Entferntes Glück

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Inhaltsverzeichnis





Dienstag






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Mittwoch






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2.







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5.







Donnerstag






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Freitag






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Samstag






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Sonntag






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Montag






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9.







Dienstag






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2.







3.







3 Wochen später







14 Monate später:







Dienstag

1.



Das Brett unter mir schaukelt. Ich weiß, das Wetter ist ungünstig, aber der Sommer hat sich bis zum heutigen Tag so übellaunig und unberechenbar gezeigt, dass es keine wirkliche Option darstellt, auf den perfekten Moment zu warten. Im Zweifel warte ich dann solange, bis ich dem Wasser beim Gefrieren zusehen kann.



Durch die Wellen dauert es länger, bis ich ein Gespür für den passenden Seitenwechsel des Stechpaddels finde. Ich ahne, dass sich der Wunsch nach einem gleichmäßigen Rhythmus heute wohl nicht erfüllen wird. Immer wieder dreht sich das Brett blitzschnell, angetrieben durch den einseitigen Kraftaufwand meines Körpers und zusätzlich verstärkt durch den Schub einer Welle, die im genau falschen Moment im genau falschen Winkel auf mein Brett trifft. So entferne ich mich nur sehr langsam vom Ufer. Ein kurzer Blick zurück bestätigt mein Gefühl. Na bitte, wer trotz Wellengang in See sticht, braucht sich nicht zu wundern, wenn es ungemütlich wird. Nein, denke ich und drücke das Paddel resolut in die unruhige Wasserfläche neben mir. Du tust, was ich sage!



Und tatsächlich – es wird einfacher.



Mittlerweile ist die Entfernung vom Ufer groß genug und gibt mir damit die Möglichkeit, das Brett so auszurichten, dass es unauffällig mit der Kraft der Wellen gleiten kann. Ich muss jetzt nur noch darauf achten, nicht zu nahe ans Ufer zu kommen. Ansonsten lasse ich die Gewalten der Natur für mich arbeiten. Wie bequem. Entscheide ich mich zuerst für die leichte Richtung, so muss ich später umso mehr schuften, um mich gegen den Strom zu stellen. Ich weiß das und handle trotzdem kurzsichtig.



Für den Moment zahlt sich diese Kurzfristigkeit für mein Wohlbefinden allerdings aus. Da das Paddeln nicht mehr ganz so viel Konzentration von mir verlangt, beginne ich langsam den Blick von der Wasseroberfläche zu heben. Und wie erwartet enttäuscht mich das, was ich jetzt sehe, nicht. Die Schönheit des Lichts fährt euphorisierend in meinen Körper. Nie habe ich als Kind verstanden, wenn Erwachsene in meiner Umgebung plötzlich begannen, von den Lichtverhältnissen zu schwärmen. Man muss wohl ein gewisses Alter und damit verbunden ein gewisses Maß an melancholischer Charaktereinfärbung erreicht haben, um diese Schönheit, die ja tatsächlich existiert, sehen zu können. Es ist nicht einfach nur die Sonne, die direkt vor mir, bereits relativ flach stehend, mithilfe ihrer Strahlen der Oberfläche des Wassers ein Glitzern entlockt. Nein, es ist ein Weichzeichner, den irgendjemand da oben vor die gesamte Atmosphäre geschoben hat. Gäbe es diesen Effekt auch für mein alltägliches Leben, so bräuchte ich mich nicht mehr bange machen lassen. Alles wirkt friedlich und ich spüre, wie sich mein Brustkorb beim Anblick dieser Pracht weitet. Der Wind, der über meine Haut streicht, tut sein Übriges.



Ich bin jetzt schon ein ganzes Stück weit gekommen und gleite gerade in den deutlich kleineren, vom Badestrand aus nicht einsehbaren, Nebensee. Dieser hängt wie ein vergessener Zwilling am Hauptsee. Zwar erhält er von den allermeisten Badegästen kaum oder gar keine Aufmerksamkeit. Aber wer den See besser kennt, weiß, dass er die eigentliche Perle ist, die es zu entdecken gilt. An seinem Ufer liegen nur ein paar gut im Schilf versteckte Boote der Dorfbewohner. Einen Strand oder Steg sucht man vergebens und so ist man hier, in der Mitte des kleinen, unbeachteten Bruders, ganz alleine.



Ich stoppe meine mittlerweile automatisch ablaufenden Paddelschläge, setze mich, mein Gewicht vorsichtig ausbalancierend, auf mein Brett und lege das Paddel quer vor mich. Meine Füße tauche ich rechts und links in das kalte Wasser ein. Eine Gänsehaut durchfährt meinen Körper, als ich in genau diesem Moment plötzlich ein Fiiiep, Fiiiep, Fiiiep über mir höre. Das muss er sein, der Fischadler, den ich nun schon zweimal in diesem Sommer seine Kreise über den See habe ziehen sehen. Ich halte meine Hände schützend über meine Augen und lege den Kopf in den Nacken. Tatsächlich, da fliegt er! Direkt über mir gleitet er mit weit ausgestreckten, weiß-braun gefärbten Schwingen. Ich sehe seinen hellen Unterkörper und sogar die gelben Augen kann ich gut erkennen, so tief liegt er über mir in der Luft. Es scheint, als sehe er mich direkt an. Vorsicht, denke ich, als Beute tauge ich nicht.



Ein heftiger Stoß, der das Brett unter mir zum Wanken bringt, reißt mich aus meiner Versunkenheit. Für einen Augenblick verliere ich fast das Gleichgewicht, obwohl ich sitze. Ich sammle mich und versuche zu begreifen, was passiert ist. Direkt vor mir erblicke ich ein altes Holzboot. Die Kollision mit diesem hat die Erschütterung ausgelöst. Das Boot versteckt sich vollständig im Schilf und auch ich selbst stecke mit meinem Brett schon zur Hälfte darin. Als mein Blick weiter nach oben wandert, sehe ich direkt in das Gesicht eines Mannes, dessen Anblick mich zusammenzucken lässt. Ein massiger, muskulöser Körper, millimeterkurz geschorene Haare, mit Tattoos übersäte Oberarme, die aus einem Muskelshirt hervorragen und ein unbeweglicher, ernster Blick. „Typisch“, ist das einzige, was ihm entfährt.





2.



„Tut mir leid. Ich war in Gedanken. Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Ich versuche es mit einem Lächeln, auch wenn ich ahne, dass mein Gegenüber dafür nicht empfänglich ist. Und wie erwartet bleibt eine Antwort aus. Stattdessen taxiert er mich weiter ohne ein erkennbares Anzeichen von Regung. Ich suche nach etwas, womit ich das Schweigen, das er mir entgegenschleudert, parieren kann. Ich entscheide mich dafür, seinem Schweigen mit meinem zu begegnen. Wir sehen uns in die Augen. Er weicht nicht aus. Das, was mich daran allerdings am meisten irritiert ist die Tatsache, dass auch ich den Blick nicht senke. Etwas fesselt meine Aufmerksamkeit und lässt mich vergessen, klein beizugeben. Das Martialische seines Äußeren passt nicht so recht zur Wachheit seines Blickes und dieser Gegensatz gibt der Situation etwas Unberechenbares.



„Rein oder raus?“ fragt er. Dabei deutet er mit einem leichten Kopfnicken auf mein Brett.

 



„Was?“



„Willst du an Land oder wieder zurück auf den See? Davon würde ich dir allerdings abraten. Es fängt gleich an zu regnen. Gibt´n heftiges Gewitter.“



„Ja, glauben Sie?“ Kaum habe ich diese Frage ausgesprochen, spüre ich Verärgerung über meine Reaktion. Was rede ich da?



„Nein. Das glaube ich nicht, das sehe ich.“ Die Klarheit seiner Worte rüttelt an mir und ich reagiere endlich. Mein Blick geht zum Himmel, an dem sich mittlerweile dunkle Wolken zusammengezogen haben und kaum noch Platz für romantisches Abendlicht lassen.



„Also, was is jetzt?“ Hinter seinen Worten liegt weniger Ungeduld, als sie vermuten lassen. Er scheint es nicht eilig zu haben. Die Wellen, die immer fordernder gegen den Bauch des Bootes klatschen, unterstreichen seine Empfehlung, das Wasser zu verlassen. Die Strähnen, die der Wind aus meinen zusammengebundenen Haaren zerrt, kitzeln mich. Ich muss unsortiert wirken, denke ich.



„Ja, sieht irgendwie echt nicht gut aus. Raus wäre gut. Können Sie mir helfen?“ Ich lächle ihn auffordernd an und bin mir diese Mal sehr sicher, dass er genau dies tun wird. Ohne weitere Worte erhebt er sich und streckt mir seine Hand entgegen. „Komm rein.“ Ich reiche ihm zuerst mein Paddel, welches er behutsam in sein Boot legt. Dann löse ich die Fangleine von meinem rechten Fußgelenk und stehe auf, wobei ich mir viel Zeit lasse, denn die Wellen werden immer stärker. Als ich einen kurzen Moment lang schwanke und es aussieht, als könne ich ins Wasser fallen, beugt er sich blitzschnell nach vorne und packt hart nach meinem Handgelenk. Mit einem Ruck holt er sowohl mich als auch sich selbst wieder in die Aufrechte zurück. Der Druck seiner Hand deutet mir an, in sein Boot zu klettern. Ich setze einen Fuß auf die Sitzbank und lasse mich von ihm nach oben ziehen. Plötzlich stehen wir dicht beieinander und die Wärme, die von seinem Körper ausstrahlt, erinnert mich daran, dass die Temperatur um mich herum in den vergangenen Minuten deutlich abgefallen ist. Ich bekomme eine Gänsehaut und trete schnell an ihm vorbei in die Mitte des Bootes. Unschlüssig schaue ich in Richtung des Brettes. „Ziehen?“ Automatisch habe ich mich seiner reduzierten Kommunikation angepasst. Das scheint ihn nicht zu stören. Im Gegenteil. Er nickt, kniet sich hinunter und greift nach der Fangleine. Ich nehme sie entgegen und setze mich in die meinem Brett nahe Ecke des Bootes. Er nimmt mir gegenüber Platz und beginnt, uns mithilfe seiner Ruder sachte durch das Schilf zu manövrieren. Rechts und links bietet sich kaum Platz zum Rudern, deshalb gleichen seine Bewegungen mehr denen eines Stocherkahnfahrers als denen eines Ruderes.



Da der Sommer seinem Ende zugeht, ist das Schilf bereits sehr hoch und dicht gewachsen. Für mich ist keine Schneise erkennbar, die mir einen Weg hindurch andeuten würde. Aber er scheint sehr genau zu wissen, in welche Richtung das Boot zu wenden ist. Es erstaunt mich, wie tief das Schilf hier im Wasser steht. Den Weg zum Ufer hätte ich mir kürzer vorgestellt. Ich wende mich um und hinter mir und dem Brett, das ich mit mir ziehe, hat sich die Pflanzenwand wieder geschlossen. Sehr schnell ist es dadurch noch dämmriger um uns geworden. Neben mir höre ich die Stimmen der zahlreichen Schilfbewohner, die sich selten zeigen, dafür aber umso lautstarker ihre Anwesenheit akustisch demonstrieren. Mein Blick wandert zum Himmel. Der Greifvogel über uns hat sich schon längst verzogen. An seiner statt fliegen nun Schwalben aus und sichern sich ihre Abendmahlzeit. Wie sie da so über unseren Köpfen vorbei huschen ahne ich, wie sie jenseits des Schilfes mit ihren gegabelten Schwänzen, voller Lebensenergie die Luft immer haarscharf über der Wasseroberfläche zerschneiden, um anschließend triumphierend nach oben zu entkommen.



Meinen Kopf leicht in den Nacken gelegt sehe ich ihnen zu und merke dadurch erst mit ein paar Sekunden Verzögerung, dass das Boot still an seiner Position verharrt. Er hat aufgehört zu rudern und sich einen Rucksack zu seinen Füßen gegriffen. Mit einem Griff in die Außentasche fördert er sowohl ein Päckchen Tabak als auch Blättchen hervor.



„Hast du´s eilig?“, fragt er, wobei ich mir nicht so ganz sicher bin, ob er sich von meiner Antwort in irgendeiner Weise beeinflussen lassen würde.



„Nein“, antworte ich wahrheitsgemäß. Ich bin ja hier, um mir Zeit zu lassen. Einzig diesem Zweck dient mein Aufenthalt. Von mir aus auch gerne mitten im Schilf. Die Situation ist für mich sowieso schon so ungewöhnlich, dass ich mich von Anfang an entschlossen habe, mich ganz darauf einzulassen.



„Wenn ich auch eine haben darf?“, füge ich noch hinzu, denn alleine der Anblick des Tabakbeutels hat mein Suchtzentrum aufgeschreckt. Es meldet sich zu Wort und verlangt nach Beachtung.



Er reicht mir Tabak und Blättchen rüber und beobachtet, wie ich ungeschickt versuche, mir eine Zigarette auf meinem nackten Oberschenkel zu drehen. Ich war noch nie gut im Drehen, aber der Wind gibt meinen Bemühungen den letzten Rest.



„Ist ein guter Ort zu Rauchen.“, stellt er sachlich fest. Ich widerspreche nicht, gebe ihm Tabak und Blättchen zurück und deute gleichzeitig mit einer Handbewegung das Entzünden eines Feuerzeuges an. Er greift in die rechte Seitentasche seiner Jogginghose und reicht mir eines in schlichtem Hellblau. Ich nehme es entgegen und lasse das Feuer aus der Zündung schnippen. Da der Wind schonungslos an uns zerrt, reicht ein Versuch nicht aus. Erst beim dritten Mal gelingt es mir, das Zigarettenende zu entzünden. Schon lange habe ich keine Selbstgedrehte mehr geraucht. Meist katapultiert mich der Geschmack in ein konserviertes Gefühl aus einer anderen, vergangenen Zeit.



Während ich den ersten Zug einatme, schweift mein Blick zu seinen Händen, die routiniert den Tabak einrollen. Meine Augen wandern weiter und bleiben an einem der Tattoos hängen. Sofort beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Auf der Innenseite seines rechten Unterarmes erkenne ich in nur noch sehr schwacher Farbe das Bild eines Keltenkreuzes. Warum ich das jetzt erst sehe frage ich mich noch, dann spüre ich meinen Puls plötzlich so heftig, dass mir scheint, auch er müsse ihn hören. Und tatsächlich huscht sein Blick blitzschnell nach oben und registriert genau, wohin meine Augen gerade eben noch gerichtet waren. Er klemmt sich die fertige Kippe in den Mundwinkel, dreht die tätowierte Unterarminnenseite zu sich und betrachtet sie, ohne eine Miene zu verziehen. Dann nimmt er das Feuerzeug von mir entgegen, benutzt es und schaut mich direkt an. „Lange her.“



Ich beschließe, es dabei zu belassen. Die völlige Fremdheit zwischen uns und die Wucht der Geschichte, die hinter der Tätowierung lauern muss, stehen in keiner Relation zueinander. Ihn darauf anzusprechen kommt für mich deshalb nicht in Frage.



Schweigend ziehen wir an unseren Zigaretten und aschen neben das Boot ins Wasser. Ich lasse mich in die Beobachtung der Aschekörnchen, die augenblicklich nach ihrem Auftreffen auf der Wasseroberfläche von dem Sog der Flüssigkeit erfasst werden, gefangen nehmen und bin fast erschreckt, als ich ihn wieder sprechen höre.



„Warum zieht ihr nicht hierher?“



„Wie bitte?“



„Ihr seht glücklich aus, wenn ihr hier seid.“



Aufgrund meines nun wohl doch sehr fragenden Gesichtsausdruckes lässt er sich - fast widerwillig - auf eine Art Erklärung ein: „Ich wohne direkt an der Straße zum See. Jeder läuft irgendwann an meinem Fenster vorbei.“



„Naja“, ich zögere und nehme zuerst den letzten Zug meiner Zigarette. „Die Kinder gehen in Berlin zur Schule und wir arbeiten dort. Unser Leben ist dort.“



Es ist kaum der Bruchteil einer Sekunde, die er dazu nutzt, um seine Augenlider zu verengen und mich auf diese Art zu fokussieren. Sein Gesicht verrät mir nicht, was er von meiner Antwort hält, wohl aber der Klang seiner Stimme:



„Ach so, darauf hätte ich natürlich kommen können.“



Auf mich wirkt meine Antwort jetzt ebenfalls seltsam schal, obwohl ich sie schon oft gegeben habe – vor allem mir selbst. Erneut entschließe ich mich, nichts hinzuzufügen. Der Mann, dessen Namen ich immer noch nicht kenne und den ich bis vor 20 Minuten noch nie wahrgenommen habe, gibt mir so sehr das Gefühl, jeder Form von Unwahrheit augenblicklich auf die Schliche zu kommen, dass die Menge an Worten, die man an ihn richten kann, ohne durch seinen intensiven Blick enttarnt zu werden, sich zwangsläufig radikal reduziert.



Immer noch halte ich den Stummel der aufgerauchten Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand. Ich schaue fragend hoch. Auch er hat seinen letzten Zug inhaliert und den Zigarettenrest an der Innenseite der Bootswand ausgedrückt. Ich gehe fest davon aus, dass er nicht zu der Kategorie von Menschen gehört, die Müllreste, und seien sie auch noch so klein, in einen See schmeißen. Diese Gewissheit verwundert mich.



Wieder greift er in seine Hosentasche. Diesmal ist es eine kleine, rechteckige, silberne Dose, die er daraus hervorholt. Sie ist nicht größer als seine Handinnenfläche und trägt die Initialen M.K. in feiner Gravur auf ihrem Deckel. Sie wirkt zwar alt, aber nicht abgegriffen oder beschädigt. Eher so, als hätte man sie behutsam behandelt und auf sie geachtet. Er nimmt den Deckel ab und legt seinen Zigarettenstummel neben zwei andere, die sich bereits darin befinden. Ich schließe mich an und nehme die Dose samt Deckel aus seiner Hand. Nachdem ich den Deckel wieder verschlossen habe betrachte ich sie näher.



„M.K.?“



„Manfred Kursawe“, antwortet er ohne zu zögern.



„Sind Sie das?“



„Nein, das ist mein Vater. Ich heiße Maik.“



„Ich bin Lina.“ Ich strecke ihm meine Hand entgegen. Er ergreift sie mit festem, verbindlichem Druck. Einen Moment lang verharren wir so, dann lösen wir unsere Hände wieder und er greift nach den Rudern.



Während er das Boot geschickt die letzten Meter durch das Schilf lenkt und dabei leicht schräg über seine Schulter nach hinten schaut, beobachte ich ihn. Ich tue dies nicht verstohlen sondern direkt. Eine andere Art erschiene mir bei ihm unangebracht.



Ich suche auf seinen Armen nach weiteren Tattoos, die mir ähnlich vertraut sind wie das Kreuz, aber auf die Schnelle erkenne ich nichts vergleichbar eindeutiges zwischen den zahlreichen, mal mehr oder weniger verblassten Bildern, deren Bedeutung sich mir allerdings auch nicht bei allen gleich erschließt.



Plötzlich reißen mich zwei Ereignisse gleichzeitig aus meinen Gedanken. Kalte, harte Tropfen schlagen auf meinen Oberschenkeln, Schultern und im Nacken auf und im selben Moment setzt das Boot mit einem leichten Ruck am Ufer auf. Es scheint, als hätte der Regen mit vornehmer Zurückhaltung darauf gewartet, uns unsere Zigaretten zu Ende rauchen zu lassen. Aber jetzt kennt er kein Erbarmen mehr. Das hier ist kein langsames Rantasten – das ist eine klare Ansage. Viel Kleidung habe ich mit Badeanzug und T-Shirt sowieso nicht an – aber diese ist sofort komplett durchnässt.



Allerdings bringt auch dieser Regensturz meinen Begleiter nicht aus der Ruhe. Ohne jegliches Anzeichen von Beschleunigung steigt er aus und lässt sich von mir das Brett, das ich am Bauch des Bootes vorbei nach vorne ziehe, anreichen. Mit einem Griff hebt er es aus dem Wasser und legt es, fachmännisch mit der Unterseite nach oben, um die Finne nicht zu beschädigen, am Ufer ab. Ich greife mir das Paddel sowie seinen Rucksack und wate damit den kurzen Weg durchs Wasser ans Ufer. Die Kälte des Wassers setzt mir sowohl unten als auch oben mit schmerzenden Stichen zu, der Wind treibt die gefühlte Temperatur zusätzlich runter. Trotzdem bleibe ich in seinem Tempo. Unsere Bewegungen haben sich inzwischen so angeglichen, dass wir keine Worte benötigen, um die Handgriffe gemeinsam zu erledigen, die getan werden müssen, um Boot und Ruder an ihrem Anlegeplatz zu sichern.



Ich habe mich daran gewöhnt, dass es hier keine offiziellen Anlegestellen gibt. Jeder Bootsbesitzer hat sich im Laufe der Zeit seinen eigenen Platz gesucht und entsprechend präpariert. Auch Maiks Boot lässt sich an einem eigens dafür in die Erde geschlagenen Pflog festbinden. Durch die Lage mitten im Schilf sind umfassendere Sicherungsmaßnahmen nicht notwendig. Während Maik sich das Brett greift, übernehme ich weiterhin den Transport von Paddel und Rucksack. Schweigend gehen wir nebeneinander am Ufer entlang, bis wir auf den Weg treffen, der vom Hundestrand ab in Richtung Dorf führt. Wir biegen auf diesen Kiesweg ein und nehmen auf ihm die leichte Anhöhe, die den See vom Ort trennt. Da ich barfuß bin und Maik Badelatschen trägt, ist er zwar im Vorteil, verlangsamt seine Schritte allerdings sofort, als er bemerkt, dass ich zurückfalle. So bleiben wir dicht beieinander und es stellt sich in mir das beruhigende Gefühl ein, die Kälte und Nässe nicht alleine aushalten zu müssen. Was für Herdentiere wir doch sind, fährt es mir unvermittelt durch den Kopf und ich muss lächeln.

 



Ich spüre, dass der Mann neben mir mein Lächeln bemerkt hat. Seine Reaktion ist ein kaum merkliches Kopfschütteln.



„Ihr seid schon ein komisches Völkchen.“



Diesmal weiß ich, was er meint. „Du meinst uns Buletten?“ Der Wechsel vom Sie zum Du scheint mir an dieser Stelle selbstverständlich, fast hätte ich ihn selbst nicht einmal wahrgenommen.



„Kommt hierher, mit euren Brettern, fahrt raus, wenn sich gerade ein Gewitter anbahnt, behaltet eure Richtung nicht im Blick und lauft dann lächelnd durch Sturm und Regen nach Hause.“



Ich betrachte ihn von der Seite, um zu überprüfen, ob das verschmitzte Lächeln, das in seiner Stimme mitschwingt, auch in seinem Gesicht zu entdecken ist. Fehlanzeige.



Seine Schritte werden langsamer, um schließlich vor einem der Häuser auf der linken Seite ganz zum Stehen zu kommen. Ich bin mir nicht bewusst, ob ich es bereits einmal zur Kenntnis genommen habe. Im Zweifel eher nicht. Das Nachbarhaus daneben, das schon seit Jahren leer steht und immer mehr verwildert, hat meine Aufmerksamkeit bisher eher auf sich gezogen.



Maik lässt das Brett zu Boden sinken und lehnt es gegen mein Bein. Dann streckt er mir seine Hand entgegen und ich lasse den Rucksack von meinem Rücken gleiten. Er nimmt ihn entgegen, geht ein paar Schritte in Richtung Hauseingang, legt den Rucksack vor der Tür ab, um daraufhin zurück zu mir und dem Brett zu kommen. Als er es aufnimmt und weitergeht, unterlasse ich die sonst üblichen Abwehrhöflichkeitsfloskeln. Ich bin im Moment einfach nur dankbar, dass er mir das Brett offensichtlich bis vor die Haustür tragen wird. Soll er, es ist schwer genug.



Die Entfernung von seinem zu meinem Haus ist nicht weit – wir wohnen beide auf der Dorfseite, wo die Häuser sich im Besitz der Bewohner befinden. Auf der anderen Seite prägen überwiegend Mehrfamilienhäuser, in denen zur Miete gewohnt wird, das Dorfbild. Man sieht den Unterschied nicht sofort, so gravierend ist er nicht. Aber er ist da.



Wir sind angekommen. Maik bleibt stehen und hebt fragend die Augenbrauen. Ich gehe voraus, durch das Gartentor in Richtung des Nebengebäudes. Mit dem Schlüssel, den ich hier draußen immer an einem langen Band um den Hals trage, öffne ich das Vorhängeschloss der mittleren Tür und halte sie offen. Maik ist mir gefolgt und trägt das Brett an mir vorbei in den Raum, der als Lagerfläche für Gartengeräte, Rasenmäher und anderem mehr oder weniger Notwendigem dient. Er lehnt das Brett vorsichtig an die noch freie Seite des Raumes und entfernt die Finne aus ihrer Verankerung. Während ich gleichzeitig das Paddel an den dafür vorgesehenen Hacken hänge, berührt mich die Umsichtigkeit, die er schon seit meiner Karambolage mit seinem Boot an den Tag legt. Er tritt in den Garten und reicht mir die Finne. Immer noch regnet es heftig, aber ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt und empfinde den Regen im Vergleich zum schmerzenden Wind fast als wärmend.



„Hast du noch Zeit für eine Zigarette?“ Ich weiß, dass er den Tabak und die Blättchen nicht zurück in den Rucksack gesteckt hat, sondern zusammen mit dem Feuerzeug in seine ausgeleierte Hosentasche.



„Du lädst mich ein?“, fragt er zurück.



Mir entfährt ein Lachen.



„Entschuldige die unklare Frage, ich präzisiere: Hast du noch eine Zigarette für mich?“



„Schnorren könnt ihr ja, das muss man euch lassen.“



Nebeneinander steigen wir die Steinstufen unseres Eingangsvorsprungs hoch und stellen uns unter das Vordach. Maik holt den Plastikbeutel hervor, in dem sich der Tabak befindet. Auch die Blättchen hat er darin verstaut, sie sind auf diese Art geschützt tatsächlich trocken geblieben. Schweigend drehen wir uns unsere Zigaretten und zünden sie an. Beide lehnen wir unsere Oberkörper auf das Geländer vor uns.



Es ist Maik, der das Wort ergreift: „Ihr wollt nicht, dass eure Kinder unter uns aufwachsen. Deshalb zieht ihr nicht her.“ Seine Worte treffen mich unvorbereitet, auch wenn sie mich nicht überraschen. Ich brauche ein paar Sekunden, bevor ich zu einer Erwiderung finde. „Wahrscheinlich hast du Recht.“



Schweigend rauchen wir unsere Zigaretten zu Ende. Als wir beide unsere Kippen ausgedrückt haben, strecke ich ihm erneut meine Hand entgegen. „Danke für die Hilfe.“



„Bitt