Buch lesen: «Traumzeit für Millionäre»

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Geordnete Gemeinschaft:

Familie Mautner beim Essen, Zweiter von links ist Isidor Mautner.

Foto von Ferdinand Schmutzer, um 1905.

IMPRESSUM

ISBN: 9783990401842


© 2013 by Styria premium in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG

Wien · Graz · Klagenfurt

Alle Rechte vorbehalten

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Covergestaltung: Bruno Wegscheider

Produktion und Gestaltung: Alfred Hoffmann

Reproduktion: Pixelstorm, Wien

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Vorwort

TEIL I: REICH SEIN

Eine Ein-Promille-Gesellschaft

929 Millionäre

TEIL II: REICH WERDEN

Der Reichste der Reichen

Vom Bankier zum Banker

Die letzte Blüte der Privatbankiers

Die Macht der Bankdirektoren

Handel macht reich

Die Holz- und Kohlenhändler

Alles ist Handel

Textilhändler und Warenhäuser

Abenteurer und Imperialisten

Industrielle und Innovatoren

Die Königin der alten Industrie

Brauherren und Zuckerbarone

Produzieren im Jugendstil

Innovation Elektrizität

Papier und Schreibwaren

Kreise um Wittgenstein

Rüsten für den Krieg

Das Zeitalter der Maschinen

Der aufgehende Stern der Autoindustrie

Die galizischen Ölmillionäre

Der große Bauboom

Von Tellerwäschern zu Millionären

Nobeladvokaten und Rechtsvertreter

Reiche Professoren und ein paar nicht arme Studenten

Kunst und Geld

Die Zeitungszaren

Reiche „arme“ Staatsdiener

TEIL III: REICH ERBEN

Außer Konkurrenz – die Habsburger

Der alte Adel – die „erste“ Gesellschaft

Der neue Adel – die „zweite“ Gesellschaft

Lustige Witwen und reiche Töchter

Jüdischer Reichtum

TEIL IV: REICH BLEIBEN

Die Religionen und der Geist des Kapitalismus

Kapitalismus als Religion

Reichtum und Bildung

Reichtum und Mobilität – Schmelztiegel Wien

Quinquin – Heirat und Sexualität im Umbruch

Alles Netzwerke und Seilschaften!

„Orden sind mir wurscht!“

Aussteiger und Schwarze Schafe

Das große Steuerunrecht

Der Aufstand der Armen

Die Politik der Reichen

TEIL V: REICH LEBEN

„O, wie herrlich lebten sie!“

Die Orte der Reichen

Jagdergebnisse und Jagderlebnisse

Bergeroberungen

Millionäre auf dem Rad

Herrenreiter

Herrenfahrer

Polo und Golf – die neuen Spiele der Reichen

Tennisbeziehungen und Tennisduelle

TEIL VI: REICH STERBEN

Reich zu sterben ist eine Schande

Leben und Weiterleben

Das Buddenbrook-Syndrom

Wachsen und Zerstören

„Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod“

Die Katastrophe des Holocaust

TEIL VII: AUSBLICK

Die Wiederkehr der Ungleichheit

Anmerkungen

Literatur

TEIL VIII: DIE 929 REICHSTEN WIENER IM JAHR 1910

Kurzbiographien

Geldeinheiten und Umrechnungen

Personenregister

Bildnachweis


Ein „Amerikaner in Österreich“: Karl Wittgenstein verdiente sein Vermögen mit Eisen und Stahl. Foto von Ferdinand Schmutzer, um 1908.

„Wenn man Zeit hat, und in der Laune ist,

baut man Fabriken, erobert Länder,

schreibt Symphonien, wird Millionär

… aber glaube mir, das ist doch alles nur Nebensache.

Die Hauptsache – seid ihr! – ihr – ihr! … “

Arthur Schnitzler, Das weite Land, 1910

VORWORT

Wien um 1910: Die Reichshaupt- und Residenzstadt hatte die Zweimillionengrenze überschritten und träumte von vier Millionen, in einem Reich, das auf 52 Millionen Einwohner angewachsen war. Wien war zur siebtgrößten Stadt der Welt und viertgrößten Europas geworden: ein Schmelztiegel der Nationen, eine Hochburg der Künste und Wissenschaften, eine Stadt der Träume, aber auch der harten sozialen und nationalen Gegensätze, zugedeckt von schmelzenden Operettenmelodien und verzopftem Hofzeremoniell. Für die einen war es die „gute alte Zeit“, das „Zeitalter der Sicherheit“ und ein „letzter Glanz der Märchenstadt“, für die anderen ein „Tanz auf dem Vulkan“, ein „Völkerkerker“ und ein Warten auf die „letzten Tage der Menschheit“. Noch regierte der alte Franz Joseph, Kaiser von Österreich und König von Ungarn, König von Böhmen, Markgraf von Mähren, Erzherzog von Österreich, Herzog von Steiermark, Kärnten und Krain, gefürsteter Graf von Tirol, König von Galizien und Lodomerien. Immer noch auch mit dem Titel eines Königs von Jerusalem und – merkwürdig genug im Lichte der späteren Geschichte – eines Herzogs von Auschwitz. Es war Klimts Wien, Mahlers Wien, Schnitzlers Wien, Wittgensteins Wien, Freuds Wien, Herzls Wien, Rothschilds Wien, Luegers Wien. Hitlers Wiener Jahre begannen 1908, Trotzki lebte hier von 1906 bis 1914 und Stalin recherchierte im Jahr 1913 in Wien. Josip Broz, später Tito genannt, wohnte im selben Jahr in Neudörfl und arbeitete in den Daimler-Werken in Wiener Neustadt.

Es war eine spannende Zeit, in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Technik, in der Politik. Wien glänzte als Mekka der Medizin. Die Grundlagen von Physik und Chemie wurden neu definiert. In Geschichte, Ökonomie, Soziologie, Rechtswissenschaften, überall wurden Höchstleistungen vollbracht. Die Kunst war in raschem Umbruch. Noch dominierten die historisierenden Stile. Aus heutiger Sicht aber ist es die Zeit des Jugendstils. Hans Makart hatte eine ganze Epoche geprägt. John Quincy Adams malte die feudalen Eliten, Gustav Klimt die modischen Aufsteiger, besser gesagt deren Frauen und Töchter. Josef Hofmann richtete ihre Villen ein. Adolf Loos provozierte den Kaiser mit seinem direkt vor die Hofburg platzierten Haus ohne Schnörkel und Verzierungen. Arthur Schnitzler, der einflussreichste und umstrittenste Dichter der Epoche, provozierte Theaterskandale, Arnold Schönberg provozierte mit neuer, nie gehörter Musik, Sigmund Freud provozierte mit der Analyse der Seele. Die Wiener Könige der Silbernen Operette feierten internationale Erfolge. Gustav Mahler war, von der Leitung der Staatsoper resigniert, nach Amerika gegangen und todkrank zurückgekehrt. Man unterhielt sich glänzend, in der Hofoper und im Burgtheater, auf den Flaniermeilen am Ring und auf den Rennplätzen im Prater, in den Separées im Sacher und bei der Heurigenmusik in Grinzing. „Die Frauen sind schön und elegant. Und überhaupt alles ist verteufelt elegant“, schrieb Anton Tschechow anlässlich seines Aufenthalts über das Wien des Fin de Siècle.1 Die Wortwahl „verteufelt“, beim Wortsinn genommen, lässt die dunkle Ahnung von einem bevorstehenden Verderben mitschwingen.

Der Glanz der Ringstraßengesellschaft blendet. Ihre Leistungen beeindrucken. Die damit verbundenen Ungerechtigkeiten, Benachteiligungen und Fehlentscheidungen müssen nachdenklich stimmen. Es sind etwa 1.000 Millionäre, die die Spitze dieser Gesellschaft bildeten: das Kaiserhaus, hohe Adelige und Rentiers, Bankleute, Großhändler und Industrielle, einige Baumeister, ein paar Künstler, Wissenschaftler und Ärzte, kaum Politiker und Beamte, eine Reihe von Witwen und reichen Erbinnen und ein Kardinal. Wie und von wem diese „verteufelte“ Eleganz finanziert wurde, darüber hat sich die österreichische und internationale Geschichtsforschung, die zum Fin de Siècle und seinen kulturellen und sozialen Oberschichten hervorragende und zu Recht berühmte Studien präsentiert hat, wenig Gedanken gemacht. Die österreichische Wirtschaftsgeschichte hat sich 50 Jahre lang vorwiegend mit Fragen des Wirtschaftswachstums beschäftigt. Die Sozialgeschichte hat sich in Richtung der Kulturgeschichte bewegt. Die zwei informativen und ambitionierten Teilbände über die sozialen Strukturen der Habsburgermonarchie zwischen 1848 und 1918 heißen zwar „Von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft“ und „Von der Stände- zur Klassengesellschaft“. Dass „Klassen“ auch etwas mit Einkommen und Vermögen zu tun haben, kommt in den fast 2.000 Seiten, die sich mit den „sozialen Strukturen“ und der sozialen Frage beschäftigen, aber nicht zum Ausdruck.2 Fragen nach Einkommen und Vermögen sind in Österreich offensichtlich nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in historischer Perspektive in hohem Maße tabuisiert. Was verdienten die Habsburger, der Hochadel, die Bankiers und Industriellen, die Freiberufler, Künstler oder auch die Frauen, die die Ringstraßengesellschaft bildeten? Was waren die Ursachen der extremen Ungleichheit der Einkommen und Vermögen? Wer gehörte zu jenem Kreis der reichsten Wienerinnen und Wiener, die die „erste“ und „zweite“ Gesellschaft der untergehenden Habsburgermonarchie bildeten und gleichzeitig deren kulturellen und alltäglichen Glanz und Nachklang formten?

Die vorliegende Studie hat mehrere Ziele: zum ersten eine Analyse der Einkommensverteilung und der Spitzeneinkommen, die sich heute wieder den Verhältnissen vor 100 Jahren angleichen, nicht nur in den USA und in Westeuropa, sondern auch in Österreich, zweitens eine Analyse der Sozialstruktur dieser obersten Oberschicht und der sozial- und wirtschaftshistorischen Triebkräfte des Wiener Fin de Siècle und drittens eine biographisch-prosopographische Erfassung der Zugehörigen dieser Ringstraßengesellschaft. Mit insgesamt 929 Familien wird der Blick von den fünf bis zehn großen, geistesgeschichtlich herausragenden Persönlichkeiten, die meist stellvertretend für das Wien des Fin de Siècle genommen werden3, auf jenes oberste Promille erweitert, das die finanzielle und wirtschaftliche Oberschicht der Superreichen dieser Stadt ausmachte.

Das Projekt wurde ohne öffentliche oder private finanzielle Förderungen und Drittmittel durchgeführt. Dennoch ist der Autor vielen Personen zu Dank verpflichtet. Gerhart Bruckmann gab den Anstoß, als er dem Autor die Kopie einer Namensliste der 929 höchsten Steuerzahler Wiens und Niederösterreichs im Jahr 1910 überließ.4 Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl haben mit ihren Forschungsprojekten zum Bürgertum im 19. Jahrhundert und zu Armut und Reichtum viel wissenschaftliche Vorarbeit geleistet, ebenso die Akademie der Wissenschaften mit dem Biographischen Lexikon und Helmut Rumpler mit der Herausgabe der Monumentalreihe zur Geschichte der Habsburgermonarchie 1848 – 1918. Dass sich amerikanische Historiker in besonderem Maß für das Wiener Fin de Siècle interessiert haben, hat die internationale und innerösterreichische Aufmerksamkeit für die Thematik sehr gesteigert. Georg Gaugusch hat mit seinen genealogischen Studien zu den 500 wichtigsten jüdischen Familien Wiens nicht nur eine wichtige Grundlage geliefert, sondern auch den Autor selbstlos mit Rat und Tat bei der Erstellung der Biographien unterstützt und die Kurzbiographien einer akribischen Korrektur unterzogen. Das Wiener Stadt- und Landesarchiv war bei Datenrecherchen im Melderegister sehr behilflich, ebenso das Stadtarchiv St. Pölten. Ich danke zahlreichen Forschern und Nachkommen der damaligen Familien, die mich durch Informationen und Materialbeistellung unterstützt haben: Jens Budischowsky, Michael John, Petrus Kaserer, Oliver Kühschelm, Albert Lichtblau, Dieter Lutz, Michael Pammer, Georg Ransmayr, Wolfgang Reitzi, Markus Riccabona, Elmar Samsinger, Georg Sayer, Gertraud Vonwiller, Alexander Zerkowitz und vielen anderen. Ich danke Norbert Loidol, der mit seinem großen Wissen die Erstellung des Namensregisters besorgt und manche Fehler korrigiert hat. Gerlinde Hinterhölzl hat den biographischen Teil lektoriert. Der Dank gilt nicht zuletzt dem Styria Verlag und Johannes Sachslehner, der das gesamte Buchprojekt betreut hat, und der Johannes Kepler Universität Linz, in deren wissenschaftlichem Feld die Forschungen erfolgen konnten. Vor allem aber danke ich meiner Frau Margith und meiner Familie für die langjährige Geduld, die ein derartiges neben dem Universitätsalltag laufendes Forschungsprojekt erfordert.

Linz, im Juli 2013


Ball der Stadt Wien: Karl Lueger und die „zweite“ Gesellschaft. Aquarell von Wilhelm Gause, 1904.

EINE EIN-PROMILLE-GESELLSCHAFT

Hermann Horwitz war einer der sonderlichsten Bankleute Wiens im ausgehenden 19. Jahrhundert. Er litt, obwohl äußerst wohlhabend, an einer Verarmungsneurose. Nach Berichten sei er immer wieder, manchmal sogar mitten in der Nacht, aufgestanden, um sich über sein Vermögen zu vergewissern und Bilanz zu legen, in der Angst, am Hungertuch nagen oder seine Familie mittellos zurücklassen zu müssen. Schlussendlich führte dieser Wahn zu seinem völligen Zusammenbruch und Selbstmord. Seine Ärzte, Dr. Carl Bettelheim und der junge Sigmund Freud, hatten vergeblich versucht, seinen Ängsten mit Kuraufenthalten, Medikamenten und Analysen zu begegnen.5

Auch Sigmund Freud lebte in der ständigen Angst vor Verarmung. Der aus Wien gebürtige Nestor der amerikanischen Betriebswirtschaftslehre Peter Drucker, dessen Eltern Freud gut kannten und dem er daher des Öfteren begegnet war, glaubte bei Freud eine „Geld- und Verarmungsneurose“ diagnostizieren zu können. Freud fühlte sich ein Leben lang unterbezahlt. Er beklagte sich unaufhörlich über seinen imaginären Geldmangel, obwohl er ausgesprochen gut verdiente und zu den sehr wohlhabenden Wienern gehörte. Peter Drucker meint, dass derartige Neurosen in Wien um 1900 relativ häufig gewesen seien.6

Reich zu sein und arm zu werden beherrschte die Träume und Ängste des Fin de Siècle. Reichtum wurde seither nie mehr so unverhüllt und demonstrativ zur Schau gestellt wie um 1900: mit riesigen Villen, vielen Dienstboten, großen Autos, teuren Pferden, weiten Reisen. Geld bestimmte auf Länder- und Gemeindeebene immer noch das Wahlrecht. Das Geld kämpfte mit dem ererbten Adel um die Position in der Gesellschaft. Wien um 1910 war ein Traumland für Millionäre. Die schmale Oberschicht dieser Millionäre teilte sich in zwei Gruppen, die sich gegenseitig belauerten und konkurrenzierten: die Hofgesellschaft zum einen, das Großbürgertum zum anderen, die einen ausgestattet mit viel symbolischem Kapital und großem Erbe, die andere mit noch größerem realen Kapital und rasch wachsenden Zukunftsaussichten. Der Adel verstand sich als die „erste Gesellschaft“, als „die“ oder „eigentliche“ Gesellschaft. Sozial gab er immer noch den Ton an. Ökonomisch stand er längst im Schatten der „zweiten“ Gesellschaft, der alten und neuen Großbürger, auf die sich der Großteil des Reichtums konzentrierte.

Es war die „gute, alte Zeit“. Die Kaiserzeit. Aber war es auch eine gute Zeit? Die sozialen Probleme waren übergroß und die Schatten lang. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit lag immer noch bei etwa 60 Stunden. Die soziale Absicherung war ungenügend, die Wohnungsnot nicht gelöst. Urlaub gab es kaum, eine Krankenversicherung nur für Industriearbeiter, Handelsangestellte und Staatsbeamte, eine Altersversicherung überhaupt nur für Angestellte und Staatsdiener, eine Arbeitslosenversicherung für niemanden. Was aus bürgerlicher Sicht als „Zeitalter der Sicherheit“ erschien, war für die Arbeiter immer noch von höchster Unsicherheit geprägt, mit vielerlei Abhängigkeiten: vom Arbeitgeber, der mit Aussperrung drohte, vom Hausherrn, der beim kleinsten Mietrückstand die Delogierung erwirkte, vom Greißler, bei dem man anschreiben ließ, fast ohne Aussicht, Ersparnisse anlegen zu können, stets von der Hand in den Mund lebend. Eine Arbeiterexistenz, das bedeutete eine ständige Hetzjagd mit der Zeit, zehn bis elf Stunden tägliche Arbeit, lange Fußwege von und zur Arbeitsstätte, kaum Zeit für Besorgungen, kaum Raum für Erholung. Und immer wieder gewaltsame Zusammenstöße. Die Teuerung erregte die städtischen Massen. Streiks wurden mit vehementer Erbitterung und der Drohung von Aussperrungen durchgekämpft. Die Klassen und Nationalitäten prallten hart aufeinander. Auch die Bauern bangten um ihre Existenz. Die Diskussion um die Landflucht brach auf. Immer mehr Höfe wurden von Güterschlächtern aufgekauft und ihre Äcker und Wiesen zu Jagdrevieren aufgeforstet.

1907 war mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts eine neue Epoche der Politik angebrochen. Vorerst galt es allerdings nur für Männer. Die Stunde der Massenparteien und der Massenbewegungen hatte geschlagen. Auf den Schultern der Massen stand Karl Lueger. Er prägte die Stadt wie kein anderer. Er war der Repräsentant der Kleinbürger. Die von Teuerung und Mietenwucher bedrängten Industriearbeiter fühlten sich von ihm nicht vertreten, auch wenn er für die Infrastruktur der Stadt viel bewirkte. Auch in den Salons der Reichen konnte er nicht willkommen sein. Sein Antisemitismus hätte alle abstoßen müssen, auch wenn ihn viele akzeptierten und auch seine Gegner seine Leistungen würdigten. Insgesamt waren nahezu 40 Parteien und Gruppierungen im Reichsrat vertreten. Neben den beiden größten Parteien, den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten, entstanden verschiedenste kleinere Vereinigungen von den Deutschradikalen und Schönerianern bis zu den Alttschechen, Jungtschechen und Tschechischen Nationalsozialisten, den Zionisten und den italienischen, polnischen und ruthenischen Nationalisten. Zwischen 1907 und 1913 gab es fünf Regierungen und ein lange Reihe von Ministerwechseln.

Die Abkapselung, das Aufrichten von Grenzen, von realen und imaginären, ist das Hauptcharakteristikum der Epoche: Der Adel schottete sich vom übrigen Volk ab, der Erbadel vom Briefadel, die Nichtjuden von den Juden, die Katholiken von den Evangelischen. Die Oberschicht war tief gespalten. Am Hofball des Kaisers traf sich die aristokratische Elite, am Ball des Bürgermeisters die Klientel Karl Luegers, der damit die Vorstellung eines gesellschaftlich gleichwertigen Widerparts zur exklusiven Hofgesellschaft vermitteln wollte. Die jüdische Geldaristokratie, immerhin fast zwei Drittel der Millionäre, war nirgends beheimatet. Der Kaiser und die Hocharistokratie schlossen sie stillschweigend aus, das kleinbürgerliche Wien um Karl Lueger hetzte gegen sie. Albert Rothschild, dem Reichsten der Reichen, war zwar der Zutritt zur Hofgesellschaft zugestanden worden. Doch integriert war er nicht: Für einen Händedruck des Kaisers reichte es nicht.

Der zwischen 1892 und 1900 vollzogene Übergang von der Silber- zur Goldwährung, verbunden mit der Umbenennung von Gulden und Kreuzer auf Krone und Heller, schien die Sicherheit des Goldes zu bieten: eine sehr leicht zerbrechliche Sicherheit, wie sich 1914 herausstellte. Von einem „goldenen Zeitalter der Sicherheit“, das Stefan Zweig im Rückblick so wortreich beschwor, konnte keine Rede sein. Das traf für die Unterschichten nicht zu. Es war aber auch für die Millionäre recht trügerisch. Die vielen Verlustgeschichten gehen im Glanz der wenigen Erfolge unter. Carl Schorskes Utopie vom paradiesischen Garten, dessen Offenheit so abrupt zerstört worden sei, verdeckt die soziale Sprengkraft, die sich schon seit langem aufgebaut hatte.7

Nie in der jüngeren Geschichte Österreichs und nirgendwo in der Habsburgermonarchie war die Vermögens- und Einkommensverteilung so ungleich wie in Wien in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Das oberste Zehntelpromille der Wiener verdiente im Jahr 1910 etwa 6,4 Prozent aller Einkommen, das oberste Promille 11,9 Prozent, das oberste eine Prozent mehr als ein Viertel und die obersten 10 Prozent mehr als die Hälfte aller Einkommen. Auf die obersten 20 Prozent entfielen zwei Drittel aller Einkommen.

Etwas mehr als 6 Prozent der Bevölkerung der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie lebten in Wien, aber fast zwei Drittel der Millionäre: „Millionäre gibt es in Wien eine ganze Menge – vielleicht tausend, vielleicht auch mehr“, schrieb Otto Friedländer in seinem pathetischen Rückblick auf das Wiener Fin de Siècle.8 Er ging damit nicht fehl. Er konnte sich leicht durch einen Blick in das Statistische Handbuch überzeugen. Im Jahr 1910 weist es für die ganze österreichische Reichshälfte, also für ein Gebiet von mehr als 28 Millionen Einwohnern, 1.513 Spitzenverdiener mit einem Jahreseinkommen von 100.000 Kronen und mehr aus. Zwei Drittel davon, genau 929 Personen, lebten in Wien und Niederösterreich, d. h. 61,4 Prozent.

Hunderttausend Kronen. So viel konnte von den meisten Menschen in einem ganzen Leben nicht verdient werden. Industriearbeiter konnten zwischen 500 und 1.500 Kronen im Jahr erreichen, Landarbeiter nicht einmal halb so viel und ein Dienstmädchen vielleicht 100 bis 300 Kronen. Eine Volksschullehrerin erhielt 1.100 Kronen im Jahr, ein Lehrer 1.200, ein Mittelschulprofessor bis zu 3.000, ein Direktor einer Höheren Schule 4.000, ein ordentlicher Universitätsprofessor zwischen 8.000 zu 16.000 Kronen. Die Statthalter als höchste Beamte kamen inklusive Funktionszulage auf bis zu 32.000 Kronen im Jahr, die Statthalterei-Vizepräsidenten auf 23.500 Kronen. Ähnlich verhielten sich auch die Gehälter der Minister und des Ministerpräsidenten. Die höchsten Armeegehälter bewegten sich zwischen 10.188 Kronen für einen Oberst und 22.192 Kronen für einen Feldmarschall, ein Sektionschef in den Ministerien erhielt 20.000 Kronen, ein Ministerialrat 12.000 Kronen. Ein Direktor eines mittleren Betriebes konnte mit 10.000 bis 20.000 Kronen rechnen, dazu konnten allerdings weitere beträchtliche Einkommen aus Verwaltungsratssitzen oder Bonuszahlungen kommen.

Hunderttausend Kronen waren so etwas wie eine Traumzahl. Um hunderttausend Kronen bzw. fünfzigtausend Gulden geht es in Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else: Es ist jene Summe, die ihr Vater benötigt hätte, um seinen wirtschaftlichen Untergang zu verhindern, und an die der reiche Herr von Dorsday die Bedingung knüpfte, Else nackt sehen zu dürfen, und für die sich Fräulein Else letztendlich in den Selbstmord treiben lässt. Hunderttausend Kronen, die „in drei Tagen herbeigeschafft sein müssen, sonst ist alles verloren“. Else gibt nach: „Du sollst deine fünfzigtausend Gulden haben, Papa … Ich bin bereit. Da bin ich … “ Der Vater ist gerettet, Else ist verloren.9

Rund 90 Prozent der Bevölkerung der westlichen Reichshälfte Österreich-Ungarns verdienten im Jahr 1910 weniger als 1.200 Kronen und fielen daher nicht unter die Einkommenssteuerpflicht. 1.513 Haushalte verdienten mehr als 100.000 Kronen, in Wien und Niederösterreich allein 929. Für das damals hoch industrialisierte Niederösterreich blieben nur 47 Millionäre. Wien saugte den Reichtum an. Nirgends, auch nicht in den großen Städten Triest oder Prag, gab es eine derartige Millionärsdichte wie in Wien. Böhmen hatte 283 Millionäre. Aber nur 57 davon lebten in Prag. Auch in Mähren waren die Millionäre nicht so stark auf das Zentrum Brünn konzentriert wie in Niederösterreich auf Wien. In den heutigen österreichischen Bundesländern gab es überhaupt nur wenige Millionäre.


Zentraler Schauplatz des Agrarhandels in der Monarchie: der große Saal der Börse für landwirtschaftliche Produkte in der Taborstraße 10, erbaut 1887 – 1890.

Insgesamt fällt auf, dass die stark agrarisch orientierten Länder Oberösterreich, Salzburg und Tirol, aber auch Galizien, Bukowina, Dalmatien und Istrien eine etwas weniger ungleiche Einkommensverteilung innerhalb einer generell sehr ungleichen Gesellschaft aufweisen konnten.10 Die obersten 20 Prozent der Einkommensbezieher bezogen in Wien und Niederösterreich fast zwei Drittel aller Einkommen, in Vorarlberg nicht ganz die Hälfte, im agrarischen Oberösterreich nur ein Drittel.

Wien zog den Reichtum und die Armut an. Familien, die schon reich waren, suchten den Glanz des Hofes und der Stadt, Männer, die reich werden wollten, fanden die Gelegenheit dafür am ehesten in der Hauptstadt. Doch die Massen der Zuwanderer blieben arm, viele sogar sehr arm. Und diese Zuwanderer drückten auch die Einkommen der bereits Anwesenden. In Wien waren die Einkommensanteile der obersten Segmente der Skala, also Zehntelprozent, ein Prozent oder zehn Prozent, ungefähr um ein Drittel bis um die Hälfte höher als im Durchschnitt der Reichshälfte.

Errechnete Einkommensverteilung, 1910, Kronländer der Habsburger Monarchie

(Anteile der obersten Percentilen am Gesamteinkommen)


Anm.: Ergebnisse der Personaleinkommenssteuer für 1910; Gesamtsumme der Einkommensbezieher aufgrund der Volkszählungsergebnisse 1910 (Haushaltsvorstände, Dienstboten, Gesinde, Inwohner und Bettgeher; nicht eingerechnet sind Angehörige, Pflegekinder und sonstige Personen), Durchschnittseinkommen, inklusive der Habsburger, oberstes Zehntelpromille 5,6 Prozent in Niederösterreich bzw. 6,4 Prozent in Wien. Die weit verbreitete Steuerbefreiung der Herrscherhäuser wurde in den von Atkinson und Piketty herausgegebenen Studien offensichtlich nirgendwo berücksichtigt. Eigene Berechnungen

Errechnete Einkommensverteilung, 1910

(Anteile der obersten Percentilen am Gesamteinkommen)


Im Ländervergleich zeigte die Habsburgermonarchie 1910 kein von den übrigen industrialisierten Ländern abweichendes Bild der Einkommensverteilung. Letztere war überall sehr ungleich. Auffallend ist allerdings die starke Konzentration der großen Einkommen auf die Hauptstadt Wien. Auch in Deutschland gab es eine extrem ungleiche Einkommensverteilung. Doch die Konzentration der Spitzeneinkommen auf Berlin war viel weniger stark. Von den 15 höchsten Einkommensbeziehern in Preußen um 1910 wohnte kein einziger in Berlin. Bertha Krupp wohnte in Essen, die Industriellen waren am Rhein oder in Schlesien, die Bankiers in Frankfurt und Hamburg, die Adeligen auf ihren Gütern. Ernst von Mendelssohn-Bartholdy war 1908 der reichste Mann Berlins. Er rangierte in Preußen an 17. Stelle. Vor ihm lagen vier andere Bankiers.11 Auch der regierende Adel konzentrierte sich nicht allein auf Berlin, sondern auch auf München, Dresden und die anderen Residenzstädte der deutschen Duodezfürsten.

In den USA konzentrierten sich die Spitzeneinkommen ebenfalls nicht so ausschließlich auf New York, schon gar nicht auf die Hauptstadt Washington, sondern waren gleichmäßiger übers Land verteilt. Am ehesten konnten London oder Paris eine mit Wien vergleichbare Verteilung der Spitzeneinkommen aufweisen.

Spitzeneinkommen um 1910 in europäischen und außereuropäischen Ländern

(Anteile der obersten Percentilen am Gesamteinkommen)


Quellen: Atkinson/​Piketty, Top Incomes over the 20th century; Atkinson, Top incomes: a global perspective; für Österreich eigene Berechnungen.


Die prachtvolle Residenz des Reichsten der Reichen: das Palais Albert Rothschild in der Prinz-Eugen-Straße 20 – 22, erbaut 1879 – 1894 nach Plänen des französischen Architekten Gabriel-Hippolyte Destailleur, abgerissen 1954.

€18,99