Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 196»
Impressum
© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-532-3
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
1.
Jetzt, am frühen Morgen nach der Nacht, die für die Seewölfe so außerordentlich turbulent verlaufen war, ließ, der Wind aus Südwesten ganz unverhofft nach. Sein Pfeifen und Heulen schwächte mehr und mehr ab und wurde zu einem verstohlenen Wispern, das durch die großen, lappigen Blätter der Farnkräuter und durch die Wipfel der seltsamen Bäume des neuen Landes kroch.
Dann riß auch der schwärzliche Wolkenvorhang über der Ankerbucht der „Isabella VIII.“ auf, und faserige blaßblaue Löcher unterschiedlicher Größe traten hier und da zum Vorschein. Sonnenstrahlen stießen – zunächst noch zögernd, densten Arbeiten verrichtet. Ja, wurden die denn nie müde?
Der Schimpanse stieß einen tiefen Seufzer aus. Für ihn waren diese Zusammenhänge viel zu kompliziert. Und fragen konnte er die Männer auch nicht, was es denn nun wieder zu diskutieren gab. Er verstand ihre Sprache nicht. Umgekehrt begriffen auch sie ihn nicht, wenn er manchmal versuchte, ihnen etwas auseinanderzusetzen.
Hiermit tröstete er sich. Im übrigen begnügte er sich damit, den Narbenmann mit dem großen, eckigen Kinn aus trüben Augen anzusehen und bittend die rechte Hand vorzustrecken. Wieder gab er einen wehleidigen Laut von sich und zog die Miene eines Märtyrers.
„Du kannst mich mal“, sagte der Profos zu dem Affen. „Wenn du glaubst, du kriegst eine Nuß, hast du dich getäuscht. Friß von mir aus Brotfrucht, bis sie dir zu den Ohren ’rausquillt.“
„Laß doch den Affen“, sagte Ferris Tucker. „Was hat er dir denn getan?“
„Nichts, aber er könnte sich nützlich machen“, erwiderte Carberry unwirsch. „Wenn er ein schlauer und fleißiger Affe wäre, dann würde er sich den Schwab-berdweil und den Scheuerstein schnappen und damit die Planken putzen, bis wir unser Spiegelbild darauf sehen können.“
Die Männer stießen sich untereinander an und grinsten sich zu. Natürlich hatte Ferris Tucker den Nagel auf den Kopf getroffen. Carberry wollte es zwar nicht zugeben, aber er hing an dem Aracanga Sir John. Damals, als sie sich in die grüne Hölle des Amazonas’ vorgewagt hatten, dorthin, wo vor ihnen noch kein weißer Mann gewesen war, war der bunte Vogel ihnen zugeflogen. Auf Carberrys Schulter war er gelandet, und seitdem waren der bärenstarke Mann und der redselige Papagei ein Herz und eine Seele.
Und auch an Arwenack hatte der Profos einen Narren gefressen, das wußten alle. In der rauhen Schale steckte ein weicher Kern – Ed Carberry hatte ein Herz für Tiere. Da er dies jedoch für eine Schande hielt, ließ er keine Gelegenheit aus, über das „Viehzeug“ zu schimpfen und es in Grund und Boden zu verwünschen.
Matt Davies wollte gerade wieder eine seiner bissigen Bemerkungen fallenlassen, da ertönte über ihren Köpfen ein scharfer, zischender Laut.
Sofort hoben sie alle die Köpfe – auch Ben Brighton, der erste Offizier und Bootsmann der „Isabella“, der auf dem Quarterdeck stand.
Dan O’Flynn gestikulierte vom Großmars zu ihnen herunter. Er hatte eine Bewegung im Ufergestrüpp registriert, aber er wollte seine Kameraden nicht durch Rufe darauf hinweisen – zweifellos, um jenen, die da im Dickicht rumorten, nicht zu verraten, daß er sie bereits entdeckt hatte.
„Achtung“, sagte Ben verhalten. „Vielleicht starten die Eingeborenen einen neuen Angriff. Geht vorsichtshalber auf Gefechtsstation, Männer.“
„Aye, Sir“, murmelten die Männer.
„Es könnten auch die Riesenvögel sein“, sagte Carberry. „Hölle, was tun wir, wenn sie durchs Wasser zu uns ’rüberkommen und zu entern versuchen?“
„Ich glaube nicht, daß sie schwimmen können“, raunte der Kutscher, während er wie die anderen seinen Blick nicht vom Uferdickicht nahm.
„Glauben ist nicht wissen“, sagte der Profos störrisch. „Und Old O’Flynn hat es ja prophezeit: Die Biester sind Schimären, die uns alle vernichten werden. Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu. Wir hätten gut daran getan, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden.“
Ferris Tucker schüttelte den Kopf. „Mein Gott, Ed, so kennt man dich sonst ja gar nicht.“
„Willst du damit sagen, daß mir die Hosen flattern?“
„Tun sie das?“
„Nicht die Spur, du Holzwurm.“
Ferris grinste. „Na bitte, das wollte ich ja nur hören. Danke, Ed.“
Der Profos blickte ziemlich irritiert drein. Eigentlich hatte er eine wilde Drohung ausstoßen wollen, aber Ferris hatte ihm glatt den Wind aus den Segeln genommen. Irgendwie fühlte Carberry sich verschaukelt, doch fand er keinen Ansatzpunkt, um eine geharnischte Antwort geben zu können.
Dan O’Flynn hatte sich so weit über die Segeltuchumrandung des Großmarses gebeugt, daß es aussah, als stürze er jeden Moment hinunter. Aber das geschah natürlich nicht. Trotz seiner Müdigkeit hielt Dan sich mit der altgewohnten Sicherheit auf dem selbstgewählten Posten. Fast die ganze Nacht und die Morgenstunden über hatte er unentwegt nach allen Seiten Ausschau gehalten. Nichts konnte seinen scharfen Augen entgehen. Und so war er jetzt selbstverständlich auch der erste, der entdeckte, wer oder was die Bewegungen im Gebüsch hervorgerufen hatte.
„Deck!“ schrie er plötzlich. „Es sind Smoky und Al Conroy!“
Richtig, zwei Männergestalten verließen das dichte Farngestrüpp und liefen auf den Platz zu, an dem das eine Beiboot der „Isabella“ vertäut lag.
Es war die Jolle, die Hasard und sein siebenköpfiger Landtrupp während der Nacht benutzt hatten, um ans Ufer zu gelangen.
Smoky und Al winkten zur „Isabella“ hinüber, und die Crew erwiderte den Gruß mit Johlen und Pfeifen.
Gleich darauf verstummte die Begeisterung aber wieder. Der Decksälteste der „Isabella“ und Al Conroy hatten die Jolle gelöst und waren hineingeklettert. Jetzt schickten sie sich an, zur Galeone zu pullen.
„Verdammt und zugenäht“, sagte Ben Brighton. „Wo in aller Welt stekken die anderen – Hasard und die Zwillinge, Bill, Shane, Old O’Flynn, Blacky und Pete?“
Die Frage schwebte in der Luft. Es schien keine Antwort darauf zu geben.
Als es nur noch etwa zwanzig Yards waren, die das Boot und die Galeone voneinander trennten, richtete sich Smoky von seiner Ducht auf und hielt mit dem Pullen inne. Er wandte den Kopf und rief Ben und den anderen zu: „Ihr braucht euch keine Sorgen mehr zu machen! Hasard und der Rest der Gruppe sind wohlauf! Wir haben die Zwillinge gefunden! Genügt euch das?“
„Ihr Himmelhunde!“ brüllte der Profos. Hoch richtete er sich am Schanzkleid auf und schüttelte die Faust. „Hättet ihr das nicht gleich sagen können?“
Smoky lachte. „Wir dachten, ihr würdet uns auf die Entfernung bis zum Ufer nicht verstehen!“
Rasch war die Jolle jetzt heran und ging längsseits der Bordwand der „Isabella“. Die Jakobsleiter war noch seit der ereignisreichen Nacht ausgebracht und am Schanzkleid belegt. Smoky und Al vertäuten die Jolle und enterten an den hölzernen Sprossen auf. Sie sprangen auf die Kuhl und begrüßten stürmisch ihre Kameraden.
„Wir brauchen erst mal eine Stärkung“, sagte Smoky. „Wir haben einen ziemlich langen Marsch hinter uns.“
„Ich hole Rum“, sagte der Kutscher. Er drehte sich um und eilte zur Kombüse.
„Uns wäre es lieber, wenn du den Rum mit heißem Wasser verdünnen würdest!“ schrie Al ihm nach.
Ben Brighton hatte das Quarterdeck verlassen und trat vor die beiden hin. „So“, sagte er. „Jetzt macht’s mal nicht so spannend. Was ist geschehen? Wo habt ihr Philip junior und Hasard junior gefunden, und warum seid ihr nicht gleich alle zurückgekehrt?“
Smoky grinste. „Die Zwillinge haben heute nacht einen Schutzengel getroffen, sonst hätten die Maoris sie wahrscheinlich überwältigt und verschleppt. Ja, sie hätten sie ganz bestimmt in ihren Pah gebracht, wie sie es auch mit Bill vorgehabt hatten …“
„Maoris? Pah? Was sind denn das für komische Wörter?“ rief Luke Morgan.
„Und was ist das für ein Schutzengel, von dem du faselst?“ knurrte der Profos. „Ist dir die feuchte Dschungelluft nicht bekommen?“
Ben hob die Hände. „Ruhe, nicht alle durcheinander! Laßt Smoky zu Ende reden!“
Die Männer verstummten. Ben hatte von Hasard das Kommando über die „Isabella“ übernommen, seine Worte hatten Befehlsgewalt.
Smoky grinste immer noch. „Also, ich will mich deutlicher ausdrücken. Die Maoris sind die Eingeborenen, mit denen wir schon so nett Bekanntschaft geschlossen haben. Der Pah – das ist ihr Dorf. Und der Schutzengel, der Philip und Hasard aus der Patsche geholfen hat, ist ein waschechter Engländer. Er heißt Sumatra-Jonny und stammt aus Bristol. Er hat uns so ziemlich seine ganze Lebensgeschichte erzählt, aber wir haben keine Zeit, sie euch jetzt zu wiederholen.“
Er unterbrach sich, denn der Kutscher war mittlerweile mit zwei Mucks voll heißem Wasser und Rum eingetroffen. Smoky und Al nahmen die Gefäße entgegen und tranken in kurzen Schlucken. Erst, als er seine Muck fast bis zur Hälfte geleert hatte, fuhr Smoky fort.
„Sumatra-Jonny hat die Zwillinge in die Berge geführt, um sie vor den Maoris zu schützen. Dort oben hinauf, ins vulkanreiche Gebiet mit den Geysiren, den Schlammvulkanen und den wassergefüllten Sinterterrassen, trauen sich die Wilden nämlich nicht, weil sie glauben, dort hausen ihre Gottheiten.“
„Hol’s der Henker“, brummte Carberry. „Das ist vielleicht eine wilde Geschichte, Mann. Ja, wie, zum Teufel, habt ihr denn die Spur bis in die Berge verfolgen können?“
„Dreimal darfst du raten“, sagte Al Conroy.
Carberrys Augen begannen wild zu funkeln, und seine Miene verzerrte sich wieder zu einer zornigen Grimasse. „Ich will aber nicht raten, Mister Conroy. Ich will’s von dir hören.“
„Sir John“, sagte Smoky schlicht. „Wir fanden ihn in einem Wald aus Kaurifichten. Er hatte sich verirrt, trug aber eine Botschaft von den Zwillingen am Bein. Sie hatten sie auf ein Stückchen Rohleder geritzt.“
„Verdammt!“ Der Profos gab sich alle erdenkliche Mühe, immer noch grimmig dreinzuschauen. „So war das also. Und wo ist das verfluchte Mistvieh abgeblieben?“
„In den Bergen. Bei Jonnys Wohnhöhle. Bei Hasard und den anderen“, erwiderte Al Conroy fröhlich.
„Der Teufel soll die alte Nebelkrähe holen“, sagte der Narbenmann. „Jetzt hab ich sie also wieder am Hals. O Hölle und Verdammnis, was für einen miesen Fang habe ich doch mit dem elenden Biest gemacht.“
Er fluchte noch eine Weile herum, aber keinem entging, daß sich seine Miene merklich geglättet hatte. Und noch eine Wandlung ging mit dem rüden, rauhbeinigen Profos vor sich: In seinen Augen stand jetzt ein fast glückseliger, gerührter Ausdruck. Er wollte es nicht eingestehen, aber er freute sich schon jetzt auf das Wiedersehen mit Sir John. Plötzlich schien er bereit zu sein, sich mit aller Welt zu versöhnen, auch mit den Maoris, wenn es sein mußte.
„Was ist mit den Riesenvögeln?“ wollte der Kutscher wissen. „Haben die euch nicht angefallen?“
„Die Moas?“ Smoky winkte ab. „Die sind friedlich. Es gibt noch andere Laufvögel auf Neuseeland, aber kein einziger davon ist für die Menschen gefährlich. Und was noch erstaunlicher ist: Es gibt keine Raubtiere auf der Insel.“
„Augenblick mal“, sagte Sam Roskill verblüfft. „Woher habt ihr denn all diese Weisheiten?“
„Von Sumatra-Jonny natürlich, das ist doch klar“, erklärte der Kutscher.
Smoky nickte. „Stimmt haargenau. Er lebt schon seit anderthalb Jahren hier, wenn auch gegen seinen Willen. Er wurde hier ausgesetzt, und zwar von einem Sklavenfänger, auf dem er irrtümlich angeheuert hatte. In den achtzehn Monaten seines Hierseins hat er alles kennengelernt, was hier kreucht und fleucht. Es ist hochinteressant, seinen Berichten zuzuhören.“
„Neuseeland, so heißt also diese Insel?“ erkundigte sich Matt Davies.
„So hat Sumatra-Jonny sie getauft.“
„Aber wir dachten doch, dies wäre immer noch das Südland!“ rief Jeff Bowie. „Ist es denn ganz sicher, daß dieser Jonny sich nicht täuscht?“
„Völlig sicher“, erwiderte Smoky.
Ben Brighton sagte: „Hasard hat das ja von Anfang an behauptet. Und er hat recht behalten, das müssen wir ihm neidlos zugestehen.“
Dan O’Flynn, der im Großmars jedes Wort verstanden hatte, legte in diesem Moment die Hände als Schalltrichter an den Mund und rief zu ihnen nach unten: „Und mein Alter war auch überzeugt davon, daß wir hier eine Insel vor uns haben und nicht den rätselhaften Kontinent!“
„Streitet das vielleicht jemand ab?“ brüllte der Profos. „Ihr O’Flynns seid doch alle gleich: vorlaute Dickschädel, Besserwisser und Meckerbeutel. Man sollte euch die Haut in Streifen abziehen, jawohl, das sollte man!“
„Sir!“ schrie Dan. „Mister Brighton, darf ich abentern, um Mister Carberry meine Meinung zu sagen?“
„Abgelehnt!“ rief Ben zurück. Er wandte sich dem Decksältesten zu und sagte: „So weit, so gut, Smoky, aber du hast eine meiner Fragen noch nicht beantwortet. Warum seid ihr nicht alle zur ‚Isabella‘ zurückgekehrt?“
„Befehl von Hasard“, erwiderte Smoky. „Al und ich haben die ausdrückliche Order, den Profos, Ferris und Batuti zu holen und mit ihnen in die Berge aufzusteigen. Der Rest der Crew bleibt an Bord und hält sich bereit, um einen eventuellen Angriff der Maoris auf unsre alte Lady zurückzuschlagen. Ferris, du sollst so viele Hämmer und Äxte wie möglich mitnehmen. Batuti, vergiß deinen Morgenstern nicht.“
„Was, wie?“ sagte Carberry. „Sollen wir vielleicht die Felsen zertrümmern?“
Fast alle grinsten, aber Smoky blieb ernst.
„Genau das“, erwiderte er. „Es gilt, in einer Moa-Höhle, die Jonny genau kennt, ein Stückchen Schwerarbeit zu leisten. Aber Hasard meinte, dazu würdet ihr wohl gern bereit sein.“
Ben Brighton verzog ärgerlich das Gesicht. „Jetzt hör aber endlich auf, uns so auf die Folter zu spannen, Smoky. Es muß doch einen triftigen Grund dafür geben, sonst hätte Hasard euch nicht mit einer solchen Order losgeschickt.“
„Ja. Es gibt einen sehr triftigen, handfesten Grund.“
„Und der wäre?“
„Auf Neuseeland liegt Gold“, sagte Smoky. „Man braucht es nur dem Berg abzugewinnen.“
Die Unterkiefer der Männer klappten nach unten. Sprachlos starrten sie ihren Decksältesten an.
2.
Erst kurz vor dem Anbruch der Mittagsstunde erreichten Smoky, Al Conroy, Carberry, Ferris Tucker und der Gambia-Mann das Ziel hoch oben in den Bergen. Der Weg war nicht mehr so mühselig wie beim erstenmal, denn Smoky und Al hatten sich genau eingeprägt, wie man die Geysire, die Schlammlöcher, die Schwefelgasquellen und die wassergefüllten Kieselsinterterrassen trokkenen Fußes hinter sich brachte. Aber zeitraubend war der Aufstieg immer noch.
Vor der Höhle, in der die Zwillinge mit ihrem Beschützer Jonny die Nacht verbracht hatten, wurde die fünfköpfige Gruppe bereits von Hasard, Shane, dem alten O’Flynn, Bill, Blacky, Pete, Jonny und den Zwillingen erwartet. Sir John hob krächzend von der Schulter des Seewolfs ab, flatterte zum Profos hinüber und ließ sich mit einem Laut auf dessen Schulter nieder, der beinah wie ein wohliges Schnurren klang.
„Du blinde Schnepfe“, sagte Carberry mit verdrießlicher Miene. „Hab ich dich vielleicht gerufen?“
Sir John knabberte zutraulich an dem großen Profos-Ohr herum. Carberry war das zwar wieder mal peinlich, aber nach einigen erfolglosen Versuchen, den Vogel wegzuscheuchen, ließ er ihn gewähren.
„Da seid ihr ja endlich“, sagte der Seewolf. „Wir haben uns schon gefragt, ob ihr wohl in eine heiße Quelle gefallen seid. Los, wir wollen keine Zeit mehr verlieren.“
Ferris Tucker bedachte den Sumatra-Jonny beim Nähertreten mit einem höchst argwöhnischen Blick. Wie kann man so einem Kerl vertrauen? fragte er sich. Herrgott, was für eine Jammergestalt!
Jonny bemerkte die Blicke, die nicht nur der rothaarige Riese, sondern auch der Profos und der schwarze Herkules auf ihn abschossen, und er begann wieder, verlegen an seiner total zerlumpten, schmutzigen Kleidung herumzuzupfen.
„Tut mir leid, daß ich so ein schlechtes Bild abgebe“, sagte er. „Aber was Besseres als meine alte Seemannskluft hab ich hier nicht auftreiben können. Zwar habe ich mir den Federmantel und die Gesichtsmaske genäht, um die Maoris zu täuschen und ihnen als Dämon zu erscheinen, aber – nun, darin sehe ich auch nicht viel besser aus.“ Er kratzte sich am Hinterkopf. Sehr überzeugend war seine Rede nicht ausgefallen.
Ferris, der Profos und der Gambia-Mann betrachteten den Fremden, der einen verfilzten Bart und kleine, gerötete Augen hatte, nach wie vor mit einer Mischung aus Mißtrauen und Geringschätzung. Der Mensch, der sich ihnen da als der „Schutzengel“ der Zwillinge präsentierte, sah nicht nur unglaublich verwahrlost aus, er war auch von exemplarischer Häßlichkeit. Unter seiner fleischigen, roten, verwachsen wirkenden Nase klaffte ein viel zu großer Mund mit schadhaften Zähnen. Unter seinem langen, schmuddeligen Bart wölbte sich ein enormer Bauch, der in keiner Proportion zum Rest des seltsamen Körpers stand. Krumme kurze Beine, um deren Füße Lappen von undefinierbarer Farbe gewickelt waren, trugen die gesamte unglückselige Konstruktion, aber sie erweckten den Eindruck, als würden sie das Mannsbild jeden Moment umkippen lassen.
Der Seewolf lachte und trat zu den soeben Eingetroffenen. „Keine Sorge, Männer, Jonny ist in Ordnung. Er ist eine ehrliche Haut, soviel verrät mir meine Menschenkenntnis. Und er hat meinen Söhnen aus der Patsche geholfen. Wenn das nicht zählt!“
„Aye, Sir“, sagte Ferris Tucker und streckte dem Zerlumpten seine klobige Hand entgegen. „Hallo, Jonny, ich bin Ferris Tucker. Der Zimmermann der ‚Isabella‘.“
Jonny drückte die ihm dargebotene Hand und begann zu grinsen. „Freut mich, Mister Tucker. Wir werden schon gut miteinander auskommen. Du wirst dich an Bord nicht über mich beklagen.“
„Was denn?“ stöhnte der Profos. „Wie denn? An Bord? Heißt das etwa, daß wir diesen … Ich meine: Heuert dieser Jonny jetzt etwa bei uns an?“
„Na, hör mal“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn. „Du willst ihn doch wohl nicht hierlassen, unter Tausenden von Kannibalen?“
„Hol’s der Teufel“, stieß Carberry hervor. „Sie sind also doch Menschenfresser, diese Maoris. Hab ich’s mir doch gedacht.“
„Sie verzehren ihre Gefangenen aber nur aus rituellen Gründen“, sagte Philip junior und gab damit zum besten, was er und sein Bruder Sumatra-Jonnys Erzählungen entnommen hatten.
Carberry grinste freudlos. „Das beruhigt mich aber, Junge. Verdammt, und wie mich das beruhigt.“
Der Seewolf sagte: „Ed, ich habe Jonny genehmigt, mit uns weiterzusegeln. Aber ich habe ihm auch erklärt, daß er bei uns wie jeder andere Decksmann zu arbeiten hat und bedingungslos unserer Borddisziplin unterworfen ist.“
Carberry stieß einen schnaubenden Laut aus und rieb sich die Nase. „Ja, die Disziplin. Die wird bei uns auf der ‚Isabella‘ ganz groß geschrieben. Denn gerade bei so einer Weltumsegelung und der weiten Heimreise nach England können an Bord die wüstesten, haarsträubendsten Dinge passieren.“
„Mich zieht zwar vieles nach Merry Old England zurück“, sagte Sumatra-Jonny. „Aber ich habe beschlossen, mich noch ein oder zwei Jahre auf Sumatra und in Malakka umzusehen. Wer weiß, wann ich jemals wieder dorthin gelange. Deshalb würde ich auf das nächste Schiff, dem wir begegnen und dessen Kurs zu den Sunda-Inseln hinaufführt, überwechseln.“
„In dieser Ecke Welt herrscht ja ein reger Schiffsverkehr“, brummte der Profos. „Jeden Tag läuft ein dicker Rahsegler vorbei, was?“
Jonny lachte. „Das nicht gerade, aber ich habe bestimmt Glück. Wenn wir keine Engländer treffen, können es von mir aus auch Holländer oder Franzosen sein, die mich mitnehmen. Ja, vielleicht sogar Spanier oder Portugiesen.“
„Die sind besonders gut auf unsereins zu sprechen“, versetzte Carberry. „Die schneiden dir gleich die Ohren ab, wenn du dich ihnen zeigst, Jonny aus Bristol, und das würde mir für deine großen Horchwerkzeuge sehr leid tun.“
Alle lachten jetzt, und der Seewolf sagte: „Hör auf, Ed. Sei nicht so unfreundlich zu unserem Landsmann.“
„Bin ich das?“ Carberry blickte sich verdutzt nach allen Seiten um, dann wandte er sich wieder Jonny zu. „Ho, dem alten Carberry soll keiner nachsagen, daß er einen Engländer mies behandelt oder gar kujoniert. Hölle und Teufel, bei uns sind sogar schon Spanier mitgesegelt, und auch denen hat’s prächtig gefallen.“ Er spielte mit diesem Satz auf Serafin und Joaquin, die ehemaligen Decksleute der „Hernán Cortés“, an. Diese beiden waren als Besatzungsmitglieder mit der „Isabella“ von Tutuila nach Espiritu Santo gereist.
„Also, Jonny.“ Der Profos reichte dem zerlumpten Mann seine große Hand. „Willkommen in der Crew der ‚Isabella‘. Bei uns hast du was zu lachen, das schwöre ich dir, und mit mir kommen alle bestens aus. Stimmt’s?“
„Klar“, sagte Al Conroy, der nur mühsam sein Lachen unterdrücken konnte. „Wir verstehen uns so großartig, daß unser Profos nie einen Anlaß zum Fluchen und zum Brüllen findet.“
Jonny ergriff die Profos-Hand und hielt tapfer stand, als Carberry ihm die Rechte zu zerquetschen drohte.
„Mit mir wirst du keinen Ärger haben, Mister Carberry“, sagte er ein wenig gequält.
Batuti trat auf den dicklichen Mann zu und sagte: „Ich bin Batuti aus Gambia, Freund. Schwarzes Farbe ist nicht aufgemalt, wenn dich wer fragt.“
„Mann!“ Sumatra-Jonny begann zu kichern. „Ich bin doch nicht von gestern und selbst schon in Gambia gewesen, ja, da staunst du, was? Und wenn ich dir erzähle, wie herzlich ich dort von einem Stamm deiner Brüder aufgenommen und beköstigt worden bin, wirst du begreifen, was für eine prächtige Meinung ich von deinesgleichen habe.“
„Donnerkeil“, entfuhr es dem schwarzen Herkules. „In welches Gegend war das, Jonny?“
„Darüber könnt ihr euch später noch ausführlich unterhalten“, sagte der Seewolf. „Laßt uns jetzt aufbrechen. Jonny, du marschierst mit mir an der Spitze unseres Trupps und weist uns den Weg. Ist der Platz, an dem das Gold liegt, weit von hier entfernt?“
„Es sind gut zwei Meilen bis dorthin“, erklärte Sumatra-Jonny. „Aber die Höhle liegt viel tiefer als mein Schlupfwinkel hier, und die Strecke dorthin ist nicht so beschwerlich wie der Weg über die Sinterterrassen.“
Ferris Tucker hielt ihn noch einmal kurz zurück, bevor er mit dem Seewolf die Führung der Gruppe übernahm. „Sag mal, bist du wirklich ganz sicher, daß es Gold ist, das du entdeckt hast?“
Jonny zerrte den Klumpen, den er am frühen Morgen schon dem Seewolf gezeigt hatte, wieder aus der einzigen Tasche hervor, die in seinem Fetzengewand verblieben war. Demonstrativ hielt er ihn Ferris unter die Nase.
Carberry und Batuti rückten neugierig näher.
„Vielleicht sehe ich so aus, als wäre ich nicht mehr ganz richtig im Kopf“, sagte Jonny. „Aber ich bin’s noch. Das hier ist wirklich und wahrhaftig Gold, und ich weiß, daß es eine ganze Ader davon gibt, die ich bloß allein nicht freilegen kann. Mister Tucker oder Mister Carberry – oder du, Batuti, wollt ihr mal ’reinbeißen, um euch von der Echtheit zu überzeugen?“
Ferris schüttelte grinsend den Kopf. „Danke, nicht nötig. Mit Gold kennen wir uns aus. Ich sehe es auf den ersten Blick, daß dies ein massiver Klumpen des geliebten Metalls ist.“
Jonny zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Ach? Du verstehst dich also auf die Beurteilung von Gold und Silber? Bist du ein richtiger Fachmann? Ein Goldschmied oder so?“
„Unsinn. Ich habe dir doch gesagt, daß ich der Schiffszimmermann auf der ‚Isabella‘ bin.“
„Wir sind Korsaren“, erklärte der Profos. „Das sagt dir doch genug, Jonny, oder?“
„Noch lange nicht alles.“
„Dann warte ab“, sagte Carberry. „Du erfährst schon noch früh genug, was für mordsgefährliche Schnapphähne wir sind.“ Er klopfte sich an den Waffengurt, an den er zwei Hämmer, zwei Äxte und ein Beil gehängt hatte. „Mit diesen hübschen kleinen Werkzeugen hier können wir nicht nur Gold aus den Felsen klopfen, merk dir das. Hast du es dir auch wirklich gut überlegt, ob du zu uns an Bord willst?“
„Ed“, sagte der Seewolf. „Erzähl keine Schauergeschichten. Das ist doch Donegals Privileg.“
„Mein was?“ fragte der alte O’Flynn verdutzt.
„Dein Vorrecht“, sagte Hasard. „Ed, Ferris, Batuti, Al und Smoky, berichtet mir lieber, ob ihr auf dem Weg vom Schiff hierher Maoris begegnet seid.“
„Nein, Sir“, erwiderte der rothaarige Riese. „Nicht den Schatten eines Wilden haben wir entdeckt. Nur ein paar Riesenvögel haben wir gesehen, aber die haben gleich Reißaus genommen.“
„Die Maoris sind wie vom Erdboden verschluckt“, sagte Big Old Shane. „Ist das nun ein gutes Zeichen oder nicht?“
„Es ist ein schlechtes Zeichen“, behauptete der Sumatra-Jonny düster. „Sie hecken eine neue Teufelei aus, verlaßt euch darauf.“
Der Ruf des Ausgucks im Vormars war soeben erst verklungen, und schon hatte Don Lucas el Colmado sein Spektiv hochgerissen und vors Auge gehoben und im kreisrunden Ausschnitt der Optik den schmalen Streifen gesichtet, der sich im Osten über der Kimm erhob. Eine blasse graue Linie, mehr war es nicht. Und doch waren er, der Kommandant des spanischen Schiffsverbandes, und seine Männer sich schlagartig der gleichsam geschichtlichen Bedeutung ihrer Entdeckung bewußt.
„Land in Sicht!“ schrien nun auch die Männer auf der Kuhl. Die Decksleute warfen ihre Mützen hoch und stießen Pfiffe und johlende Laute aus.
Die Soldaten trommelten mit den Kolben ihrer Musketen auf den Planken herum und riefen immer wieder: „Es lebe Don Lucas! Es lebe der König! Es lebe Spanien!“
Wie weggewischt war jetzt die müde, apathische Stimmung, die sich während der letzten Tage der schon Monate dauernden Reise bis ins Unerträgliche gesteigert hatte. Nach dem letzten Sturm, den die drei Schiffe Seiner Allerkatholischsten Majestät, König Philipps II. von Spanien, abgeritten hatten, hatten Erschöpfung, Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit in den Reihen der Seeleute und Seesoldaten mehr und mehr um sich gegriffen. Es hatte nach Meuterei und Fahnenflucht gerochen. Über einen Monat war es her, daß sie kein Land mehr gesehen hatten. Die Vorräte gingen zur Neige. Krankheiten drohten auszubrechen. In dieser Situation wirkte das unverhoffte Auftauchen des Landes auf den Comandante Don Lucas el Colmado wie ein Geschenk des Himmels.
Mit leicht abgespreizten Beinen stand er auf der Back seiner Dreimast-Galeone „San Rosario“ und spähte ausgiebig durch das Rohr. Er genoß diesen Augenblick in vollen Zügen, ein Gefühl des Triumphes bemächtigte sich seiner und ließ ihn nicht mehr los.
„Wir haben es geschafft!“ brüllte hinter seinem Rücken eine Stimme, die er klar als die seines Bootsmannes identifizierte. „Das ist das Südland! Signalisiert zur ‚Sebastian Guma‘ und zur ‚San Biasio‘ hinüber, daß wir unser Ziel endlich erreicht haben und …“
Der kostenlose Auszug ist beendet.