Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 27»

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© 1976/2013 Pabel-Moewig Verlag GmbH,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-269-8

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

1.

Die Dunkelheit hatte das Zwielicht der Abenddämmerung verdrängt und sich über Panama gesenkt. Ein bleicher Mond goß sein kaltes Licht über dem Hafen und der Stadt aus. Den Wellen, die leise gurgelnd gegen die Bordwände der dahingleitenden Segelpinasse schlugen, setzte er feine Silberkronen auf. Acht Männer hatten sich auf die Duchten gehockt. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann an Bord von Philip Hasard Killigrews „Isabella III.“, kauerte im Bug. Der ehemalige Profos bei Francis Drake, Edwin Carberry, saß am Heck und hielt die Ruderpinne. Das Segel war aufgegeit worden. Smoky, Matt Davies, Stenmark, Darl von Hutten, Jeff Bowie und Piet Straaten legten sich in die Riemen und pullten so gekonnt, daß die Blätter beim Eintauchen ins Wasser kaum ein Geräusch verursachten. Fast lautlos bewegte sich die Pinasse fort.

Matt Davies nahm den Platz auf der Ducht neben dem Holländer Piet Straaten ein. Er grinste wie ein Teufel. Achteraus lag die stolze, schlanke „Isabella III.“, die sie soeben verlassen hatten. Ein prächtiges Schiff! Es hatte ihnen eine Menge Glück gebracht. Trotz des unermeßlichen Schatzes, der inzwischen im Bauch der Zweimastgaleone ruhte, würde sie damit immer noch flinker und wendiger sein als sämtliche normalgebauten Dreimaster dieser Welt.

Ja, Matt Davies hielt riesengroße Stücke auf die „Isabella“ – und auf ihren Kapitän, den verwegenen Seewolf! Während dieser mit Jean Ribault den Hafenkommandanten Alfonso de Roja begleitete und sich sozusagen mitten in die Höhle des Löwen begab, pullten sie weisungsgemäß über die Reede von Panama und vollendeten den tollkühnen Plan, den Hasard gefaßt hatte.

Matt drehte sich halb um und blickte voraus. Da lagen sie wie dikke, träge Tiere im dunklen Wasser: neun Galeonen der Spanier. Vorgestern waren es noch zwölf gewesen. Doch der Seewolf hatte das Dutzend verkleinert, indem er drei mit seiner Mannschaft auf den Grund der See geschickt und die Bordwachen auf den Panama, vorgelagerten Inseln ausgesetzt hatte. Das waren die „Victoria“ und die „Saint Gabriel“ gewesen. Wie die dritte geheißen hatte, war Matt entfallen. Wichtig war für ihn auch bloß, daß sie die Schiffe vor dem Anbohren um ihre Frachten erleichtert hatten: Gold, Silber und Perlen, alles fein säuberlich zum Mitnehmen in Truhen verpackt – und Tabak! Er lachte leise, als er daran zurückdachte, wie schlecht dem Bürschchen Dan O’Flynn nach seinem ersten Raucherlebnis geworden war, so speiübel, daß er beinahe seine ganze Seele in die See gespuckt hätte.

„Was ist los?“ fragte Piet Straaten nicht gerade freundlich.

„Ich freue mich auf die blöden Gesichter der Dons, wenn sie sehen, was wir mit ihren verdammten alten Waschzubern anstellen.“ Matt zeigte bedeutungsvoll seine Hakenprothese hoch. „Hoffentlich hat keiner der Philipps ein solches Ding wie ich, denn damit kann man nicht bloß Holz hacken, sich in der Nase bohren, Schädel spalten, Lasten heben und jemandem den Arsch aufreißen – man kann damit auch Spundlöcher und alle möglichen anderen Löcher verdübeln.“

„Deubel ok“, erwiderte Piet in seiner Muttersprache. „Zum Teufel, mach doch keine blöden Witze.“

Stenmark raunte: „Haltet den Rand, ihr beiden!“

„Was ist denn los?“ zischte Jeff Bowie.

„Matt erzählt mal wieder von seinem Haken“, sagte Smoky spöttisch. „Als ob wir noch nicht wüßten, was für Wunderdinge er damit vollbringt.“

Matt wollte einen gesalzenen Fluch vom Stapel lassen, aber Carberry gab einen drohenden, grollenden Laut von sich und brummte: „Ruhe an Bord, ihr Rübenschweine. Wer jetzt noch ein Wort sagt, dem zieh ich die Haut in Streifen vom Hintern, verstanden, was, wie?“

Ferris Tucker gab ihnen durch Winke zu verstehen, welchen Kurs sie zu steuern hatten. Vor ihnen nahmen sich düster die Konturen der spanischen Galeonen aus, sie schienen langsam zu wachsen. Ferris hielt angestrengt Ausschau und wählte die erste Galeone aus, der ihr Unternehmen gelten sollte. Sie schwoite ziemlich weit vor ihnen in nördlicher Richtung an der Ankerkette. Der Wind stand von Norden, war also ablandig. Die Galeone lag nach Ferris’ Ansicht insofern günstig, als sich genau hinter ihr ein zweites Schiff befand. Die Distanz zwischen beiden betrug höchstens eine halbe Kabellänge.

Bevor er an Land gegangen war, hatte der Seewolf ihnen nämlich empfohlen, sich zunächst das am weitesten in Luv liegende Schiff vorzuknöpfen. Denn wenn Ferris die Bordwand unterhalb der Wasserlinie anbohrte und die Ankertrosse kappte, dann mußte die erste Galeone unweigerlich auf die weiter leewärts befindlichen Schiffe zutreiben und zumindest den ihr am nächsten liegenden Dreimaster rammen.

Die Männer hinter Ferris Tucker begriffen, was er vorhatte – und jetzt grinste nicht nur Matt Davies. Sie konnten sich ausmalen, was für eine Verwirrung es auf der Reede geben würde! Besonders Carberry konnte da in seinem Geist auf ein noch nicht sehr lange zurückliegendes Erlebnis zurückgreifen, hatte er doch – noch unter Francis Drake – in der Nacht des 15. Februar 1579 im Hafen von Callao selbst die Ankertrossen mehrerer leerer spanischer Kauffahrer gekappt. Es hatte ein wüstes Durcheinander gegeben. Die Dons an Bord der Schiffe und am Hafen hatten sich vor Verwirrung fast gegenseitig über den Haufen gerannt. Unterdessen hatten sich Drake und seine Mannschaft mit der vorsichtshalber gefechtsklar gehaltenen „Golden Hind“ heimlich verzupft.

Die Pinasse mutete beinahe wie ein gespenstisches Gebilde an, als sie jetzt auf die „auserkorene“ Galeone der Spanier zuhielt. Ferris Tucker legte seine – Werkzeuge zurecht. Ed Carberry lenkte die Bootsbewegung konzentriert mit der Ruderpinne. Die sechs Männer nahmen die Riemen ein und Carberry steuerte die Pinasse an die Steuerbordseite der Galeone. Behutsam verholten sie das Boot zum Vordersteven.

Von oben waren verhaltene Stimmen zu vernehmen. Der Profos und der Zimmermann legten die Köpfe in den Nacken, vermochten jedoch keinen Spanier zu erkennen. Die Burschen da oben mußten sich irgendwo auf der vorderen Kuhl aufhalten, wo genau, ließ sich nicht orten. Hasards Männern war das auch ziemlich egal. Hauptsache, die Dons lugten nicht vor der Zeit über das Schanzkleid und entdeckten sie!

Die Bordwand der Galeone wuchs finster und drohend neben ihnen hoch, als wolle sie sich über ihnen ausstülpen und sie erdrücken. Ferris Tucker hatte sich im Bug aufgerichtet. Er tastete vorsichtig mit den Fingern an dem Schiff entlang. Der Profos hatte das Manöver so berechnet, daß die Pinasse direkt unter der Galion auslief. Ferris half noch ein bißchen nach und bremste mit den Händen ab. Sie stoppten und konnten über sich den behäbig aufragenden Bugspriet und das Vorgeschirr des Spaniers erkennen.

Die Ankerklüse nahm sich schräg über ihnen, wie ein glotzendes Gigantenauge, aus. Carberry beäugte grinsend die Trosse. Sie stach nicht weit von ihm entfernt in die Fluten. Er tippte sich an die Brust, und damit lag der Fall klar: Er würde sie kappen.

Ferris begann mit seinem Werkzeug zu hantieren. Natürlich hätte er den Bohrer auch irgendwo mittschiffs ansetzen können, doch wegen der Stimmen, die sie gehört hatten, hielt er den Bug in diesem Fall für den günstigsten Platz, um ungestört zu arbeiten. Er brachte der Galeone das erste Loch unterhalb der Wasserlinie bei. Und das war durchaus kein leichtes Stück, er geriet richtig ins Schwitzen dabei. Die Dons bauten ihre Segler aus jahrelang abgelagertem Pinien- oder Edelkastanienholz, denn beide quollen im Wasser nicht auf und erwiesen sich auch sonst als außerordentlich widerstandsfähig.

Diese Galeone hatte einen Rumpf aus Kastanie, echte, gute, harte spanische Edelkastanie! Was die Härte betraf, so stand sie Eichenholz in nichts nach. Ferris fluchte im stillen. Nicht, weil er die Mühe scheute sondern weil es ihm nicht schnell genug ging. Wenn nur die Philipps nicht auf die abwegige Idee verfielen, ausgerechnet jetzt auf die Back ihres Schiffes zu klettern und einen prüfenden Blick übers Schanzkleid nach außenbords zu werfen!

Ferris Tucker hatte der Galeone das erste Loch beigebracht. Er zog den Bohrer heraus, und es gab ein schmatzendes Geräusch. Die Männer stießen sich an. Matt Davies grinste wie ein Haifisch. Ferris bohrte noch drei Löcher, dann bedeutete er Carberry durch eine Gebärde, daß er dran war. Gern hätte der Schiffszimmermann ein regelrechtes Sieb aus der Galeone gemacht; aber dafür reichte nicht die Zeit. Schließlich lagen da noch acht andere Schiffe auf der Reede, die ebenfalls sehnsüchtig auf sie warteten.

Der Profos ließ auf der Backbordseite streichen und auf der Steuerbordseite anrudern, so daß die Pinasse auf der Stelle drehte. Das Heck schwenkte im Wasser herum wie der Hintern einer Ente. Carberry erhob sich und packte mit der einen Faust die Ankertrosse. Mit der anderen Hand führte er den kurzklingigen Schiffshauer, den er sich schon bereitgelegt hatte. Die Schneide trennte das Tauwerk mühelos durch. Es gab einen Ruck. Das eine Ende der Trosse versank im Wasser, das andere baumelte traurig an der Bordwand der Galeone herunter. Der mächtige Schiffsleib begann nach Lee zu treiben.

Zeit für die acht Männer, sich zu verholen! Sie pullten davon und hielten auf eine der nächsten Galeonen zu. Um das Schiff, das eine halbe Kabellänge achteraus der ersten, angebohrten Galeone vor Anker lag, brauchten sie sich nicht mehr zu kümmern.

„Die beiden machen das unter sich selbst ab“, sagte Smoky höhnisch. Er wollte noch etwas hinzufügen, bemerkte aber gerade noch rechtzeitig den drohenden Blick Carberrys. Der besagte, daß jeder Schwätzer an Bord der Pinasse nach wie vor um sein Achterleder zu bangen hatte.

Seit die drei spanischen Galeonen wie ein Spuk aus dem Hafen von Panama verschwunden waren und Gerüchte umliefen, verbrecherische Besatzungsmitglieder hätten sich mit den Reichtümern aus den Frachträumen aus dem Staub gemacht oder es existiere gar ein „Geisterschiff“, das diese Gewässer heimsuche – seitdem waren die Wachen auf den restlichen neun Galeonen verdoppelt und verdreifacht worden. Das bedeutete jedoch noch lange nicht, daß die Mannschaften diesen Dienst nun bereitwilliger versahen.

Zwei Bordwachen standen auf der vorderen Kuhl der in Luv liegenden Galeone. Sehnsüchtig blickten sie zu den beleuchteten Häusern an der Hafenmole hinüber.

„Vayase al diablo“, sagte der eine, ein schlanker Mann mit dunklem Teint und schwarzen Haaren, ein gutaussehender Typ. „Zum Teufel aber auch! Seit wir hier in dem gottverfluchten Hafen von Panama liegen, bin ich kein einziges Mal von Bord gekommen und habe fast ununterbrochen Wachdienst geschoben, Diego.“

„Wem sagst du das? Der Fluch soll die Schweine treffen, die die drei Galeone versenkt haben. Wäre das nicht passiert, hätten wir längst unseren sauer verdienten Landurlaub genossen, was, Urbano?“ Diego sagte das mit sauertöpfischer Miene. Er war ein untersetzter Mann um die Vierzig und hatte einen etwas kümmerlichen Schnauzbart.

„So ist das.“ Urbano seufzte. „Wenn ich an die vielen schönen Weiber denke, die da auf uns warten, Hombre, wird mir ganz anders. O Dios, endlich wieder ein ordentliches Stück Weiberfleisch in den Händen halten, einen runden Hintern streicheln, einen prallen Busen anfassen ...“

„Du vergißt das Wichtigste“, entgegnete Diego grinsend.

„Erinnere mich bloß nicht daran.“

„Wo wir schon dabei sind ...“

„Wie lange ist es her, daß wir in keinem vernünftigen Hurenhaus mehr waren und wie die Maden im Speck gelebt haben, Diego?“

„Mehr als sechs Monate.“

„Viel zuviel für einen vollblütigen Sohn des Vaterlandes unter seiner Majestät, Philipp II. von Spanien.“ Urbano sandte noch einen entsagungsvollen Blick zu den Hafengebäuden hinüber, dann senkte er plötzlich die Stimme und sagte: „Hör zu, Compadre. Ich habe noch eine volle Flasche echten chilenischen Rotwein unter meiner Koje versteckt liegen. Wenn wir schon enthaltsam wie die Mönche leben müssen, wollen wir die wenigstens auf den Kopf hauen.“

Diego meldete Bedenken an. „Auf einen guten Tropfen hätte ich zwar auch Lust – aber wenn der Erste oder der Capitano was davon erfahren, gibt es dicke Luft.“

„Ach Quatsch.“ Urbano schaute sich um und tastete die Gestalten der übrigen, weiter entfernt auf der Kuhl und dem Achterdeck postierten Wachen mit einem prüfenden Blick ab. „Ich hole jetzt den Vino, dann gehen wir aufs Vorkastell, da sind wir unter uns. Die Hauptsache ist, daß es keiner von den anderen rauskriegt und an einen Offizier weitergibt. Zeigt sich jemand, lassen wir die Pulle rasch hinterm Ankerspill oder sonstwo verschwinden.“

Gesagt, getan. Urbano verschwand kurz unter Deck. Diego blieb auf der Kuhl der Galeone zurück und stand sozusagen Schmiere. Als der Freund wieder den Kopf aus der Luke des Niederganges streckte, gab Diego ihm ein Zeichen, daß alles in Ordnung sei. Urbano schob das Holzquerschott ganz auf, kletterte hoch, und sie begaben sich auf das Vorkastell. Unweit des Ankerspills ließen sie sich am Steuerbordschanzkleid nieder.

Urbano entkorkte die Flasche. Er hatte an der Öffnung des Halses geschnuppert, den Inhalt für gut befunden und setzte nun an, um einen kräftigen Schluck zu nehmen, da lief ein Ruck durch den Schiffskörper. Er fiel nicht sehr stark aus, jedoch heftig genug, um den schlanken Spanier aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Der gute Wein ergoß sich über Urbanos Gesicht. Urbano rollte zur Seite, verlor die Flasche und fluchte zum Gotterbarmen. Diego wußte nicht, ob er lachen oder ebenfalls wettern sollte. Ein paar Augenblicke später registrierte er jedoch, daß die Ankertrosse schlaff geworden war. Er kriegte Augen, so groß wie Suppenteller.

Urbano stieß gegen eine Nagelbank und konnte sich abfangen. Er fand auch die Flasche wieder, doch die war bereits leer. Der letzte Rest des kostbaren Nasses hatte sich auf die Decksplanken ergossen und verbreitete süßlichen, süffigen Weingeruch.

„Al diablo!“ Er packte die Flasche am Hals, erhob sich und schleuderte sie über Bord. Auf der Kuhl und auf dem Achterkastell entstand Unruhe, die übrigen Wachen schienen etwas bemerkt zu haben.

Urbano sah, daß Diego am Schanzkleid stand und wie gebannt außenbords starrte. Er trat neben ihn und wollte ihn fragen, was los sei, da sagte der schnauzbärtige Mann bereits fassungslos: „Wir – wir haben den Anker verloren!“

„Wir haben was?“ Urbano sichtete die herunterbaumelnde Trosse erst jetzt. Er schaute etwas auf, und in diesem Moment schien es ihm, als sähe er die undeutlichen Konturen eines größeren Bootes oder einer Pinasse im Dunkeln verschwinden. „Verloren“, wiederholte er entsetzt. „Du spinnst ja. Jemand hat die Trosse gekappt – und wir treiben nach achtern ab.“

Auf der Kuhl wurde inzwischen gebrüllt, sinnlose Kommandos ertönten. Niemand wußte recht, wer zu befehlen und wer zu gehorchen hatte. Das Steuerbordschott im Achterkastell flog auf, daß es nur so knallte. Der wachhabende Offizier stürzte an Deck.

„Was ist los?“ rief er immer wieder.

Urbano bemerkte eine sprudelnde Bewegung am Bug der Dreimastgaleone – und er begriff. Er riß Diego gewaltsam vom Schanzkleid los und zerrte ihn mit sich fort. Sie flankten über den Querabschluß der Back, landeten auf der Kuhl und stießen einen Kameraden um. Sie rasten förmlich unter Deck.

Sie hatten die Vorpiek noch nicht erreicht, da schossen ihnen bereits die Wassermassen entgegen. Diego schrie auf. Urbano stand plötzlich knietief in den schwärzlichen Fluten und fluchte, daß selbst eine in Ehren ergraute Hafenhure noch rot geworden wäre. Die Unterdecksräume füllten sich gurgelnd mit Wasser. Die beiden Männer begriffen, daß sie allein nicht damit fertig wurden. Sie liefen zurück an Deck und prallten wieder mit einer Wache zusammen.

Diego riß den Arm hoch und wies auf das, was da aus der Finsternis auf sie zuzuwanken schien. „Madre de Dios!“ Die Umrisse der achteraus liegenden zweiten Galeone wurden immer größer und wuchtiger.

Der Offizier schrie mit überkippender Stimme Befehle. Tatsächlich kletterten nun auch ein paar Männer die Wanten hoch, andere griffen nach Schoten und Brassen. Man versuchte mit allen Mitteln, das Schiff in letzter Sekunde zu manövrieren.

Urbano sah als einer der ersten, daß ihre Galeone bereits nach Steuerbord überkrängte. Er lief aufs Achterkastell, griff mit beiden Händen in den Kolderstock und lehnte sich mit dem Körpergewicht dagegen. Die Galeone legte sich schräg, als wolle sie mit der Rahnock des Großsegels die Wasserfläche berühren. Immerhin schwang sie etwas mit dem Heck herum, doch es blieb ein verzweifeltes, letztlich nutzloses Manöver.

Urbano wandte den Kopf und sah die Bugpartie der anderen Galeone buchstäblich auf sich zurasen. Drohend ragte der Bugspriet auf, so, als wolle er ihn aufspießen. Urbano ließ den Kolderstock los und lief, was seine Beine hergaben. Er erreichte noch die Balustrade auf dem Quarterdeck, dann geschah es. Achterschiff und Bug der beiden Galeonen bohrten sich krachend ineinander. Holz splitterte – solides spanisches Edelkastanienholz! Die Männer schrien wie besessen durcheinander, jemand erhielt einen Splitter ins Bein und ging wimmernd in die Knie. Urbano wurde durch die Wucht des Aufpralls über die Handleiste der Balustrade weggehoben. Hart landete er auf der Kuhl.

Der Offizier brüllte außer sich vor Wut. Doch als der Bug des anderen Schiffes sich noch ein Stück tiefer in den Leib ihrer Galeone schob und sie – anhob, verlor er die Balance und schlidderte quer über Deck auf das Steuerbordschanzkleid zu. Er ging über Bord und nahm dabei den schreienden und gestikulierenden Diego mit.

Genau in diesem Moment löste sich die Galionsfigur der anderen Galeone aus den Resten des zertrümmerten Bugs und krachte aufs Achterdeck des anderen Schiffes. Sie hieb glatt durch und landete ein Deck tiefer in der Kapitänskammer.

Urbano arbeitete sich zu ein paar Kameraden vor. Es gelang ihnen, ein Beiboot aus den Laschungen zu lösen und aufs Wasser abzufieren. Hierin lag die einzige Möglichkeit, noch das nackte Leben zu retten.

Unterdessen nahm der Lärm auf der Reede zu. Die Wachtposten auf den anderen Schiffen hatten den Vorfall bestürzt beobachtet. Jetzt ließen auch sie Beiboote zu Wasser. Auf einer Galeone wurden das Vormarssegel und das Großmarssegel gesetzt. Sie schwang herum, um den beiden havarierten Schiffen zu helfen – viel zu spät. Die beiden Galeonen hatten sich bereits so weit mit Wasser gefüllt, daß ihr kläglicher Untergang nicht mehr verhindert werden konnte.

2.

Es war Nacht, aber Ben Brighton benötigte weder Licht noch Spektiv, um das Durcheinander verfolgen zu können, das sich da auf der Reede entwickelte. Mit bloßem Auge sah er, wie die ersten beiden Galeonen ineinander krachten, sich nicht mehr voneinander lösten und immer tiefer wegsackten. Er konnte ein schadenfrohes Grinsen nicht unterdrücken. Die Dons befanden sich mal wieder in hellstem Aufruhr. Da wurden die lästerlichsten Flüche ausgestoßen, sämtliche Teufel der Hölle herbeizitiert, daß sie die am Drama Schuldigen vernichten sollten, und Gott angerufen, er möge den Schiffbrüchigen beistehen. Da klatschten Beiboote zu Wasser, da stöhnten und jammerten Verwundete, da erloschen schwankende Laternen, während auf den noch unversehrten Schiffen immer mehr Lichter aufflammten.

Inzwischen glitt die Pinasse zwischen den Galeonen dahin. Nicht einmal Ben Brighton konnte sie entdecken. Der erste Offizier und Bootsmann des Seewolfs erkannte aber bald, wie an Bord einer dritten Galeone mörderisches Geschrei losbrach und das Schiff in Bewegung geriet. Wieder grinste er. Ferris Tukker, Carberry und die anderen spukten wie die Kastenteufel auf der Reede umher und taten ihre Arbeit. Noch gab es keinen Grund, mit der „Isabella III.“ einzugreifen, und das sollte auf Hasards Anweisung hin auch nicht geschehen, solange es nicht unumgänglich wurde.

Die „Isabella III.“ sollte ihr Gesicht als „Valparaiso“ wahren – als spanisches Schiff, das im Geheimauftrag des Gouverneurs von Chile den berüchtigten „El Draque“, Francis Drake, jagte. Nur so hatte die Seewolf-Crew sich frech und gottesfürchtig unter die Schiffe auf der Reede des Hafens von Panama stehlen können, nur so war es gelungen, die drei bereits versenkten Galeonen wie fette alten Enten auszunehmen. Was inzwischen in der Stadt geschehen war, wußte Ben Brighton nicht, doch es war klar, daß zumindest die Besatzungen der spanischen Galeonen nach wie vor fest davon überzeugt waren, in der ehemaligen „Valparaiso“ einen der ihren unter sich zu haben.

Trotz allem hatte Ben natürlich gefechtsklar machen lassen. Die Männer kauerten auf der Kuhl hinter den schußbereiten Demi-Culverinen, auf Achterdeck und Back hinter den Drehbassen. Sie warteten nur darauf, den Dons mal wieder eins auf den Pelz zu brennen.

Ben trat neben Pete Ballie, den Rudergänger. „Wenn Ferris, der Profos und die anderen mit der Pinasse in der Nähe sind, gehen wir ankerauf. Es muß so aussehen, als ob wir auch zu den Leidtragenden gehören.“

„Aye, aye. Dan O’Flynn hockt im Vormars und wird die Pinasse rechtzeitig sehen. Bloß eins frage ich mich, Ben.“ Pete, der stämmige Mann mit den riesengroßen Fäusten, blickte Brighton an. „Was tun die acht, wenn sie von den Dons entdeckt werden?“

„Das ist kein Problem. Karl von Hutten spricht hervorragend Spanisch. Er kann sich damit herausreden, daß sie Schiffbrüchige von den ersten beiden sinkenden Galeonen sind.“

„Stimmt.“ Pete lachte leise. „Daran habe ich gar nicht gedacht.“

Dan O’Flynn hockte hoch über ihnen im Vormars. Arwenack, der Schimpansenjunge, saß neben ihm auf der Segeltuchverkleidung. Jedesmal, wenn eine weitere spanische Galeone sich von ihrem Anker löste und sichtlich unkontrolliert in die Dunkelheit hinausdümpelte, klatschte er in die schwieligen Hände und gab gegrunzte Beifallslaute von sich. Dan hielt gespannt Ausschau und sichtete die Pinasse im entscheidenden Augenblick.

Er gab ein Zeichen. Batuti, der wie eine Art größerer Bruder von Arwenack in den Luvhauptwanten hing, leitete ihn an Ben Brighton weiter. Ben ließ den Anker lichten, und fortan spielte Pete Ballie am Kolderstock verrückt. Die „Isabella III.“ krängte mal nach Backbord, mal nach Steuerbord über, und es wirkte tatsächlich so, als „treibe“ sie infolge eines dreisten Überfalles der Pinassenbesatzung von der Reede ab.

Der Lärm auf der Reede nahm zu, denn Philip Hasard Killigrews Mannschaft beteiligte sich nun nach Kräften an dem Gebrüll – damit es so echt wie möglich wirkte. Ben Brighton ließ ellenlange Tiraden vom Stapel. Die anderen stimmten mit ein, so gut sie konnten. Einige deftige Ausdrücke wie „Maldido“ und „Mierda“ hatten sie immerhin schon gelernt. Dan O’Flynn kreischte im Vormars, als wolle man ihn abstechen. Arwenack quietschte vor Vergnügen. Batuti ließ sich auf Deck fallen und trampelte mit den nackten Füßen. Einige andere wie Blacky, Gary Andrews, Gordon Watts, Nils Larsen, Patrick O’Driscoll und Bob Grey schrien sich die Kehlen heiser. Der Kutscher beförderte einen prall gefüllten Sack mit Abfällen übers Schanzkleid. Als er ins Wasser plumpste, sah es wahrhaftig so aus, als sei jemand baden gegangen.

Ben ließ die Vorstellung andauern. Das Theater mußte solange dauern, bis sie in der Dunkelheit außer Sicht gerieten. Ben brauchte Pete keine Anweisungen mehr zu geben. Dieser wußte ja, daß ihr Ziel die Insel Chepillo war. Sie lag etwa dreizehn Seemeilen in ostsüdöstlicher Richtung von Panama, jedoch nur eine knappe Seemeile von der Küste entfernt. An ihrer Ostseite sollte sich die „Isabella“ verstecken und dort auf die acht Männer mit der Pinasse sowie auf den Seewolf und dessen Begleiter Jean Ribault warten.

Ben trat an die Heckgalerie und betrachtete das Durcheinander, für das Ferris, Carberry und die anderen aus der Pinasse gesorgt hatten. Die Verwirrung auf den Schiffen wurde noch dadurch gesteigert, daß sich die Kapitäne und die meisten Offiziere an Land befanden. Niemand wußte recht, was er tun sollte, kurzum, das Tohuwabohu war perfekt. Um Mitternacht hatte Tucker sechs der neun Schiffe auf die letzte Reise geschickt. Wrackstücke und Schiffbrüchige trieben auf der Reede, es herrschte ein heilloser Zustand.

Ben Brighton entging nicht, daß einige Schiffbrüchige plötzlich und auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Etwas zerrte sie in die Tiefe. Ben lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Unwillkürlich schüttelte er sich und gab einen tiefen, unwilligen Laut von sich.

Blacky, der ganz in seiner Nähe an der einen Drehbasse stand, sagte: „Haie. Ist doch ein Ding, wie die immer zur Stelle sind, wenn es irgendwo einen fetten Happen zu holen gibt.“

Ben wollte etwas erwidern, wurde jedoch durch die Vorgänge am Hafen abgelenkt. Fackeln und andere Lichter wurden dort bewegt. Zweifellos trachtete man danach, Boote flottzukriegen und den Schiffbrüchigen zu Hilfe zu eilen. Ben Brighton wurde aber das Gefühl nicht los, daß es noch einen anderen Grund für die plötzlich entstandene Aufregung an der Mole gab, einen Grund, der unmittelbar mit Hasard und Jean Ribault zusammenhing.

„Verdammt und zugenäht!“

Hasard blickte entgeistert auf die Nebenpier, an der Jean Ribault und er ihr Boot vertäut hatten. Es war verschwunden. Irgend jemand hatte es sich unter den Nagel gerissen – wer, das war ganz egal, von Bedeutung war nur die Tatsache, daß die Lage nun wirklich prekär für sie wurde.

„Der Fall ist klar“, sagte Jean Ribault. „Ferris und die anderen haben zugeschlagen und lassen die neun spanischen Galeonen seewärts abtreiben und absaufen. Erste Schiffbrüchige sind hier eingetroffen, wir haben ja bruchstückweise gehört, was sie berichtet haben. Und jetzt? Jetzt wird jedes verfügbare Boot genommen, damit man die Besatzungen aus dem Wasser ziehen kann, bevor sie von den Haien aufgefressen werden.“ Er lächelte, wie das nur ein Franzose seines Kalibers konnte. „Mon ami, wir befinden uns gewissermaßen in einem aufgescheuchten Hornissennest!“

Hasard blickte sich um. Im Hafen herrschten Mordsgeschrei und ein Wirbel, als würde jeden Augenblick die ganze Stadt in die Luft fliegen. Schritte trappelten auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen und Gassen und des freien Platzes vor der Mole, Männer brüllten und fluchten, Frauen, kreischten, irgendwo weinte ein Kind, bellte ein aufgescheuchter Hund.

„Weg hier“, sagte Hasard. „Wir suchen uns woanders einen Kahn.“

Sie liefen von der Nebenpier und forschten nach einem Boot. Die Degen, die sie während des Banketts im Gouverneurspalast so erfolgreich zum Einsatz gebracht hatten, hielten sie nun wieder in den Fäusten. Denn jeden Moment konnten die Dons zur Stelle sein, die ihnen aus dem Gouverneurspalast gefolgt waren. Alfonso de Roja, der Hafenkommandant, den sie so hervorragend geblendet hatten, der Polizeipräfekt Miguel de Villanueva und der Gouverneur de Avila verspürten nicht übel Lust, ihnen eigenhändig die Köpfe abzureißen. Sicherlich würden ihre Leute nicht lange fackeln, wenn sie die Flüchtigen aufstöberten. Ganz gewiß hatten sie die Anweisung, sie auf der Stelle umzubringen.

Hasards Rolle als stolzer spanischer Capitan Diaz de Veloso war geplatzt. Er brauchte nicht länger zu schauspielern. Der Polizeipräfekt von Panama, de Villanueva, kannte den wirklichen Kapitän der ehemaligen „Valparaiso“ – den Mann, dem Hasard und seine Crew seinerzeit mittels dessen eigenem Schießpulver eine so schmähliche Niederlage beigebracht hatten. Der Seewolf und Jean Ribault hatten an dem Festbankett des Gouverneurs von Panama teilgenommen, da war de Villanueva auf der Szene erschienen und hatte Hasard sozusagen entlarvt.

Hasard und Jean hatten für Krach gesorgt, daß die Wände wackelten, dann hatten sie ihr Heil in der Flucht gesucht. Mit allem hatte der Seewolf gerechnet – nur nicht damit, daß ihnen der Weg auf diese Art abgeschnitten wurde! Alles Fluchen nutzte ihnen nichts. Sie fanden kein Boot, mit dem sie sich absetzen konnten. Sie stahlen sich von den Piers fort und schlüpften in eine winzige, unbeleuchtete Gasse. Hier drückten sie sich in einen Hauseingang und verschnauften erst einmal. Rundum tönten die Stimmen der Spanier, hallten Schritte. Aus irgendeinem Fenster über ihren Köpfen ertönte das monotone Gebet einer Frau, die allem Anschein nach glaubte, der Tag des Jüngsten Gerichtes sei gekommen.

„Parbleu, wir sitzen in der Falle“, stellte Jean Ribault so nüchtern fest, als spräche er über die tägliche Proviantverteilung an Bord der „Isabella“.

„Du fällst mir langsam auf die Nerven, Franzose“, gab Hasard zurück.

„Das ändert nichts an den Tatsachen.“

„Also schön. Was unternehmen wir?“

„Wir könnten zu Fuß gehen.“

„Deine blöden Witze sind wirklich unangebracht.“

Jean grinste. „Ich meine es todernst.“

Hasard verzog das Gesicht. „Wenn wir an der Küste entlangmarschieren, weißt du, wie lange wir da brauchen? Auf dem Wasserweg sind es dreizehn Seemeilen bis zur Insel Chepillo. Aber auf dem Landweg müssen wir Buchten hinter uns bringen und Flußmündungen umgehen oder durchschwimmen.“

„Kein erfreulicher Gedanke.“

„Eben. Ich schlage vor, wir verstekken uns. Ist der schlimmste Trubel vorüber, verdrücken wir uns in aller Gemütsruhe.“

„Hm.“

„Was soll das heißen – hm? Irgendwann müssen die Boote ja zurückkehren. Wir nehmen dann eins in Beschlag. Wahrscheinlich wird erst in der nächsten Nacht etwas daraus, aber so lange müssen wir uns eben gedulden.“

„Da liegt das Problem nicht“, erwiderte der Franzose leise. „Wir müssen ein geeignetes Versteck finden. Die Phillips werden doch alles nach uns absuchen, werden jeden Kistendeckel ein paarmal umdrehen, um ja keinen Platz auszulassen, an dem wir uns verkrochen haben könnten. Wir müssen hundertprozentig auf Nummer Sicher gehen. Aber wie? Wo? Kennst du dich so gut in Panama aus?“ Er blickte nach oben, um herauszufinden, hinter welchem Fenster die Frau betete.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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0+
Umfang:
120 S. 1 Illustration
ISBN:
9783954392698
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Bookwire
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