ja, das leuchtet mir ein“, erklärte Martier geschmeidig. „Im übrigen ist es großartig, wie Sie das hingekriegt haben. Lieutenant, ich spreche auch Ihnen meine Anerkennung aus.“

„Danke“, sagte der Lieutenant. „Ich schlage vor, daß wir die Gefangenen nach Rennes bringen. Dort werden die Bourbonen entscheiden, was mit ihnen geschehen soll.“

„Keine schlechte Idee“, sagte Douglas und lachte.

Auch Martier nickte zustimmend. Je eher man die Gefangenen wieder loswurde, desto besser war das für Concarneau und das Wohlbefinden seiner Bürger.

„Engländer als Schnapphähne und Schlagetots in der Bretagne“, sagte Douglas. Er ließ diese Worte fast genüßlich auf der Zunge zergehen. „Das ist wirklich die Höhe. Das ist geradezu ungeheuerlich.“

Ja, dachte Martier, und es ist Wasser auf die Mühlen von Heinrich, der antienglisch und prospanisch eingestellt ist. Er wird dies als eine Bestätigung der Richtigkeit seiner Politik ansehen.

Ob dies jedoch gut für Frankreich war, vermochte Martier trotz angestrengten Nachdenkens nicht zu ergründen. Vielleicht nahmen die Bourbonen den Vorfall sogar zum Anlaß, um einen Krieg gegen England zu beginnen. Darauf wartete Spanien ja nur. Philipp II. würde die Bretagne und die Normadie als Sprungbrett benutzen, um eine neue Invasion in Elizabeths I. Reich durchzuführen. Dadurch wollte er die Niederlage rächen, die 1588, vor vier Jahren, die glorreiche Armada erlitten hatte.

Armes Frankreich, dachte Martier.

Vielleicht war es gut, rechtzeitig dafür zu sorgen, sein Schäflein ins trockene zu bringen. Ja, je länger Jean-Luc Martier gerade darüber nachdachte, desto einleuchtender erschien es ihm, in dieser Richtung etwas zu tun.

Laut sagte er: „Lieutenant, im Prinzip wären wir mit dieser Regélung schon einverstanden. Nicht wahr, Douglas?“

„Ich habe nichts dagegen einzuwenden.“

„Nur würde ich die Gefangenen lieber auf dem Seeweg nach Brest bringen und von dort aus dann nach Rennes. Das ist sicherer. Auf dem Landweg von Concarneau nach Rennes kann eine ganze Menge passieren.“ Martier blickte erst zu Douglas, dann zu dem Lieutenant. Douglas hob die Augenbrauen, der Lieutenant legte seine Stirn in nachdenkliche Falten.

„Im Landesinneren lauern überall plündernde Horden“, sagte Douglas. „Ist es das, was Sie andeuten wollen, Martier?“

„Ja. Vorwiegend sind es Hugenotten.“

„Wie der gefürchtete Le Testu?“

„Wie der“, sagte Martier.

„Le Testu ist erledigt“, erklärte der Lieutenant. „Offenbar hat er sogar die Bretagne verlassen. Nach seinem letzten großen Überfall auf einen Waffentransport ist er jedenfalls nicht wieder aufgetaucht, wie ich vernommen habe. Trotzdem haben Sie recht, Monsieur Capitaine: Die Banditen bereiten uns Soldaten einigen Ärger. Der Seeweg wäre auf jeden Fall problemloser. Aber woher wollen wir das erforderliche Schiff dafür nehmen? Eine ihrer Schaluppen würde doch wohl nicht genügen.“

„Richtig“, sagte Martier. „Dann müssen wir eben zwei Schaluppen nehmen. Irgendwie klappt das schon. Stellen Sie sich einmal vor, irgendwelche Strauchdiebe und Beutelschneider überfallen Ihre Truppe auf dem Weg nach Rennes und befreien die Engländer – gar nicht auszumalen, was für ein Massaker das gäbe! Und Concarneau könnte sich in dem Fall auch noch auf eine böse Überraschung gefaßt machen.“

„Allerdings“, meinte der Lieutenant. „Übrigens scheinen diese Piraten aber nicht alle aus England zu stammen, wenn ich mich nicht irre. Es ist doch auch ein Franzose dabei, nicht wahr?“

„Und was für einer“, brummte Martier. „Das ist Jean Ribault, wenn mich nicht alles täuscht. Auch so ein Hugenotten-Hund. Der segelt schon seit Jahren als Korsar über die Weltmeere und hat hundertfach den Strick verdient.“

„Mit ihm werden die Bourbonen dann wohl auch kurzen Prozeß machen“, sagte der Lieutenant. „Und auch mit diesem Schwarzhaarigen. Könnte das nicht der berüchtigte Killigrew aus Cornwall sein?“

„Wie kommen Sie darauf?“ fragte Martier.

„Ich habe mal eine Beschreibung von diesem Kerl gehört. Die paßt in etwa auf den Schwarzhaarigen. Sie nennen Killigrew auch den Seewolf, glaube ich.“

„Und wer ist dieser bärtige Kerl mit dem Helm?“ fragte Martier. „Der sieht ja aus wie ein Seefahrer aus längst vergangenen Zeiten.“

„Ich nehme an, er ist ein Nordmann.“

„Aus Schweden oder Norwegen? Aber – aber die Wikinger gibt es doch gar nicht mehr.“

„Nun ja“, erwiderte der Lieutenant. „So sicher bin ich mir auch nicht. Ehrlich gesagt, gibt mir dieser Kerl das größte Rätsel von allen auf.“ Er wandte sich zu René Douglas um, der den Blick etwas gehoben hatte und angestrengt auf einen imaginären Punkt an der Wand spähte. „Was halten Sie von dem Kerl, Monsieur Commandant?“

Douglas antwortete zunächst nicht. Schweigen trat ein, man konnte das Knistern der Flammen in den Öllampen vernehmen. Dann endlich sah Douglas seine beiden Gesprächspartner an, stand auf und deutete aus dem Fenster, das auf den Hafen von Concarneau wies. „Ich habe eben eine großartige Idee gehabt und finde, wir sollten sie sofort in die Tat umsetzen. Hören Sie zu.“

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