Erziehung durch Beziehung

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Die »Treppe der Beziehungssprachen« zeigt:

•Es gibt drei Arten des erzieherischen Sprechens: die Sprache der Zuwendung, den Dialog und die Sprache der Konfrontation.

•Erziehung kann nur wirksam werden, wenn Klärung gelingt, nicht wenn ohne Resonanz aneinander vorbeigeredet wird.

•Meist ist es sinnvoll, zunächst über die Sprache der Zuwendung einen Kontakt zum Gegenüber herzustellen und über das Trösten und Nachfragen seine Sicht der Dinge zum Ausdruck kommen zu lassen, ohne sogleich von der fünften Stufe herunterzustürmen.

•Grenzen müssen erklärt werden. Dabei sind Ich-Botschaften hilfreich, mit denen man dem Kind mitteilt, wie es um einen steht bzw. welche Folgen sein Verhalten für einen selbst hat.

Nachdem Konrad die fünf Arten des erzieherischen Sprechens kennengelernt hatte, stellte er betroffen fest:

»Ich habe meinen Jungen nicht abgeholt, sondern ihn gleich mit meinen Grenzen konfrontiert – im wahrsten Sinne des Wortes ›von oben herab‹, und noch nicht einmal das habe ich richtig gemacht. Dadurch habe ich ihn zurückgewiesen. Heute weiß ich, dass sein Verhalten nicht schwierig, sondern verständlich gewesen ist. Er wollte mit mir zusammen sein. Ich hätte ihn zunächst trösten können, ihm aber auch gleich mitteilen können, dass ich ein Problem habe, wenn ich müde nach Hause komme und mich zunächst einmal nicht auspendeln kann. Dann hätte ich eine Art Absprache mit ihm erzielen können, dass ich z. B. nach einer Stunde mit ihm spielen würde – ganz ohne Vorwurf oder in einer Form, in der ich meine Erschöpfung einfach so nach außen lasse. Mir ist nun klar: Die meisten Erziehungsprobleme sind solche des unangemessenen Sprechens. Da begrenzen wir, wo Trösten ansteht, oder wir erklären, wo Nachfragen anstünden – alles ein Riesendurcheinander. Und warum? In meinem Fall ist es so, dass ich selbst weder die Sprache der Zuwendung noch die Form des Dialogs wirklich beherrsche. Glücklicherweise ist mir dies aufgefallen, und ich frage mich heute immer:

Wer hat eigentlich das Problem? In meinem Fall hatte ich das Problem, weshalb Erklärung anstand.

Worum geht es meinem Sohn? Da schaffe ich Zeiten, in denen ich ganz achtsam zuhöre, ihn reden lasse und nachfrage.

Was muss geklärt werden? Da ist es für mich durchaus eine neue Erfahrung, dass ich nicht immer als der große Klärer und Erklärer gefragt bin, vielmehr kann sich mein Sohn selbst erklären. Er lernt und übt so, seine eigene Rolle als Gegenüber in der Kommunikation wirklich zu spielen, ohne nur auf das zu reagieren, was ich ihm erlaube.«


In den Erziehungsdebatten geht es um Werte und Werterziehung: Eltern sehen sich mit dem Anspruch konfrontiert, ihre Kinder zu wertebewussten Menschen zu erziehen. Als wertebewusst wird dabei angesehen, wenn Kinder und Jugendliche sich nicht allein von ihren eigenen Interessen leiten lassen, sondern auch in der Lage sind, ihr Verhalten an den überlieferten – humanen – Vorstellungen und Erwartungen der Gesellschaft zu orientieren.

An Formulierungen solcher Werte herrscht kein Mangel. Immer wieder drängen sie sich als Vorwurf in die aktuellen Debatten. Dann ist zu vernehmen, Lehrpersonen hätten keine Werte mehr, auf die sie achten. Auch Eltern sehen sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, ihren Kindern zu lasch und verantwortungslos gegenüberzutreten. Wie dem auch immer sei, wichtige Fragen sind:

•Welche Werte sind es wert, unsere Erziehung an ihnen zu orientieren?

•Wie gelingt eine Wertevermittlung?

Das Wertespektrum

Was unsere Gesellschaft von Kindern und Jugendlichen erwartet, war über viele Jahrzehnte unumstritten: Ordnung und Disziplin – diese beiden sogenannten deutschen oder preußischen Tugenden rangieren nicht nur im Kaiserreich, sondern auch in den dunkleren Zeiten der Geschichte an oberster Stelle. Von Elternhaus und Schule wird erwartet, dass die Nachwachsenden an diese Anforderungen angepasst werden – mit Züchtigung und Gewalt, wenn es sein muss. Erst im bestürzten Rückblick wird vielen klar, dass eine solche autoritäre Pädagogik nicht wirklich funktioniert. Auf diese Weise kann es zwar bewerkstelligt werden, die Menschen anzupassen oder gar abzurichten, doch büßen diese dabei auch ihre Fähigkeiten zu Kritik, Widerstand und menschlicher Solidarität ein. »Erziehung nach Auschwitz« (Adorno 1970), wie ein deutscher Philosoph die pädagogische Nachkriegsaufgabe überschreibt, müsse anderen Werten verpflichtet sein als den überlieferten deutschen Tugenden.

Zunächst kommen dabei Werte wie Toleranz, Minderheitenschutz oder mündige Staatsbürgerschaft in den Blick. Elternhaus und Schule wollen Kinder nicht bloß anpassen, sondern auch stärken, ihre Kritikfähigkeit und Widerstandskraft fördern – auch damit sich der Rückfall in die Barbarei niemals mehr wiederholen kann. Die Skepsis gegenüber den Folgen einer autoritären Anpassung des Nachwuchses nimmt dabei auch extreme Formen an, wie u. a. in der antiautoritären Erziehung der 1960er- und 1970er-Jahre, die sämtliche erzieherische Absichten unter Generalverdacht stellt: »Wer Kinder erziehen will, will Kinder zerstören« – so schreibt einer der Wortführer der damaligen Zeit (von Braunmühl 2006).

Zurück bleiben verunsicherte Erziehungs- und Lehrkräfte, denen die alten Tugenden noch selbst in den Ohren klingen, die aber auch nicht einfach auf Erziehung verzichten wollen. Einige greifen zu Erziehungsratgebern, andere lassen sich beraten. Die große Masse jedoch erzieht die eigenen Kinder mehr oder weniger so, wie sie selbst von ihren Eltern erzogen wurden. Sie tragen so ungewollt dazu bei, dass alte traditionelle Erziehungsformen von Generation zu Generation vererbt werden und sich nur allmählich in Richtung Wirksamkeit sowie Demokratie und Humanität wandeln.

Um aus diesem endlosen Vererbungszyklus wirklich auszusteigen, ist es notwendig, dass Eltern und Lehrkräfte sich mit folgenden Erziehungsirrtümern auseinandersetzen:

•Irrtum 1: Anpassung, Ordnung und Gehorsam müssen und können erzwungen werden!

Sicherlich: Man kann kurzfristig für »Ruhe im Karton« sorgen. Dass diese aber dazu führt, dass junge Menschen ihre Selbstdisziplin entwickeln und zur Selbstständigkeit reifen können, ist nicht zu erwarten. In einer zunehmend komplexen Welt jedoch, die auf die Selbstorganisationsfähigkeit der Arbeitnehmerinnen und Staatsbürger setzt, entlässt die Anpassungspädagogik die Nachwachsenden unvorbereitet.

•Irrtum 2: Erziehung muss ihre Werte bestimmt und selbstbewusst sowie erlebbar zum Ausdruck bringen und diese einfordern!

Das Einzige, was an dieser Aussage stimmt, ist, dass Kinder und Jugendliche Werte erleben müssen, um ihnen zu folgen. Diese müssen ihnen aber nicht mit Entschiedenheit nahegebracht, sondern überzeugend vorgelebt werden. Grundlegend ist die Frage, ob Eltern, Erzieher und Lehrerinnen selbst über Werte verfügen, denen sie ihr Leben widmen. Oder nur diffus und nicht selten verärgert auf Störungen reagieren. Dabei wird jedoch eine wichtige Substanz der gelungenen Erziehung verschüttet: das wirkliche Interesse am Gegenüber und seiner tastenden Suche nach eigenen Formen des Verhaltens.

•Irrtum 3: Erzieherische Gedankenlosigkeit oder ungerechtfertigte Dominanz sind ohne Risiken und Nebenwirkungen zu haben!

Da wir insbesondere in erzieherischen Stresslagen meist so reagieren, wie wir es selbst während unserer Erziehung erlebt haben, kann sich der Schlendrian des Erzieherischen fortsetzen. Die Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Gedankenlosigkeit sind jedoch verheerend. So wachsen schätzungsweise über 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen ohne ein berechenbares Gegenüber heran und lernen, dass Spontaneität, Kreativität und eigene Suche unwillkommen sind. Nicht selten verlieren diese Menschen den Kontakt zu sich selbst bereits in frühen Jahren.

Was tun?

Susanne, eine 38-jährige alleinerziehende Mutter, berichtete in einem Seminar:

»Immer wieder komme ich in eine Situation, in der ich gegenüber meinen Kindern ausflippe. Meistens geschieht dies, wenn ich nach der Arbeit in ein völlig durchwühltes Zuhause komme. Dann möchte ich am liebsten die Werte Ordnung, Sauberkeit und Disziplin in sie hineinbrüllen. Oft fließen dann auch Tränen, und erst wenn sich alles wieder beruhigt hat, zeigt mir dann David, mein Kleinster, stolz, was er alles an diesem Tag gebastelt hat – fast wäre es nicht dazu gekommen, bei dem ganzen Krach. Das habe ich jetzt ändern können. Eine gute Freundin sagte mir. ›Was erwartest du eigentlich? Kinder bedeuten Unordnung. Du musst deine Single-Werte unbedingt aufgeben, denn Kinder bedeuten auch Kreativität, Ideenreichtum und Beziehungsangebote ohne Ende. Wenn ich abends heimkomme, freue ich mich auf die Vielfalt, und ich kann dabei wunderbar entspannen. Wenn ich allmählich beginne, das eine oder andere beiseite zu räumen, habe ich schon oft erlebt, dass sie mir dabei helfen, während sie weiterplappern.‹ Ihren Rat ›pass auf, dass du nicht in deiner Single-Welt vertrocknest, während doch um dich herum das Leben tobt‹ habe ich mir sehr zu Herzen genommen.«

Dieser Fall illustriert, worum es in der Erziehung im Kern geht:

Heranwachsende Menschen erleben im Kontakt mit ihren engen Bezugspersonen, worauf es ankommt.

 

Steht die Einhaltung von bloßen Prinzipien (»Die Wohnung ist aufgeräumt, wenn ich heimkomme!«) im Vordergrund? Oder geht es um Austausch, Beziehungserleben und Miteinandersein? Eltern, die schon beim Nachhausekommen auf eine Konfrontation eingestellt sind und bestätigt finden, was sie befürchteten, riskieren damit die enge Beziehung zu ihren Kindern.

Die wesentliche Lektion einer wertestiftenden Erziehung lautet:

Handeln Sie stets so, dass Sie Ihrem Kind zeigen, welche Werte Ihnen wichtig sind und, geben Sie ihm Raum, seine eigenen Werte zu entdecken.

Konkret heißt dies auch: »Unsere Erwartungen an das Verhalten unserer Kinder und Jugendlichen dürfen wir nicht herausbrüllen, sondern müssen sie ›herausleben‹!« Werte können nämlich nicht einfach so von anderen übernommen werden, sondern müssen selbst verinnerlicht werden. Wenn wir diesen Grundsatz berücksichtigen, haben wir alle Hände voll zu tun. Immer wieder unterläuft uns nämlich der Fehler, dass wir auf Wertvorstellungen beharren, diese deklarieren oder gar beschwören. Wir bemerken oft nicht, dass wir dabei genau gegen die Werte verstoßen, die uns doch angeblich so heilig sind.

»Ja genau«, bemerkte ein weiterer Teilnehmer des erwähnten Seminars. »Mir passiert dies ständig. Letztens ertappte ich mich dabei, wie ich gestresst zu meinem Sohn sagte: ›Ist mir völlig egal, ob du dies verstehst, es wird so gemacht, wie ich das will!‹ Darauf schaute mich mein 16-jähriger Sohnemann an und sagte: ›Das ist undemokratisch. Wie soll man in dieser Diktatur zum Demokraten reifen?‹ Ich weiß auch nicht, wo der das her hat.«

Der »Sohnemann« hat Recht – sein Recht. Damit Wertbindungen entstehen können, müssen die Werte, um die es uns oder der Gesellschaft geht, spürbar erlebt werden können. Ob Erziehungssituationen selbst bereits demokratisch sein können, ist gleichwohl eine andere Frage, schließlich kennt auch die Demokratie Bürgerpflichten, über die nicht immer wieder neu verhandelt wird! Demokratie wird jedoch nur erlebt, wenn Fragen zugelassen und Begründungen abgegeben werden. Wer nur mit scharfer Autorität konfrontiert aufwächst, hat wenig Gelegenheit, den demokratischen Dialog zu erleben, zu üben und zu erlernen.

Ähnliches gilt auch für die Formen der gewaltfreien Kommunikation. Auch hier lässt sich beobachten, dass die Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen meist auf eigenem Erleben – in der eigenen Familie, bei Freundinnen bzw. Freunden oder in den Medien – basiert. Erleben Kinder und Jugendliche demgegenüber einen respekt- und würdevollen Umgang mit Andersdenkenden, sind sie auch eher in der Lage, sich selbst in entsprechendem Verhalten zu üben. Müssen sie sich respektlose Kommentare über andere anhören, greifen sie auch selbst zu ähnlichen Äußerungen oder beteiligen sich an ausgrenzendem Verhalten. Erleben Kinder und Jugendliche hingegen Eltern oder andere Erwachsene, die sich offen gegen die Ausgrenzung von Andersdenkenden wenden, dann ist die Chance größer, dass sie auch selbst zu einem solchen Verhalten greifen. Diese Hinweise führen uns zu einer weiteren Lektion einer wirksamen Erziehungspraxis:

Man kann den Einsatz für demokratische Werte nicht einfordern, man kann aber selbst zu einem Vorbild für gelebte Mitmenschlichkeit, Solidarität und Humanität werden.



Wer im Zusammenhang mit Erziehung über Ordnung zu reden beginnt, bewegt sich auf dünnem Eis. Zu nahe liegt dieser Begriff einem Bild von »Zucht und Ordnung«, dem es um Prinzipien und Rechthaben sowie um die Anpassung der Nachwachsenden um jeden Preis geht. Zwar wäre die vom Zögling Törleß erduldete Zerstörung seiner Seele heute sicherlich als Erziehungsauftrag einer europäischen Bildungsinstitution kaum noch denkbar, doch ganz verschwunden ist die Erziehungsgewalt – im wahrsten Sinne dieses verbreiteten Wortes – in unserer Gesellschaft nicht. Ein Blick in die Statistik zur Kindesmisshandlung zeigt: Im Jahr 2014 wurden in Deutschland 108 Kinder getötet, 4204 wurden misshandelt (Thurm 2015). In der Schweiz stieg die Zahl der misshandelten Kinder von 2014 auf 2015 um 9 Prozent (»Tages-Anzeiger« vom 29.5.2015). Die Skepsis gegenüber Erziehungsparolen, die stärker auf die öffentliche Ordnung als auf das Kindeswohl setzen, ist vor dem Hintergrund dieser offensichtlichen Unausrottbarkeit rigider Erziehungspraktiken mehr als berechtigt: Sie ist notwendig – gerade für eine Gesellschaft, die den Schutz der Würde des Einzelnen auf ihre Fahnen geschrieben hat!

Und doch benötigen Kinder und Jugendliche eine Ordnung, um sich gelingend zu entwickeln: die innere Ordnung des Kontextes, in dem sie aufwachsen.

Diese Ordnung meint allerdings nicht nur irgendwelche überlieferten Vorstellungen von Recht, Moral und öffentlicher Ordnung, sondern bezeichnet eher eine Festigkeit und Berechenbarkeit der Welt, in der die Rollen und Zuständigkeiten deutlich und erlebbar geregelt sind, sodass sie dem suchenden Heranwachsenden Orientierung und Schutz zu stiften vermögen. Eine zeitgemäße Erziehungsparole lautet demnach nicht »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!«, sondern »Bieten Sie Ihrem Kind selbst eine berechenbare Ordnung, die es erleben, an der es sich orientieren oder auch reiben, deren Schutz es aber genießen kann!« Durch Beziehung zu erziehen, setzt deshalb zunächst eine Klarheit voraus. Ohne diese ist eine enge Beziehung nicht möglich. Menschen können sich nur auf klare Positionen beziehen, auf diffuse, uneindeutige oder gar widersprüchliche Botschaften kann man sich nicht beziehen – das gilt für große, aber noch mehr für kleine Menschen. Deshalb lautet eine weitere Lektion einer gelingenden Erziehungspraxis:

Seien Sie klar in den Botschaften, die Sie Ihrem Kind geben! Kommunizieren Sie eindeutig, und leben Sie eine Bezogenheit, die eindeutig ist!

Die Ordnung, die Eltern und Erziehende sichtbar und spürbar zum Ausdruck bringen sollten, wenn sie wirksam erziehen wollen, ist durch die vier »B« einer nachhaltigen Erziehung definiert (vgl. Arnold 2007, S. 92):

Bindung: Ich habe ein spürbares Interesse am inneren Wachstum und der Entwicklung meines Kindes bzw. meiner Schülerin oder meines Schülers!

Begrenzung: Ich lasse mein Kind bzw. meine Schülerin oder meinen Schüler die Festigkeit und Berechenbarkeit, aber auch Hinterfragbarkeit meiner Welt deutlich spüren, ohne unnötig einzugrenzen!

Begleitung: Ich bin stets präsent (nicht abwesend), aber in der Tendenz zurückhaltend!

Bildung: Ich unterstütze die höhere Entwicklung des Selbst meines Kindes bzw. meiner Schülerin oder meines Schülers! (nach Arnold 2007, S. 92)

Diese Ordnungselemente beschreiben eine Struktur, die nicht allein aus äußeren Vorgaben besteht. Entscheidend ist vielmehr, dass die Erziehenden selbst in »geordneten Verhältnissen« leben, wie der Volksmund sagt. Gemeint sind dabei allerdings nicht die wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern die inneren Verhältnisse, in denen die Akteurinnen und Akteure zueinander stehen. Sind diese klar, zuverlässig und rollensicher oder sind diese selbst uneindeutig – dies die Grundfrage jeder Erziehungsberatung.

Ein befreundeter Familientherapeut berichtete mir:

»Wenn Eltern sich bei mir Rat holen, kommt es immer wieder vor, dass ich auch relativ rasch erkenne, wie es um die Klarheit der Beziehungen in dieser Familie steht. Immer wieder steht hinter einem Schulversagen eine kindliche Überforderung im Beziehungsalltag der Familie. Kinder sind da sehr feinfühlig. Sie spüren, wenn der Vater einsam oder die Mutter enttäuscht ist, beziehen dies durch ihre feinen Sensoren auf sich selbst und schließen oft allzu bereitwillig die Lücke in der Beziehungsdynamik der Familie. Dann kommt es vor, dass der Sohn mehr und mehr zum Vertrauten der Mutter wird, während die Tochter den Vater tröstet. Mein erster Rat ist deshalb meist: ›Wenn Sie sich tatsächlich eine gesunde innere Entwicklung für Ihre Tochter oder Ihren Sohn wünschen, dann ordnen Sie zunächst Ihre Beziehung neu!‹ Es kommt immer wieder vor, dass Eltern an dieser Stelle verärgert die Beratung abbrechen, einige aber bleiben am Ball und justieren an der richtigen Stelle!«

Gelingende Erziehung setzt somit eine Ordnung der Beziehungen in der Familie voraus. Dies bedeutet nicht, dass nunmehr alle Elternpaare sich darum bemühen sollten, nach demselben Muster zusammenzuleben. Der Blick auf die Ordnung der Erziehung konfrontiert die Beteiligten zunächst mit der nüchternen Ausgangsfrage: »Darf Ihr Kind bei Ihnen wirklich nur Kind sein, oder ist es mit emotionalen Zusatzfunktionen befasst, die es überfordern und von seiner eigentlich anstehenden Entwicklungsaufgabe ablenken, weshalb es zurückbleibt oder mit seinem ›Versagen‹ oder einem auffälligen Verhalten auf sich aufmerksam macht?«

Es ist insbesondere der systemischen Familientherapie zu verdanken, seit den 1980er-Jahren den Blick auf den Kontext eines Problems erweitert zu haben. Der Einzelne wird nicht mehr länger als alleiniger Problemträger behandelt, sondern als Ausdruck des Systems, dessen Teil er ist. Sein Verhalten (z. B. Schulversagen) wird dabei als eine authentische und überlebenssichernde Reaktion auf die Lage des Gesamtsystems analysiert. Die Klientel (hier das Kind) wird als kompetente Akteurin in den Blick genommen, deren Verhalten sich nicht nach objektiven Kriterien als »richtig« oder »falsch« bemessen lässt. Entscheidend ist vielmehr, warum dieses Verhalten dem Akteur (hier: dem Kind) in seiner Lage als passend erscheint und weshalb er letztlich seinen Weg in das Problem anderen möglichen Wegen vorzieht. Dies zu ermitteln und dann die Bedingungen zu verändern, auf die sich das auffällige Verhalten eigentlich bezieht, ist die Absicht systemischer Familien- und Erziehungsberatungskonzepte.

Zugegeben: Diese Beschreibung ist noch nicht präzise genug, und es stellt sich auch die Frage, was diese Behandlung des Kindes als eines kompetenten Akteurs mit unseren einleitenden Bemerkungen zur inneren Ordnung von Familiensystemen zu tun hat. Die Antwort auf diese Frage liegt jedoch auf der Hand:

Wenn Kinder und Jugendliche vor allem stets darum bemüht sind, in ihren Familien eine Rolle zu spielen, die diese in einem Gleichgewicht hält (= alle wichtigen Funktionen werden übernommen), dann ist der Blick auf die innere Ordnung dieser Systeme grundlegend. Zu prüfen ist in jedem Einzelfall, ob die Kinder und Jugendlichen sich in diesen bestehenden Systemen ihrer Entwicklungsaufgabe (z. B. Heranreifen, Sicherproben, Schulerfolg) stellen können oder ob und inwieweit sie noch andere Aufgaben erledigen müssen, weil sie sonst niemand erfüllt.

Der bekannte Familientherapeut Rüdiger Retzlaff hat eine Liste von möglichen Ursachen für Störungen in den familiären Beziehungswelten zusammengestellt (Retzlaff 2013, S. 31 ff.). Diese sind auch Lebenswelten des Aufwachsens, von denen im Folgenden einige ausgewählt, kurz beschrieben und mit ihren Wirkungen auf die vier »B« einer gelingenden Erziehung in Verbindung gebracht werden sollen.

Wissen, was wirkt

Man kann dabei leicht erkennen, dass spezifische Konstellationen (Strukturbesonderheiten) in der vom Kind erlebten Familienwelt auch mit der Ausblendung einiger der zentralen »B« einhergehen. Diese Strukturbesonderheiten wählen sich Kinder und Jugendliche nicht aus, sie sind von ihren Auswirkungen betroffen und geprägt. Bisweilen übertönen diese Strukturbesonderheiten das, worum es der Erziehung eigentlich geht, nämlich um die Anregung, Begleitung und Stärkung Nachwachsender in ihrer Entwicklung. Wenn ihnen ihr Kindsein genommen wird, weil sie zu früh mit Funktionen betraut werden, die sie überfordern müssen, dann wachsen Kinder und Jugendliche bereits in äußeren Verwerfungen heran, die sie auch innerlich nur schwer balancieren können. Wer als Kind schon Erwachsene begleitet, sensibel auf sie achtet, Konflikte und Krisen auszugleichen lernt, der kann zwar bereits früh erstaunliche Fähigkeiten entwickeln, diesen fehlt jedoch häufig die wirkliche Verankerung in einer durchreiften Persönlichkeit.

Begegnet ihnen dann die Gesellschaft auch noch bloß mit rigider Erziehung (Ermahnung, Kontrolle, Strafe usw.), dann finden diese jungen Menschen noch nicht einmal die Möglichkeit einer Nachreifung in verständnisvollen und geschützten Kontexten; viel naheliegender ist ihr Abgleiten in eine Chancen- und Perspektivlosigkeit, die ihnen die Erfahrung immer und immer wieder gibt, die sie schon hinlänglich intensiv haben genießen können: »Stör mich nicht immer! Ich sehe dich (nur), wenn du störst!« Daniel Goleman, der bekannte amerikanische Bestsellerautor, schreibt in seinem Buch »Emotionale Intelligenz«:

 

»Über die lebenslangen Folgen eines emotional unzureichenden elterlichen Verhaltens und speziell über seine ursächliche Bedeutung für die Aggressivität eines Kindes lässt sich manches aus Langzeitstudien entnehmen (…). Die aggressivsten Kinder – diejenigen, die am schnellsten einen Streit anfingen und ihren Willen gewohnheitsmäßig mit Gewalt durchsetzten – brachen am ehesten die Schule ab und waren mit 30 Jahren wegen Gewaltverbrechen vorbestraft. Außerdem schienen sie ihre Neigung zur Gewalt weiterzugeben: Ihre Kinder waren in der Grundschule genau wie die Unruhestifter, die ihre straffällig gewordenen Eltern gewesen waren« (Goleman 1998, S. 248).

Für Erziehungsverantwortliche ergibt sich aus solchen Befunden eine wichtige weitere Lektion:

Blicken Sie stets »wissend« auf das Kind bzw. die Jugendliche oder den Jugendlichen! Erkennen Sie in seinen oder ihren Verhaltensauffälligkeiten nicht nur das, was Sie ärgert, sondern reflektieren Sie auch die Strukturbesonderheiten, denen dieses Verhalten entstammt!

In einem Seminar über Kindererziehung meldete sich eine Teilnehmerin empört zu Wort:

»Nicht schon wieder! Immer landen Sie mit Ihren Kommentaren doch wieder bei einem Schuldvorwurf. Es sind letztlich die Eltern, die daran schuld sind, dass sie ihrem Kind diese ›Strukturbesonderheiten‹ bieten, wie Sie es nennen. Das ist mir echt zu blöd. Schließlich hat mich selbst auch keiner gefragt, in welchen ›Strukturbesonderheiten‹ ich aufwachsen wollte. Und die, in denen mein Mann aufgewachsen ist, kenne ich zur Genüge, ohne an deren Auswirkungen auf unser Familienleben irgendetwas ändern zu können.«

Ein anderer Teilnehmer reagierte mit den Worten:

»Also ich verstehe diese Hinweise nicht als Schuldvorwurf, ehrlich gesagt. Ich verstehe sie als die Ermutigung, alles auszuschließen, was nicht Teil der Beziehung zu unseren Kindern sein muss. Es geht darum, die subtilen Dynamiken zu verstehen, die da am Wirken sind, während wir glauben, wir hätten die Aufgabe, ein unerwünschtes Verhalten bei unserem Kind abzustellen, und dann erstaunt sind, dass dies nicht wirklich dauerhaft gelingt. Ich habe begonnen, über meine Herkunftsfamilie und meine augenblickliche Beziehung genauer nachzudenken, und ich kann nur sagen: Mir sind dabei einige Besonderheiten aufgefallen, die nicht deshalb auch für mein Kind hilfreich sind, nur weil ich diese so habe. Seit ich begonnen habe, meine Rolle in der Familie zu reflektieren und zu verändern, läuft es auch irgendwie mit meinem Sohn besser!«

In diese Richtung wirkt eine aufklärende Erziehungsberatung. Sie ist immer auch zunächst eine Beziehungsreflexion. Keine Sorge, dabei geht es nicht um etwas, was wir gar nicht vorhatten, nämlich die Reflexion unserer augenblicklichen Beziehungen und der Art, wie wir sie zu führen gewohnt sind. Es geht vielmehr darum, uns selbst besser zu verstehen. Von einer solchen Selbstreflexion kann das gesamte Familiensystem profitieren, wenn man sich auf eine nüchterne und auch schonungslose Betrachtung der Strukturbesonderheiten der eigenen Herkunftsfamilie und der aktuellen Beziehung, die man seinen Mitmenschen und damit auch seinem eigenen Kind angedeihen lässt, einlässt. Dabei geht es nicht um eine Bewertung dessen, was ist, sondern um eine nüchterne Betrachtung der Kontexte, mit denen wir bislang schicksalhaft ergeben umgegangen sind. Indem wir diese daraufhin betrachten, welche Entfaltungsmöglichkeiten sie bieten oder geboten haben und welche sie ausgeschlossen haben, entwickelt sich auch eine ruhigere Haltung gegenüber aktuellen Erziehungsproblemen, die nach einer Sofortlösung zu rufen scheinen.

Sofortlösungen gibt es nämlich eher selten, wohl aber Kontexte des Aufwachsens. Diese Kontexte wirken nicht einfach so, wie sie sind, sondern wirken durch die Interpretation der verantwortlichen Akteurinnen und Akteure. Diese kommentieren, interpretieren und deuten Erziehungsfragen im Kontext ihres Familiensystems, wodurch sie eine Erblast weitergeben, die oft eine schon seit Generationen in dem Familiensystem wirkende Praxis ist. Reflektierende Eltern und Erzieherinnen hingegen sind in der Lage, aus den überlieferten Bildern auszusteigen. Sie führen das Verhalten ihrer Kinder nicht auf böse Absicht, Hinterlistigkeit oder Unerzogenheit zurück, sondern verstehen es auch als Ausdruck dessen, was ist. Immer wieder suchen sie nach neuen Lösungen, um sich selbst und den eigenen Kindern neue Erfahrungen zu ermöglichen und so allmählich einen anderen Erziehungskontext entstehen zu lassen. Es sind die Akteurinnen und Akteure selbst, insbesondere die Eltern, die hierbei gefragt sind. Sie

•nehmen nicht nur die bisherigen Strukturbesonderheiten ihrer Familienbeziehung nüchtern in den Blick, sondern

•verstehen auch, wie diese wirken können, indem ihr Kind z. B. für ihre eigenen und nicht für seine eigenen Bedingungen tätig wird, und

•suchen mutig und entschlossen neue Wege – jenseits der Anklage, Zurechtweisung und Belehrung.

Eine Mutter stellte in einem Erziehungsseminar fest:

»Also ich finde, es kann nicht schaden, wenn jeder, der ein Kind zu erziehen hat, sich um die Strukturbesonderheiten – ich nenne sie: ›Strubes‹ – seiner eigenen Geschichte des Aufwachsens kümmert. Seitdem ich damit begonnen habe, sehe ich nicht nur die Erziehungsbemühungen meiner Mutter mit anderen Augen, sondern bin auch selbst nicht mehr so verbohrt, wenn es darum geht, mit den Ungezogenheiten meines Filius umzugehen. Dadurch sind mir beide nähergekommen. Und das eigentlich Erstaunliche ist: Ich habe an einer ganz anderen Stelle gebohrt, als ich es sonst tue!«

Welche Strukturbesonderheiten sind in Familienbeziehungen verbreitet? Und wie können sich diese auswirken und Erziehungsprobleme entstehen lassen?

Die folgende Auflistung aus der erwähnten Arbeit von Retzlaff (2013, S. 31 ff.) kann bei der Suche nach den eigenen »Strubes« Anregungen bieten. Bei den in ihr aufgeführten Besonderheiten handelt es sich nicht um eine Art Mängelliste – nach dem Motto »Wie können die nur!«. Die aufgeführten »Strubes« sind vielmehr üblich. Jeder von uns ist mit einigen von ihnen während seines eigenen Aufwachsens in Berührung gekommen und in seinen sozial-emotionalen Möglichkeiten, sich selbst und die anderen zu spüren, geprägt worden. Die »Strubes« sind in uns als Markierungen für das angemessene und »richtige« Verhalten tief verwurzelt, und nur indem wir sie erkennen, können wir sie ihrer Wirkung berauben. Und durch Übung können wir immer besser darin werden, bei Erziehungskonflikten nicht selbst einfach so zu reagieren, wie uns unsere Gefühle gewachsen sind, sondern so, dass unser Gegenüber eine weitere Möglichkeit erhält, sich uns mitzuteilen.

Eine weitere Erziehungslektion lautet deshalb:

Wenn Sie mit Ihrem Kind nicht mehr weiterwissen, fragen Sie nach den »Strubes« (Strukturbesonderheiten) in Ihrem eigenen Leben, und bemühen Sie sich darum, deren Wirkungen im Hier und Jetzt zu begrenzen!


Die »Strubes« (Strukturbesonderheiten)BeispieleDie fehlenden »B«
»ungünstige familiäre Organisationsform, beispielsweise starre oder diffuse interpersonelle Grenzen« (Retzlaff 2013, S. 31)Die Mutter schläft wegen seiner Einschlafprobleme beim kleinen Sohn, der Vater erlebt die Tochter als seine »wahre« Freude, die Eltern interessieren sich wenig für die Belange der Kinder oder mischen sich beständig ein.Das »Interesse am inneren Wachstum und der Entwicklung« (d. h. die »Bindung«) des Kindes steht hier ebenso wenig im Vordergrund (es geht um rasches Einschlafen und wahrscheinlich um ein Elterninteresse), wie auch die »Begrenzung« (»Ich weiß, wo mein Platz ist«) dadurch unklar ist, dass der Vater offensichtlich im Übermaß durch seine Tochter auflebt – eine Funktion, die eigentlich der Mutter »gehört«.
»eine problematische Hierarchie im Sinne einer Rollenkonfusion zwischen den Generationen« (ebd.)Der Sohn ist für die alleinerziehende Mutter Partner- oder Vaterersatz (Tröster), während die Mutter in eigener Unsicherheit versinkt.Auch in diesem Fall kommen die »B« »Begrenzung« und »Begleitung« nicht wirklich im Interesse des Nachwachsenden zum Tragen. Dieser muss vielmehr auch Funktionen wahrnehmen, die unerledigt sind, wodurch er überfordert ist und emotional selbst zurückbleibt, da er sich seiner eigentlichen Reifungsaufgabe nicht mit der nötigen Begleitung widmen kann: Er ist begleitetes Kind und Begleiter zugleich.
»konflikthafte Dreiecksbeziehungen, wenn ein Eltern- oder Großelternteil offen (…) gegen einen Elternteil mit einem Kind paktiert« (ebd.)Der Großvater steckt dem drogenabhängigen Sohn heimlich Geld oder Beruhigungsmittel zu.Hier wirken die durch die Eltern gesetzten »Begrenzungen« nicht (aufgrund möglicherweise ungeklärter Vater-Tochter- oder Vater-Sohn-Beziehungen auf der Elternebene), und auch das fürsorgliche »B«, das Interesse an der Höherentwicklung des Selbst (d. h. die »Bildung«), wird gewissermaßen torpediert. Das drogenabhängige Kind wird im Sinn eines ungeklärten Konflikts auf einer anderen Ebene funktionalisiert.
»paradoxe Hierarchieumkehrung« (ebd., S. 32)Durch die Entwicklung eines Symptoms rückt das Kind in eine starke Position, welche die Schwierigkeiten der Eltern zurücktreten lässt.Weder das »Interesse am inneren Wachstum und der Entwicklung« (d. h. die »Bindung«) noch die »Begrenzung« oder die entwicklungsfördernde »Begleitung« des Kindes kommen wirklich zum Tragen, wenn das Kind (als Tröster, Ersatz oder Berater) über die Eltern rückt. Es neigt dann nicht selten zu arroganten und aufgeblasenen Verhaltensweisen, da es nur äußerlich erwachsen, aber innerlich zurückgeblieben ist.
»soziale Isolation und ein fehlendes Netzwerk« (ebd.)Durch soziale Isolation (z. B. nach Migration) werden starre Grenzen nach außen konserviert und der Kontakt zu Gleichaltrigen so erschwert.»Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen«, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Wer sein Kind in sozial isolierten Kontexten aufwachsen lässt, verstößt gegen sämtliche »B« einer gelingenden Erziehung: das Interesse am Wachstum und der Entwicklung (»Bindung«), die »Begrenzung« im Sinn einer Einbettung in das gesellschaftliche Umfeld, die zurückhaltende »Begleitung« sowie die höhere Entwicklung des Selbst (»Bildung«), da ihm Möglichkeiten zur selbstständigen Auseinandersetzung mit den reichhaltigen Möglichkeiten von Kultur und Gesellschaft vorenthalten werden.
»die Erfüllung einer positiven Funktion von Symptomen für die Familie« (ebd.)Symptomträger/-in (z. B. Schulversager/-in) absorbiert alle Aufmerksamkeit und trägt so zum Erhalt des familiären Gleichgewichts bei.Kinder, die durch ihre Schwierigkeiten alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen (um von anderem abzulenken), lernen mit der Zeit, dass dies ihre überlebenssichernde Strategie ist. Die Möglichkeit, sich nach eigenen Maßgaben und Potenzialen zu entwickeln (»Bildung«), wird ihnen vorenthalten, und sie haben in ihrem späteren Leben oft Schwierigkeiten, sich in einer anderen als einer im Zentrum stehenden Form zu positionieren.
»unklare und widersprüchliche Kommunikation« (ebd.)Kinder werden durch unterschiedliche Auskünfte zum selben Sachverhalt verwirrt und verunsichert.Wer uneindeutig oder gar widersprüchlich mit seinem Kind kommuniziert (bekannt sind z. B. Doppelbindungsfallen, wie »Sei spontan!«, »Hab mich lieb!«, »Ich will, dass du freiwillig tust, was ich von dir erwarte!«) oder seine eigene Position unklar lässt (mangelnde »Begrenzung«), der erzeugt ein für die Reifung und Entwicklung des Nachwuchses eher ungünstiges familiäres Orientierungsfeld.
»Mystifizierung« (ebd.)Das Kind lernt, dass nicht gilt, was es wahrnimmt, und spürt, sondern nur, was es vom Erwachsenen gesagt bekommt.Eine solche Erfahrung schwächt die Entstehung eines Vertrauens in die eigenen Kräfte. Die notwendige »Begrenzung« gibt nicht bloß Halt, sondern grenzt ein. Auch die notwendige »Begleitung« der Nachwachsenden beschränkt sich nicht auf Präsenz, Schutz und Orientierung – sie beherrscht sie in einer Dominanz, deren Maßgaben nicht verstanden oder vorhergesagt werden können, sondern als schicksalhaft empfunden werden.
»Einschränkende Glaubenssätze und Wirklichkeits-konstruktionen« (ebd.)Kinder wachsen in der Deutung auf, die Welt außerhalb der Familie sei schlecht.Diese eher begrenzende und dominierende Eingebundenheit der Nachwachsenden lebt u. a. in rigiden Deutungssystemen fort, die von den Kindern und Jugendlichen Gehorsam und Gefolgschaft einfordern. Offenheit, Erprobung, Eigenbewegung sowie die Höherentwicklung des Selbst (»Bildung«) werden eingeschränkt und häufig auch unterbunden.
»familiäre Delegationen« (ebd.)Eltern, die ihr Land verlassen mussten und alles verloren haben, erwarten unausgesprochen von ihrem Kind erfolgreich zu sein und alles auszugleichen.Kinder und Jugendliche, die im Kontext hoher Erwartungen ihrer Eltern oder einer Familientradition heranwachsen, haben es schwer, ihre eigenen Motive gegen die starken Wirkungen dieser Botschaften zu entdecken und zu artikulieren. Häufig werden andere Regungen und Potenziale in ihnen eher dementiert als zurückhaltend unterstützt oder gar begrüßt (mangelnde »Begleitung«). Nicht selten zerbrechen sie an dem Widerspruch zwischen dem Eigenen, das sich in ihnen regt, und den Erwartungen, den Traum ihrer Familie zu leben. Ein spürbares Interesse am inneren Wachstum und der Entwicklung des Kindes (»Bindung«) fehlt.

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