Seewölfe - Piraten der Weltmeere 169

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 169
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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-506-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

1.

Vom Frühlingserwachen war hier, nördlich des 50. Breitengrades, weiß Gott nichts zu spüren. Bitter kalt war es geworden, seit sie Neufundland, das auch nicht gerade das Paradies auf Erden war, verlassen hatten. Das Sonnenlicht wärmte nicht mehr, es war von stumpfem, fahlem Glanz.

Erfreulicherweise hatte aber der Sturmwind nachgelassen, und die nur noch mäßig bewegte See schien unter dem eisenfarbenen Himmel von einem silbrigen Geäder überzogen zu sein.

„Wenigstens ein Lichtblick“, sagte Smoky, der Decksälteste, der sich eine dicke Wolljacke übergezogen hatte und neben Al Conroy, Will Thorne und Blakky auf der Back der „Isabella VIII.“ stand und voraus blickte. „Aber wohin führt uns dieser Törn eigentlich?“

„Direkt nach Thule“, erwiderte Al. „In eine Stadt aus Eisblöcken, deren komischen Bewohnern im Lauf der Zeit wegen der Mordskälte ein Fell gewachsen ist …“

„Ach, hör doch auf.“

„Dorthin, wo man das Gold mit dem Eispickel freilegen muß.“

„Blödsinn“, brummte Smoky. „Glaub doch nicht, daß du mich mit deinen Sprüchen beeindrucken kannst. Hendrik Laas hat selbst gesagt, daß es da oben kein Gold gibt.“

„Ja, Hendrik Laas“, sagte Will Thorne. „Wenn der jetzt mit dabeiwäre – er könnte uns genau sagen, wann die ersten Eisberge erscheinen und die Wale und die weißen Bären.“

„Er ist nun aber mal nicht mit von der Partie“, erklärte Blacky. „Er segelt mit seiner ‚Sparrow‘ vor Dänemarks Küsten und fischt Heringe oder weiß der Teufel was. Na, ich gönne es ihm. Und wir kommen auch ohne den guten Hendrik aus, Will, glaub’s mir.“

„Klar kommen wir ohne ihn aus“, sagte der Segelmacher der „Isabella“, aber so richtig überzeugt war er davon nicht, vor allen Dingen deshalb nicht, weil er an das verdammte Packeis dachte, mit dem sie vor einiger Zeit schon einmal böse zu tun gehabt hatten.

Die „Isabella VIII.“ segelte mit raumem Wind nordwestlichen Kurs, und nicht einmal ihr Kapitän wußte so ganz genau, wohin die Reise nun eigentlich ging, denn das Kartenmaterial, über das er verfügte, war höchst unzulänglich. Deshalb hatte Hasard den Kurs eher „nach Gefühl“ festgelegt und verließ sich mehr oder weniger auf seinen seemännischen Instinkt.

Gewiß, schon ein Mann wie Kolumbus hatte sich vor nunmehr fast hundert Jahren mit Karten des Florentiners Toscanelli versorgt, und es hatte damals schon den Globus des Martin Behaim gegeben. Nicht ohne Karten war also die Neue Welt entdeckt worden, und seither waren die Zeichnungen viel präziser geworden, besonders, was die Darstellung des neuen, nun nicht mehr rein hypothetischen Kontinents betraf. Contarini und Mercator hatten wunderschöne Weltkarten hergestellt, und seit fünf Jahren gab es auch einen richtigen gedruckten Seeatlas, den „Mariner’s Mirror“ von Lucius Wagenhaer. Aber alle „Mappae mundi“, „Portolani“ und „Roteiros“ krankten immer noch an der großen Längenungenauigkeit – und an der höchst vagen Wiedergabe des Nordpolargebietes samt der mutmaßlichen Nordwestpassage.

Philip Hasard Killigrew hatte soeben an die Innenseite der Rückwand des Ruderhauses eine selbstgefertigte Skizze geheftet, auf der der ungefähre Kurs für Pete Ballie, den Rudergänger, eingezeichnet war. Die Skizze zeigte Bacalaos, die Neufundlandbank, das nördlich davon liegende Seegebiet und einen Küstenstrich, der von Hendrik Laas, dem Dänen, als „Labrador“ bezeichnet worden war.

An diesem Land Labrador wollte sich der Seewolf zunächst orientieren – so, wie Laas es ihm geraten hatte. Später würde er sich weiter nach Norden hinauftasten und überall nach jenen Marken suchen, die der Däne ihm beschrieben hatte, damit die Seewölfe auf dieser Reise wenigstens über eine gewisse Ortung verfügten.

Hasard trat am Backbordschanzkleid des Quarterdecks neben Edwin Carberry und folgte dessen Blick, der auf die endlos wirkende Wasserfläche gerichtet war.

„Ed“, sagte der Seewolf. „Es wird bald Zeit, daß du dir von Will Thorne aus dem Eisbärfell, das Hendrik Laas dir geschenkt hat, ein Paar Hosen schneidern läßt.“

Carberry wandte den Kopf.

„Sir“, versetzte er dumpf. „Das tue ich erst, wenn mir vor Kälte der Achtersteven abfällt.“

„Soll das etwa heißen, daß du dich genieren würdest, so schöne weiße Fellhosen zu tragen wie der Däne?“

„Ich – ach wo, natürlich nicht. Aber ein Seewolf fängt doch nicht gleich beim ersten Frosthauch zu schnattern an wie, äh – ein alter Ganter, will ich meinen. Da muß es schon dicker kommen.“

„Ed …“

„Sir?“

„Ich schätze, es kommt noch ziemlich dick für uns. Zumindest, was die Temperaturen betrifft. Ich an deiner Stelle würde da schon Vorsorge treffen.“

Der Profos kratzte sich am Kinn – was mal wieder in etwa so klang, als bewege sich ein Heer Kombüsenschaben über chinesisches Reispapier. „Wenn es wirklich so kalt wird, wie du sagst, dann stelle ich das Eisbärfell selbstverständlich Siri-Tong und den beiden Lausejungs zur Verfügung. Ist das ein Vorschlag?“

Hasard lächelte. „Das ist sehr ritterlich von dir, Ed.“

„Hölle!“ entfuhr es da dem Profos. „Nein, ich bin in Merry Old England nicht zum Ritter geschlagen worden wie du – und die feinen Manieren sind weiß der Henker nichts für mich! Ich opfere doch nur mein kostbares Fell für die Rote Korsarin und die Bengel, damit sie nicht vor Kälte klappern und damit ihnen nichts abfriert. So war das gemeint …“

„Profos“, sagte Old O’Flynn hinter ihrem Rücken. „Paß nur auf, daß du deine Haut nicht noch zu Markte tragen mußt – oder daß dir sämtliche Felle wegschwimmen.“

Carberry blickte den Alten so freundlich an wie ein hungriger Hai.

„Donegal“, brummte er. „Du hast auch schon weniger faule Witze gerissen, ehrlich.“

„Mag schon sein“, sagte O’Flynn. „Aber was diesen Törn hier betrifft, so prophezeie ich euch …“

„Donegal!“ rief Big Old Shane, der an der Querbalustrade des Achterdecks lehnte und schräg von oben auf sie herabsah. „Wir wollen’s gar nicht wissen. Deine dämlichen Spökenkiekereien interessieren uns nicht, kapiert?“

„… so prophezeie ich euch, daß wir nicht nur vor Kälte zittern werden“, fuhr der Alte unbeirrt fort. „Einen Vorgeschmack von dem, was uns erwartet, haben wir ja durch das verfluchte Schiff der Toten gekriegt. Aber das war noch gar nichts. Je weiter wir nach Norden segeln, desto größer ist die Gefahr, richtigen Gespenstern und Dämonen zu begegnen. Da oben, hab ich mir sagen lassen, gibt’s einen riesengroßen Geist, ganz aus Eis geschaffen, der mit seinem Gifthauch ganze Schiffscrews töten kann. Er bricht sich die Zapfen aus seinem Frostbart und spießt dich damit auf, Profos, ich schwör’s dir.“

Carberrys Mund hatte sich vor Staunen geöffnet, und für eine Weile war er wohl richtig gefesselt gewesen, aber jetzt verzog er verärgert das Gesicht und brummelte: „Donnegal, wage dich bloß nicht in die Reichweite meiner Fäuste. Ich bin heute früh nicht zu Witzen aufgelegt, schon gar nicht zu so faulen, wie du sie erzählst.“

„Ihr werdet noch an meine Worte denken“, sagte O’Flynn. „Ihr alle werdet euch noch mächtig umsehen und dann eingestehen: O ja, Hölle und Teufel, Donegal hat mal wieder recht gehabt! Jawohl, genau das werdet ihr stammeln, wenn die Dämonen der Finsternis ihre Klauen nach euch ausstrecken.“ Mit diesen Worten humpelte er davon und hielt Ausschau nach jemandem, bei dem er mehr Erfolg mit seinen haarsträubenden Gruselgeschichten hatte. Er stieg den Backbordniedergang zur Kuhl hinunter und fluchte leise vor sich hin.

Carberry wandte sich wieder an den Seewolf. „Was meinst du, ob wir wohl auch diese weißen Biester zu sehen kriegen – die Eisbären?“

„Zweifelst du immer noch daran, daß es sie gibt?“

„Nein, das nicht. Aber ich bin schon neugierig darauf, mal wirklich so ein Ungetüm aus nächster Nähe zu betrachten.“

„Warte, bis wir den Polarkreis erreicht haben, Ed.“

„Ja. Hoffen wir, daß wir es auch schaffen und keinen Ärger mit dem Packeis kriegen.“

„Um diese Jahreszeit wohl nicht.“

„Hat Hendrik Laas dir das gesagt?“

„Er hat mir gesagt, das Frühjahr und der Sommer seien die günstigsten Zeiten, um bis nach Thule hinaufzusegeln, weil dann die Packeisgrenze am weitesten zurückweicht.“

„So ist das“, murmelte Carberry. „Und wie hat Hendrik doch noch gleich den Eisbären genannt?“

„Nanoq.“

„Nanoq, richtig. Ein seltsames Wort. Wie sollen wir uns überhaupt mit den Eskimos verständigen, falls wir jemals mit welchen zusammentreffen?“

Der Seewolf hob den Kopf, weil Bill, der Ausguck im Großmars, in diesem Augenblick einen Ruf ausgestoßen hatte.

 

„Wir haben uns in China verständigt, Ed“, entgegnete er noch. „Wir werden das auch in Grönland tun und darüber hinaus notfalls die Hände und die Füße zu Hilfe nehmen, um mit den Leuten zu sprechen, denen wir begegnen.“

„Klar“, bemerkte der junge O’Flynn, der jetzt neben Shane an die Querbalustrade des Achterdecks getreten war. „Und bei dem Genie, das unser Profos in solchen Dingen hat, wird gerade er sehr schnell die fremde Sprache erlernen.“

Big Old Shane grinste und konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Carberry hatte Dans Worte nicht verstanden und war inzwischen ebenfalls zu sehr auf Bill, den Moses, konzentriert, um noch mitzukriegen, wie Shane und Dan sich anstießen, sonst hätte Dan O’Flynn nämlich jetzt einen Schwall übelster. Flüche in der üblichen Profos-Lautstärke über sich ergehen lassen müssen.

„Sir!“ schrie Bill von seinem Posten hoch oben im Großmars. „Da schwimmt was Backbord voraus in der See!“

Hasard legte beide Hände als Schalltrichter an den Mund. „Was ist es denn, Bill?“

„Augenblick, Sir, ich versuche gerade, Genaueres herauszukriegen …“

„Hölle und Blitz!“ brüllte Carberry. „Bill, du verlauster Affenarsch, habe ich dir nicht tausendmal gesagt, du sollst dich gefälligst klar und deutlich ausdrücken?“

„Sir!“ rief Bill. „Es ist eine Flasche, eine treibende Flasche, so wahr ich hier oben stehe!“

„Treiben lassen“, sagte Carberry. „Was sollen wir denn wohl mit so einer idiotischen Buddel anfangen, was, wie?“

Ben Brighton stieg vom Achterdeck aufs Quarterdeck und erwiderte: „Ed, das hängt doch wohl ganz von ihrem Inhalt ab.“

Carberry musterte ihn in einem Anflug von Spott. „Halt die Luft an, Ben. Welcher Blödmann würde denn wohl eine volle Buddel in den Teich schmeißen, he? Doch wohl nur einer, der total übergeschnappt ist, was, wie? Außerdem würde die ja wohl nicht schwimmen, oder?“

Bills klare Stimme ertönte wieder über ihren Köpfen: „Sir, soweit ich durch den Kieker erkennen kann, scheint was drinzustecken in der Flasche!“

„Na also“, sagte der Seewolf, ohne sich um Carberrys verdutzte Miene zu kümmern. „Pete, Ruder zwei Strich Backbord. Ed, laß anbrassen und höher an den Wind gehen, wir nehmen Kurs auf die Flasche und sehen sie uns genauer an.“

Es war ein bißchen Unruhe an Oberdeck entstanden, und Siri-Tong und die Zwillinge, die sich gleich nach dem Wecken in einem Raum des Achterkastells zusammengesetzt hatten, verließen nun die Hütte, um nachzuschauen, was vorgefallen war. Die Korsarin hatte Philip junior und Hasard junior – den „Rübenschweinchen“, wie der Profos sie meistens nannte – ein wenig Unterricht gegeben, zum Schluß aber mangels Konzentration ihrer „Schüler“ auf die Schilderung des Umgangs mit gefährlichen Giftschlangen ausweichen müssen, um ihre Aufmerksamkeit von neuem zu fesseln.

Jetzt aber waren die beiden Achtjährigen für die willkommene Abwechslung ausgesprochen dankbar. Kaum auf der Kuhl angelangt, trennten sie sich von „Madam“ und stürmten zur Back, wo sich mittlerweile der Großteil der Crew versammelt hatte, um Ausschau nach der Flasche zu halten.

Siri-Tong klomm den Backbordniedergang zur Back hoch und blickte zum Seewolf, der den Kieker sinken ließ und sich zu ihr umdrehte.

„Kein feindliches Schiff“, sagte er lächelnd. „Nur eine Flasche.“

„Was soll denn Besonderes daran sein?“ erkundigte sie sich verwundert.

„Ja, das frage ich mich auch, Madam“, sagte der Profos, der sich mit ziemlich verdrossener Miene zu den anderen gesellt hatte. Es war wirklich nicht sein bester Tag, und außerdem war ihm wegen der Fahrt ins Ungewisse mulmig zumute, was er aber natürlich nicht offen zugeben mochte.

„Sir, es ist eine ziemlich große Flasche“, meldete Bill aus dem Großmars.

Dan O’Flynn war in den Vormars aufgeentert und rief nun: „Ein zusammengerolltes Stück Papier befindet sich darin, ich kann es deutlich sehen!“

„Na bitte“, sagte Carberry. „Ein Fetzen Papier. Sonst nichts.“

„Al dachte schon, es wäre eine Höllenflasche“, sagte Smoky. „Das hätte eine böse Überraschung für uns geben können.“

„Ach, Unsinn“, begehrte Al Conroy auf. „Die Höllenflaschen sind unsere Erfindung – und die Eskimos wären meiner Meinung nach die letzten, die so was herstellen würden. Vielleicht kennen sie gar kein Pulver und keine Feuerwaffen.“

„Ganz bestimmt nicht“, pflichtete Matt Davies ihm bei. „Hendrik Laas hat auch mit keiner Silbe erwähnt, daß sie Schießpulver, Lunten und Blei benutzen.“

„Aber Al schätzt die Eskimos trotzdem als zu dumm ein“, meinte Will Thorne. „Wer Häuser aus Eis baut, muß doch eigentlich ganz schön was auf dem Kasten haben.“

„Ach, hört doch auf“, sagte Al. „Ihr wollt mich ja bloß auf den Arm nehmen – wegen meiner Bemerkungen von vorhin.“

„Du merkst aber auch alles“, sagte Smoky mit breitem Grinsen.

„He!“ rief Blacky. „Und wenn es nun kein Eskimo war, der die Flasche ins Meer geworfen hat, sondern ein Weißer? Was ist dann?“

„Wie nun, wenn sie von selbst ins Wasser gefallen ist?“ fragte Siri-Tong, der die Sache allmählich zu bunt wurde.

„Von selbst – mit einem Zettel drin?“ brummte Old O’Flynn. „Das ist eine mysteriöse Angelegenheit, sage ich. Wer weiß, ob der elenden Flasche nicht ein Fluch anhaftet, wer weiß …“

„Wir sind auf weniger als eine halbe Kabellänge an ihr dran“, ließ sich der Seewolf vernehmen, der sich wieder nach vorn gewandt hatte und angestrengt durch sein Spektiv spähte. „Das Stück Papier ist vergilbt und an einigen Stellen leicht eingerissen – und es scheint beschrieben zu sein.“

„Deck!“ schrie Dan O’Flynn. „Das sieht mir ganz nach einer Nachricht aus!“

„Ein vergilbtes, geheimnisvolles Dokument“, murmelte sein Vater. „Heiliger Strohsack, wenn das bloß gutgeht. Wenn uns das bloß kein tödliches Unheil bringt.“

Er verstummte, weil Hasard sich in diesem Augenblick wieder zu ihnen umdrehte und seinen Befehl gab.

„Wir drehen bei, stoppen, fieren ein Boot ab und fischen die Flaschenpost auf!“ rief er. „Los, beeilt euch, sonst rauschen wir glatt daran vorbei!“

Jetzt geriet auch der Profos höllisch in Fahrt. „Habt ihr nicht gehört, ihr müden Wanzen?“ brüllte er, obwohl die Männer bereits zur Kuhl hinunterhasteten und nach den Brassen, Schoten und Fallen griffen, um das Segelmanöver zu vollziehen. „Bewegt euch, ihr Lahmärsche“, schallte Carberrys mächtiges Organ über die weite, graue See, in der die „Isabella“ das einzige Schiff weit und breit zu sein schien. „Muß ich euch erst Feuer unterm Achtersteven machen, was, wie? Braucht ihr eine Sondereinladung, ihr triefäugigen Kakerlaken? Mit euch kann man keinen müden Krieg gewinnen, das sag ich euch, und ich frage mich, wer euch gezeugt hat. Davies und Bowie, grinst nicht so dämlich, ihr krummbeinigen Decksaffen, oder es gibt was über die Rippen! Bob Grey, du blinder Barsch, schnapp dir das Großgeitau und gei den verfluchten Lappen auf – oder muß ich es dir erst noch wieder beibiegen, was?“

So ging es in der gewohnten Weise weiter, bis die „Isabella“ beigedreht am Wind lag. Der Seewolf wählte die Männer für das Beiboot aus, die Jolle wurde abgefiert und wenig später von Blacky, Matt Davies, Bob Grey, Luke Morgan, Batuti und Gary Andrews auf die Flasche zugepullt.

Hasard stand aufrecht im Bug der Jolle, er wollte es sich nicht nehmen lassen, die Flasche selbst aus dem Wasser zu fischen.

2.

Die Flasche dümpelte in den graugrünen, recht trostlos wirkenden Fluten, als hätte sie immer dort geschwommen. Ihr Äußeres wies keine besonderen Merkmale auf, kein Korb- oder Bastgeflecht, das sie schützend umhüllte, keine Aufschriften, keine ausgefallenen Formen. Sie war ganz einfach nur eine „Buddel“ aus grünlichem Glas. Wenn es sich überhaupt lohnte, sie aus dem Meer zu holen, dann des Textes wegen, der auf dem Dokument festgehalten war.

Hasard bedeutete seinen Männern, mit dem Pullen innezuhalten. Er beugte sich vor, streckte die rechte Hand aus und griff nach der Flasche, während die Jolle in langsam werdender Fahrt darauf zuglitt. Einen Moment schien es Hasard so, als wolle sich die Flasche seinem Zugriff entziehen, dann aber packte er ihren Hals und zog sie an Bord.

Der Seewolf drehte die Flasche hin und her und versuchte etwas von dem zu entziffern, was auf dem angegilbten Dokument geschrieben stand. Er vermochte aber nur die Buchstaben „U-l-y“ zu lesen, und die ergaben keinerlei Sinn.

„Warum öffnest du die Flasche nicht, Sir?“ wollte Batuti wissen.

Hasard blickte auf und gab ihm und den anderen fünf Rudergasten das Zeichen zum Wenden. „Wir pullen zurück zur ‚Isabella‘. Ich will, daß alle dabei sind, wenn ich das Dokument heraushole und auseinanderrolle.“

Die Spannung wuchs, sowohl im Boot als auch an Bord der „Isabella“. Dort stand der komplette Rest der Crew am Schanzkleid versammelt und blickte der zurückkehrenden Jolle erwartungsvoll entgegen. Arwenack, der Schimpanse, war vom Großmars bis in die Hauptwanten der Leeseite abgestiegen und klatschte in die Vorderpfoten, als die Jolle längsseits ging. Sir John saß auf der linken Schulter des Profos’, der dies alles mit gemischten Gefühlen verfolgte, und stieß Worte wie „Armleuchter“, „Hering“ und „Kanalratte“ aus. Das endete damit, daß der Profos den brabbelnden Papagei schließlich von der Schulter nahm und ihn mit einem Grunzlaut im Brustausschnitt seines Wamses versenkte.

Die Männer aus dem Boot enterten an der Jakobsleiter auf. Die Jolle wurde wenig später von Luke Morgan, Batuti, Stenmark und Jeff Bowie wieder an Bord der Galeone gehievt. Hasard hatte sich inzwischen mit leicht abgespreizten Beinen vor die Kuhlgräting gestellt und zeigte den näherrückenden Männern, den Zwillingen und der Roten Korsarin die Flasche.

Besonders für den kleinen Philip und den kleinen Hasard war die Sache aufregend und von beinah exotischem Reiz.

„Was ist drin, Dad?“ rief Hasard junior. „Eine Schatzkarte?“

„Maul halten“, fuhr der Profos ihn an. „Ihr Bengel habt nur zu reden, wenn ihr was gefragt werdet.“

„Aye, Mister Carberry“, sagte Hasard junior.

Der Seewolf bewegte den Korken, der ziemlich tief in der Flaschenöffnung steckte, ein wenig mit Daumen und Zeigefinger, aber nach den ersten Versuchen hielt er inne und sagte: „Der Korken ist ein bißchen mürbe geworden. Ich bin sicher, daß er abbricht, wenn ich so weitermache. Kutscher, hol doch mal deinen Korkenzieher.“

Der Kutscher drehte sich um, lief zum Kombüsenschott, verschwand für ein paar Sekunden und kehrte mit jenem unansehnlichen Ding aus einem Stück Holz und einem Stück gebogenen Eisendraht, das er selbst konstruiert hatte, zurück. Unterdessen war die Spannung weiter gewachsen.

Hasard nahm den Korkenzieher aus der Hand des Kutschers entgegen, drückte das spitze Ende in den weichen Korken und begann zu drehen. Der Draht drang in das Material ein. Hasard drehte, bis die Spitze zum unteren Ende des Korkens herausschaute, hörte dann auf und begann vorsichtig am Holzgriff des einfachen Instruments zu ziehen.

„Hasard“, sagte Old O’Flynn warnend.

Der Seewolf fixierte den Alten mit einem keineswegs freundlichen Blick. „Donegal, geht das schon wieder los? Keine Angst, ich fliege nicht in die Luft, und es kriecht auch kein Nebeldämon aus der Flasche, der uns alle vertilgt. Du mußt nur ganz ruhig bleiben, immer hübsch ruhig, klar?“

Die Zwillinge hielten sich die Hand vor den Mund und kicherten. Carberry starrte sie an, als ob er sie mit Haut und Haaren verschlingen wolle. Siri-Tong legte den Zeigefinger an die Lippen, und daraufhin verstummten die Jungen sofort wieder.

„Hör mal zu, Sir“, sagte Old O’Flynn. „Du sprichst ja gerade so mit mir, als wäre ich ein alter Bock, der nicht mehr ganz richtig im Kopf ist.“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Aber du denkst es.“

„Donegal, leg mir nichts in den Mund, was ich nie denken oder behaupten würde, verstanden? Du weißt ganz genau, daß ich dich hoch einschätze und für einen ausgezeichneten Seemann und Kämpfer halte. Ich habe nur was gegen übertriebene Schwarzmalereien. Wenn die auch tausendmal dein liebstes Steckenpferd sind – halte dich ein wenig damit zurück.“

„Ist das ein Befehl?“

„Genau das ist es.“

„Aye, Sir“, sagte der Alte verbissen. Er wandte den Kopf, sah die Kameraden an und fragte: „He, ihr! Seid ihr auch der Meinung, ich soll die Luke halten?“

 

„Hm“, antwortete Big Old Shane.

„Ihr werdet schon noch sehen, was ihr davon habt“, zischelte Old O’Flynn.

Hasard zog den Korken aus dem Flaschenhals, und das erzeugte das typische trocken-hohle Geräusch, das die Männer nur allzu gut kannten. Er reichte dem Kutscher den Korkenzieher samt, Korken, stülpte dann die Flasche um und schüttelte das zusammengerollte Stück Papier heraus. Geschickt fing er es auf.

Die Flasche warf er Ben Brighton zu. Ben fing sie auf, betrachtete sie ausgiebig, schüttelte den Kopf und reichte sie an Ferris Tucker weiter, der sie dann seinerseits Carberry übergab.

Hasard rollte das Schriftstück auseinander und sagte: „Uns ist ein Beobachtungsfehler unterlaufen. Dies ist kein Papier, sondern gegerbtes Material. Ganz feines Leder – von irgendeinem Tier.“

„U-l-y“, buchstabierte Dan O’Flynn, was auf der ihm zugewandten Seite des Pergaments geschrieben stand. „Darauf kann ich mir keinen Reim bilden.“

Hasard hatte den Text auf der anderen Seite der Pergamentrolle mit einem Blick überflogen und ließ das Dokument ein Stück sinken. „Die Worte hier sind in tadellosem Englisch aufgeschrieben worden“, erklärte er. „Der Verfasser der Nachricht schien weder Federkiel noch Tinte zur Verfügung zu haben, er hat die Buchstaben irgendwie eingeritzt. Es muß ihn einige Mühe gekostet haben …“

„Dad“, sagte Philip junior in geradezu flehendem Tonfall. „Lies doch vor – bitte!“

„Ich steck euch gleich in die Vorpiek, ihr Rübenferkel, und zwar alle beide“, herrschte Carberry sie an – und das war keine leere Drohung, denn die Zwillinge waren wie alle anderen Mitglieder der Crew der Borddisziplin unterworfen und hatten wirklich zu schweigen, wenn es ihnen auferlegt wurde.

„Einiges ist verwischt, einiges verblaßt“, fuhr der Seewolf fort. „Trotzdem kann ich alles entziffern. Hört zu.“

Er hob das Dokument wieder vor die Augen und begann zu lesen.

„Hilfe“, stand in undeutlichen Lettern auf der gelblichen, leicht transparenten Tierhaut zu lesen. „Rettet unsere Seelen, denn sonst sind wir verloren. Kapitän Cyril Auger von der ‚Ulysses‘ ruft euch aus größter Not heraus an. Der Himmel steh uns bei, denn sie haben uns gefangen und lassen uns nicht mehr frei. Unser Schiff – verloren, gestrandet, vielleicht findet ihr es bei N 56 Grad W 60 Grad auf den Klippfelsen, die sie Tunungayualok nennen. Von dort aus sind es rund sechs Meilen in NW-Richtung, dann: eine Kanzel, vielleicht fünfunddreißig, vierzig Yards hoch, ein Einschnitt. Fünfhundert Schritte landeinwärts, und ihr stoßt auf einen verkrüppelten Baum. Von dort aus zweihundert Schritte nach W zum Bach, über ihn hinweg und weitere dreihundert Schritte nach W, wo der Platz inmitten einer Senke liegt …“

Hasard blickte die Crew über den Rand des Schriftstücks hinweg an.

„Weiter“, drängte Siri-Tong.

„Weiter geht es nicht“, sagte er. „Sicherlich hätte dieser Kapitän Cyril Auger gern noch mehr geschrieben, aber er ist offensichtlich dabei gestört worden. Wer weiß, unter welch schwierigen Umständen er die Flaschenpost dann in die See befördert hat.“

„Verdammt“, entfuhr es Ferris Tucker. „Da scheint ein Landsmann von uns im dicksten Schlamassel zu stecken, aber weiß der Teufel, wo dieser Platz liegt, an dem er und seine Leute festgehalten werden. Und diese geheimnisvollen Feinde, von denen er berichtet – was sind das für Kerle?“

Siri-Tong war zu Hasard getreten und betrachtete eingehend die ihr zugewandte Seite des Schriftstücks.

„U-l-y“, buchstabierte nun auch sie. „Und der Rest ist verwischt. Das soll bestimmt ‚Ulysses‘ heißen. ‚Ulysses‘, das Schiff des Cyril Auger. Hat jemand von euch jemals von einem Segler dieses Namens und seinem Kapitän gehört?“

„Nein“, erwiderte der Seewolf. Er hob den Kopf und erkundigte sich: „Ist euch irgend etwas über dieses Schiff und seine Besatzung zu Ohren gekommen?“

Alle schüttelten sie den Kopf – einschließlich Arwenack, der die Gesten seiner zweibeinigen Freunde gern imitierte.

„Ulysses“, sagte der Seewolf. „Ulixes oder auch Odysseus, ein Held der griechischen Sage. Der König von Ithaka, der sich auf eine gefahrvolle Seereise begab – ja, der arme Auger scheint sich auf eine furchtbare Odyssee, eine Irrfahrt mit bitterem Ende, eingelassen zu haben, und insofern trifft der Name seines Schiffes wohl genau zu.“

„Eine Ironie des Schicksals“, murmelte der Kutscher.

„Trägt der Hilferuf denn kein Datum?“ fragte Siri-Tong.

„Leider nicht“, antwortete Hasard. „Wer weiß, wann Auger die Post der See übergeben hat.“

„Junge, Junge, so ein Mist“, sagte Dan O’Flynn. „Wer weiß, ob die bedauernswerten Männer überhaupt noch am Leben sind. Ich will’s ja hoffen, aber bei der Verzweiflung, mit der dieser Notruf geschrieben wurde, muß man wirklich an das Schlimmste denken.“

„Es ist unsere heilige Pflicht, nach Auger und seiner Mannschaft zu forschen“, sagte der Seewolf ernst. „Was immer auch aus ihnen geworden ist – wir müssen es herausfinden. Ben, hol doch mal die Karte.“

Ben Brighton drehte sich zum Quarterdeck um und ließ sich von Pete Ballie gleich zwei Karten bringen, die vom Seewolf angefertigte Skizze mit den Kurseintragungen und die einzige gedruckte Karte des Seegebietes oberhalb von „Bacalaos“, die nach übereinstimmender Ansicht der Männer jedoch höchst ungenau war.

Hasard las noch einmal Kapitän Cyril Augers Hilferuf, dann rollte er das Stück Leder wieder zusammen und versenkte es in seiner Jackentasche. Er ließ die Karten von Ben Brighton auf der Kuhlgräting ausbreiten und suchte nach der Position, die in der Flaschenpost genannt war.

„56 Grad nördlicher Breite und 60 Grad westlicher Länge“, wiederholte er. „Nach der gedruckten Karte müßte das ein Punkt mitten im Meer sein …“

„Aber wo sind da Klippfelsen?“ fragte die Rote Korsarin, die sich neben ihm über die Zeichnungen gebeugt hatte.

„Warte.“ Hasard suchte die Position auch auf seiner Skizze, die er aus dem Gedächtnis in erster Linie aufgrund von Hendrik Laas’ Angaben angefertigt hatte – und tatsächlich verharrte seine Fingerkuppe auf einem Fleck inmitten der zerklüfteten Küste von Labrador. „Tunungayualok“, sagte er. „Hier muß es liegen – keine fünfzig Meilen von unserer jetzigen Position entfernt. Ben, Ferris, Shane, Ed!“

„Sir?“

„Wir setzen Vollzeug und laufen dieses Tunungayualok an“, befahl der Seewolf.

Noch am selben Abend erreichten sie ihr Ziel. Die Sonne schien nur zögernd zu weichen und der blassen Mondscheibe ihren Platz zu überlassen. Das Licht der ausklingenden Dämmerung war rötlich-grau und immer noch ausreichend, um Einzelheiten in der Küstenlandschaft zu erspähen.

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