Harzhunde

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Von einer Sekunde zur anderen wechselte Kullmanns Mimik erneut. Er grinste seinen Gast spöttisch an, wirkte fast schon gelangweilt, als er sagte: „Ja, mein Lieber, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie sich umsonst bemüht haben, die Fehltritte meiner Frau nachzuweisen.“

„Aber ... ich glaube, ich verstehe Sie nicht.“

„Na ja ...“, sagte Kullmann gedehnt, lehnte sich mit übergeschlagenen Beinen zurück und faltete die Hände vor dem Bauch, „meine Frau hat mich verlassen. Ist abgehauen, zusammen mit ihrem Therapeuten, jenem Dr. Dreyling.“ Abfällig betonte er den Namen des Mannes. „Als ich gestern Nachmittag von meiner Geschäftsreise zurückgekommen bin, war sie schon weg. Abends hat sie mich dann angerufen und mir alles gebeichtet. Wenigstens das. Aber sie hatte nicht den Mumm zu warten, bis ich zu Hause bin, um mir ihr Geständnis und ihren Entschluss ins Gesicht zu sagen.“

„Und wohin ist sie ...?“, fragte Blume. Er fühlte sich von der unerwarteten Wendung völlig überrumpelt.

„Was weiß denn ich?“, schnappte Kullmann. „Wo sie sich mit ihrem neuen Lebensgefährten niederlassen will, hat sie mir leider nicht mitgeteilt.“ Die Verbitterung in der Stimme des Mannes war jetzt unüberhörbar. „Ach, was soll’s“, er wedelte mit der Hand, als wolle er seine dunklen Gedanken wie eine lästige Fliege verscheuchen, „man kann die Menschen nicht aufhalten. Wenn sie unbedingt gehen wollen, muss man sie ziehen lassen.“ Er beugte sich vor, fixierte Blume mit seinen dunklen Augen. „Und was Sie und Ihre Arbeit betrifft – ich werde Sie selbstverständlich für Ihre Mühen entschädigen. Wie vereinbart. Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Dass sich die Geschichte so entwickelt, konnten Sie ja nicht voraussehen. Ihre Rechnung haben Sie dabei?“

Blume nickte und zog einen Briefumschlag aus der Tasche, den er Kullmann über den Tisch schob. Der Mann nahm das Kuvert, öffnete es und überflog die innen liegende Auflistung.

„Ich darf davon ausgehen, dass Sie die Rechnung wie besprochen umgehend vernichten?“

Kullmann nickte. „Natürlich, Herr Blume. Die Sache bleibt unter uns.“ Er erhob sich, verschwand in einem Nebenraum und kam kurz darauf mit einem Bündel Geldscheinen zurück. „Ich habe Ihnen ein paar Euro obendrauf gelegt“, sagte er generös und drückte seinem Gast das Geld in die Hand.

„Vielen Dank.“ Blume ließ die Scheine in seiner Tasche verschwinden.

„Dann würde ich Sie jetzt gern verabschieden, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, sagte Kullmann. „Ich habe noch einige wichtige Sachen zu erledigen.“

Blume nickte und stand auf. Er ließ sich zur Haustür begleiten. „Hat mich gefreut, Sie kennengelernt zu haben. Machen Sie’s gut“, sagte der Hausherr und klopfte ihm jovial auf die Schulter. „Und noch mal, Sie haben erstklassige Arbeit geleistet. Vielleicht nehme ich Ihre Dienste mal wieder in Anspruch.“

„Würde mich freuen ...“, wollte Blume entgegnen, aber da war Kullmann schon im Hausinneren verschwunden und die Tür ins Schloss gefallen.

Was für ein eleganter Rausschmiss!, dachte Blume, als er die Granitstufen hinabstieg. Und was für eine rasante Entwicklung! Kullmanns Frau und ihr Liebhaber gemeinsam durchgebrannt! Damit hatte er nicht gerechnet. Aber das war jetzt nicht mehr sein Problem. Sein Job war erledigt und seine Brieftasche gut gefüllt. Er setzte sich in seinen Toyota, genoss die kurze Fahrt durch den Traumpark zurück zur Straße und freute sich auf den Abend mit Katja.

3. Kapitel

Dr. Gernot Fischer hatte hohe Ansprüche. An sich selbst und seinen Beruf als Tierarzt, an seine Kunden, seinen Lebensstil, seine immer öfter wechselnden Schicki-Micki-Freundinnen und überhaupt. Er hasste das Durchschnittliche, das Alltägliche. Menschen, die sich mit wenig begnügten, waren ihm zuwider. Nur wer groß dachte und handelte, konnte auch groß werden und es im Leben zu etwas bringen. Auf seinem Weg nach oben gab es mittlerweile jedoch ein Problem, das er nicht mehr ignorieren konnte – Geld!

Eine gewisse Zeit hatte er seinen ausschweifenden Lebensstil und seine kostspieligen Ideen aus dem Erbe der verstorbenen Eltern finanziert. Danach war ihm immer wieder die Bank, dank des guten Leumunds seines Vaters, mit großzügigen Krediten entgegengekommen. Man hatte ihm insbesondere bei der extrem teuren Erweiterung seiner Haustierpraxis zu einer luxuriösen Privatklinik für die kleinen und großen Lieblinge reicher Tierhalter zur Seite gestanden. Zu Anfang. Als seine Pläne immer weiter ausuferten und Zweifel an seiner Kreditwürdigkeit aufkamen, hatten die Verantwortlichen in der Bank die Reißleine gezogen und den Geldhahn zugedreht. Gernot Fischer sah sich gezwungen, das benötigte Kapital bei privaten Kreditgebern zu beschaffen. Einen Gang zurückzuschalten und sein hochtrabendes Leben in finanzierbare Bahnen zu lenken, daran dachte er zu keiner Minute.

Am südlichen Ortsrand von Benneckenstein, im Grenzgebiet der Bundesländer Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, hatte er sich seinen Traum vom naturnahen, aber luxuriösen Leben erfüllt. Ein kleines Hotel, umgeben von einem verwunschenen Wäldchen aus Laubbäumen und Fichten, war von den betagten Eigentümern mangels Nachfolge zum Verkauf angeboten worden. Fischer hatte sich das Hotel für vergleichsweise kleines Geld unter den Nagel gerissen, um dann in großem Stil in den Umbau zu investieren. Das Erdgeschoss wurde zur Tierarztpraxis, das Obergeschoss ließ er zu seiner Traumwohnung ausbauen – modern, mit allen nur möglichen Annehmlichkeiten bequemen Lebens und gleichzeitig heimelig und ländlich robust, mit offenem Gebälk und anderen Blickfängen. Auf einem kleinen Balkon konnte er bei gutem Wetter die Natur genießen. Der Wald erhob sich direkt hinter dem Haus, nur ein paar Meter vom Fuß der Edelstahltreppe entfernt, die den Balkon mit dem Erdboden verband. Alles an der Wohnung wirkte harmonisch, kein Einrichtungsdetail stach aufdringlich hervor, sah man von den sündhaft teuren Kunstgegenständen ab, die Fischer glaubte, sich leisten zu müssen. Weniger Ausdruck seines Kunstsachverstands, sondern mehr Zeichen seines Wohlstands. Dann war ihm die Idee mit der Tierklinik gekommnen, deren Fertigstellung und Inbetriebnahme in ein, höchstens zwei Monaten bevorstand.

Wenn er auf den kleinen Balkon hinaustrat, erstreckte sich links von ihm das Dach des neuen Klinikgebäudes. Dort, in dem Neubau, lag seine Zukunft – der Ort, wo demnächst all das Geld zusammenfloss, das er benötigte, um offene Rechnungen zu bezahlen und seinen Lebensstandard zumindest zu halten, wenn nicht gar zu steigern. Er hoffte, die Zeit bis dahin unbeschadet zu überstehen. Seine Schuldner setzten ihm schon genug zu. Lange würde es nicht mehr dauern, bis einer von ihnen die Geduld verlor. Aber er war überzeugt, die meisten seiner Kreditgeber angesichts der neuen Geldquelle zu einem weiteren großzügigen Aufschub des Rückzahlungstermins überreden zu können.

Diese vielversprechenden Aussichten, die tagtäglich seinen inneren Motor am Laufen hielten, beschäftigten ihn, als er von seiner Visite auf einem Bauernhof in Tanne zurückkehrte. Ein Notfall, eine Kuh mit Schlundverstopfung, der er diesen spätabendlichen Ausflug verdankte. Ausgerechnet. Rindviecher gehörten nicht zu seinen bevorzugten Patienten, schon gar nicht nach Praxisschluss! Spätestens wenn es in seiner neuen Klinik rund lief, würde er diese Art Kunden nach und nach abstoßen und die dreckigen, stinkenden Kuh- und Schweineställe den Kollegen überlassen.

Er entledigte sich in der Praxis seines Arztkoffers und seiner übel riechenden Arbeitskleidung und stieg die Treppe hinauf in sein privates Reich. Jetzt schnell unter die Dusche, den Geruch wegwaschen, der nach Stallbesuchen so penetrant an einem haftete, und dann den Abend bei einem erlesenen Roten ausklingen lassen.

Er schloss die Tür hinter sich, steckte mit einem Fuß schon in einer seiner bequemen Cord-Schlappen, da hielt er in der Bewegung inne. Aus dem Wohnbereich drang gedämpftes Licht, und leise Musik aus der Hi-Fi-Anlage hing im Raum. „Viva la Vida“ von Coldplay. Mareikes Lieblingslied. Sie war da? Waren sie nicht erst für morgen verabredet? Sie musste es sich anders überlegt haben, wollte ihn sicher überraschen. Einen Wohnungsschlüssel besaß sie ja. Was er in diesem Moment bedauerte. Solche Überfälle mochte er nicht. Und heute hatte er ganz und gar keine Lust auf seine Freundin. Sie redete ihm in letzter Zeit zu oft von Heirat. Nach einer heißen Liebesnacht war ihm auch nicht zumute. Er brauchte mal wieder Zeit für sich allein!

„Mareike?“

Sie antwortete nicht.

„Mareike!“, rief er noch einmal etwas lauter.

Keine Reaktion.

Er schlappte zum Wohnbereich hinüber. „Hör mal, Schatz, ich finde es ja echt klasse, dass du gekommen bist, aber ...“ Er brach erschrocken ab. Hinter dem Raumteiler erwarteten ihn zwei Männer, die ihm grinsend entgegenblickten.

„Da sind Sie ja endlich, Doktorchen“, grunzte ihm einer der beiden ungebetenen Besucher entgegen. Er saß mit übergeschlagenen Beinen im Sessel, der andere Kerl hatte es sich auf der Couch gemütlich gemacht. „Wir dachten schon, Sie kommen gar nicht mehr.“ Der Mann hielt eine Flasche in seiner Hand. Die setzte er jetzt an den Mund und genehmigte sich einen ordentlichen Schluck daraus. Sein Roter! Der beste Tropfen aus seinem Lager. Er wollte ihn heute Abend selbst genießen!

„Sie ... das ... wer sind Sie?“, stammelte Fischer fassungslos. „Wie ... wie sind Sie hier reingekommen?“

„Wie jeder anständige Mensch“, schaltete sich der Mann auf der Couch ein, „durch die Tür.“

„Aber ...“ Fischer schnappte nach Luft.

„Was? Hast du ein Problem damit? Überhaupt – gibt es hier denn kein anständiges Bier? Schlabberst du etwa nur diese ekelhafte rote Plörre?“ Er warf seinem Partner einen angewiderten Blick zu.

 

Der quittierte die Geste mit einem breiten Grinsen. „Du hast keine Ahnung, Kumpel“, schnarrte er gemütlich, „das ist ein echter Brunello di Montalcino. Ein ausgesprochen edler Tropfen, habe ich mal gelesen. Und schweineteuer. Unser Herr Tierarzt hat eben Stil. Gibt sich nicht mit einem billigen Feierabendbier ab wie du.“

„Ach, tatsächlich? Ich bin in deinen Augen also ein unkultivierter Bauernlümmel? Willst du das damit sagen?“

„Was suchen Sie hier, verdammt noch mal?“, unterbrach Fischer scharf das Geplänkel der zwei. Wut verdrängte seine anfängliche Angst. Soweit er es überblicken konnte, ging von den beiden Eindringlingen keine unmittelbare Bedrohung aus.

Überrascht wandten sie sich synchron zu ihm hin. „Was wir hier wollen?“, fragte der Weinkenner und musterte ihn gelangweilt. Dann erhob sich aus dem Sessel. Der andere Mann folgte seinem Beispiel und stand von der Couch auf.

Fischer zuckte zurück, als er die beiden Gestalten vor sich stehen sah. In den tiefen Polstern hatten sie relativ harmlos gewirkt, jetzt waren sie zu Riesen herangewachsen, einschüchternd allein schon aufgrund ihrer Größe und der breiten Schultern. Dazu die schwarzen Maßanzüge, die erst jetzt ihre ganze bedrohliche Wirkung auf Fischer entfalteten.

„Wir sind hier, um dich an deine Verpflichtungen zu erinnern, Doktorchen“, knurrte der Weinkenner. „Unser Auftraggeber meint, dass du den Zahltermin über die viele Arbeit, in der du steckst, vergessen haben könntest. Aber er braucht sein Geld dringend zurück. Deshalb hat er uns geschickt. Um dir das klarzumachen.“

Fischer versuchte, den Kloß herunterzuschlucken, der sich in seiner Kehle festgesetzt hatte. Es hätte ihm klar sein müssen, dass einer seiner Geschäftspartner seinen Forderungen auf diese Weise Nachdruck verlieh, wenn es ihm zu bunt wurde. Trotzdem hatte er den Gedanken daran weit von sich geschoben.

„Hört mal, Jungs“, sagte er mit zittriger Stimme und hob beschwichtigend die Hände, „ich weiß ja, dass ich im Verzug bin. Aber im Moment laufen die Geschäfte nicht so rund. Das ändert sich demnächst. Sobald ich die Klinik eröffnet habe, rollt der Rubel. Dann zahle ich eurem Boss den Kredit zurück. Jeden verdammten Euro. Mit Zins und Zinseszins. Mein Wort darauf.“

Der Weinkenner trat auf ihn zu, baute sich direkt vor ihm auf. Wie ein Turm stand er da, musterte ihn von oben herab. „Hör mir mal gut zu, du Würstchen“, knurrte er drohend, „unser Auftraggeber kann nicht warten. Unser Auftraggeber braucht die Kohle. Jetzt!“

„Bitte ... ich ...“, stammelte Fischer. „Woher soll ich das Geld denn nehmen?“

„Dein Problem.“ Der Mann griff unter sein Sakko.

Der Tierarzt zuckte zurück, rechnete mit einer Pistole, die ihm gleich an die Stirn gedrückt wurde. Doch dann förderte der Weinkenner nur einen Briefumschlag zutage. „Hier. Eine Aufstellung deiner Schulden. Damit du es noch einmal schwarz auf weiß hast. Eine Woche gibt dir unser Auftraggeber Zeit. Er ist ja kein Unmensch. Eine Woche, sonst ...“

Der Satz blieb unvollendet in der Luft hängen. Fischer drehte sich zu dem zweiten Mann um. Der hatte sich hinter seinem Rücken die sündhaft teure Ming-Vase von dem Granit-Sockel geschnappt und ließ sie spielerisch in seinen Pranken tanzen.

„Nicht!“, schrie Fischer entsetzt auf. Ein Fehler, denn sein Schrei irritierte den Mann, die Vase entglitt seinen Händen, fiel zu Boden und zerbrach.

„Autsch.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern und grinste treuherzig.

„Scheiße, Scheiße ...“, wimmerte Fischer. Fassungslos starrte er an dem Riesen vorbei auf die Scherben.

Der Weinkenner nahm von dem Missgeschick seines Partners keine Notiz. „Eine Woche“, wiederholte er stur und wedelte drohend mit dem Finger unter Fischers Nase herum. Dann wandte er sich unvermittelt ab und forderte seine Kumpel mit einer Handbewegung zum Gehen auf. „Komm“, sagte er, „ich denke, unser Doktorchen hat verstanden.“

Sekunden später waren die Männer aus der Wohnung verschwunden. Gernot Fischer starrte wie paralysiert auf die Wohnungstür. Zwei, drei Minuten vergingen, dann erwachte er aus der Schockstarre und wandte sich den Scherben seiner Ming-Vase zu. Der Auftritt der beiden war nur das Vorgeplänkel gewesen. Er brauchte keine Fantasie, sich auszumalen, was ihm drohte, wenn er nicht zahlte. Nur – woher sollte er das Geld nehmen? Er würde es weder in einer Woche noch in einem Monat zur Verfügung haben.

4. Kapitel

Katja hatte, wie so oft, ein paar kleine Leckereien aus dem Saloon mitgebracht. Einen Mitternachts-Snack, den sie nach einem arbeitsreichen Tag gemeinsam in der Küche ihrer Wohnung verzehrten, ehe sie müde in ihre Betten fielen.

Blume war, nachdem er vor rund drei Jahren in Hannover seine Zelte abgebrochen hatte, in Katjas Haus umgesiedelt. In die Dachwohnung, die bis dahin für Urlaubsgäste vorgesehen war, wie alle anderen Wohnungen in der kleinen Ferienhaussiedlung. Eine Übergangslösung hatte es sein sollen, mit dem Ziel, eines Tages ein Stockwerk tiefer mit seiner Freundin zusammenzuziehen. Zunächst hatten sie testen wollen, ob es dieses Mal für eine feste Beziehung reichte. Oder ob es wieder zum Scheitern verurteilt war. Wie damals, als Blume – noch unter seinem richtigen Namen Matthias Wagenfeld – eines Tages verschwunden war. Sie ohne ein Wort des Abschieds zurückgelassen hatte. Knapp drei Jahrzehnte später war er wieder bei Katja aufgekreuzt. Ein Mann, dessen Gesicht ihr genauso fremd gewesen war wie sein Name. Sie hätte ihn niemals wiedererkannt, wäre er nicht so hartnäckig gewesen und hätte ihr Einzelheiten aus früheren gemeinsamen Zeiten genannt, die nur er hatte wissen können.

Später hatte Katja von ihm die Hintergründe für sein überstürztes Untertauchen erfahren und sein Handeln verstanden. Trotzdem war es ihr nicht leichtgefallen, Blume zu verzeihen, und ihr Misstrauen ihm gegenüber schwelte weiter unter der Oberfläche. Bis heute. Sie war nicht bereit, sich ein zweites Mal blindlings in eine Beziehung mit ihm zu stürzen, um dann wieder enttäuscht zu werden. Sie fand, dass sie für solche Abenteuer mittlerweile zu alt war. Wenn sie noch mal eine feste Bindung einging, sollte die für den Rest ihres Lebens halten.

Blumes Umzug in Katjas Wohnung war seitdem nur selten ein Gesprächsthema gewesen, zuletzt überhaupt nicht mehr. Das bestehende Arrangement gefiel ihnen, und es gab keinen dringenden Grund, etwas daran zu ändern. Jeder hatte im Haus sein eigenes Reich, konnte dort tun und lassen, was er wollte. Wenn ihnen danach war, verbrachten sie in einer der beiden Wohnungen die Nacht miteinander und hatten Spaß. Nur zum gemeinsamen Frühstück und zu den sporadischen Mahlzeiten, die sie nicht unten im Saloon einnahmen, trafen sie sich regelmäßig in Katjas Küche. Darauf bestand sie. Das war ihr Revier. Dort hatte sie alles, was sie brauchte, um sich auszutoben und die leckersten Speisen für sich und ihren Gefährten zuzubereiten.

Gegen elf Uhr am Abend war Katja heute aus dem Saloon gekommen. Blume hatte kurze Zeit später ihre Wohnung betreten und die Reste eines schmackhaften mexikanischen Bohneneintopfs aus der Saloonküche auf dem Tisch stehen sehen. Er liebte diesen Eintopf!

Zum Glück haben wir uns nicht nach dem Essen zu einer gemeinsamen Nacht verabredet, fuhr es Blume durch den Kopf angesichts der roten Kidneybohnen, die Katja ihm in den Teller füllte.

„Und? War Kullmann zufrieden mit deiner Arbeit?“, fragte sie beiläufig.

„Wie man’s nimmt“, entgegnete Blume und nahm den Teller entgegen, „seine Frau hat mir, wenn man so will, die Pointe geklaut.“

Katja blickte ihn fragend an. „Pointe geklaut? Was heißt das denn?“

„Sie hat ihrem Mann das Verhältnis gebeichtet und ihn verlassen. Ist mit ihrem Liebhaber durchgebrannt. Und das alles gestern Abend. Bevor ich Kullmann heute meine Fotos vorlegen konnte. Er kennt den Lover seiner Frau sogar.“

„Ach ja? Und? Wer ist es?“ Katja beugte sich zu ihm hin, stellte ihre Neugier ungeniert zur Schau.

Blume legte den Kopf schief und deutete mit seiner maskenhaften Mundpartie ein Grinsen an. Er sprach nur hin und wieder mit Katja über Details seiner Observationen, hatte ihr in diesem Fall nur das Nötigste gesagt und den Namen des Mannes verschwiegen. „Ihr Therapeut“, sagte er. „Ein gewisser Dr. Karsten Dreyling.“

„Ah ... der“, reagierte Katja wenig überrascht.

„Du weißt, wer das ist?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Gesehen hab ich ihn noch nie. Ist aber in Insiderkreisen kein Unbekannter, der Gute. Hat einen großen Wirkungskreis, heißt es. Na ja, man erzählt sich eben so dies und das. Die Patientinnen stehen angeblich bei ihm Schlange. Bin mal gespannt, wie lange das junge Glück hält.“ Sie verdrehte die Augen und winkte wegwerfend ab. „Hat der Kullmann dich trotzdem bezahlt?“

„Oh doch, das hat er. Ich habe meinen Teil des Auftrags ja erfüllt. Konnte keiner ahnen, dass seine Gattin mir zuvorkommt.“ Blume nickte. „Er hat sogar ein paar Scheine obendrauf gelegt.“

„Oh, das ist anständig.“

„Er kann es sich leisten“, entgegnete Blume lapidar. „Ach übrigens, der Typ, der da heute unten im Saloon am Tresen stand ... macht der hier etwa Urlaub?“

„Welcher Typ? Wen meinst du?“, fragte Katja, überrascht von dem abrupten Themenwechsel.

„Ich habe ihn dir gezeigt, bevor ich zu Kullmann gefahren bin. Er hat mit deinem Barkeeper gequatscht.“

Katja brauchte einen Moment, dann erinnerte sie sich. „Oh, ja, jetzt weiß ich wieder. Stimmt, der hat sich bei uns einquartiert. Zunächst für zwei Wochen. Ich habe ihm drüben, im Haus schräg gegenüber, die Wohnung im Obergeschoss vermietet.“ Sie musterte Blume misstrauisch. „Sag mal, was hast du denn bloß mit dem? Hab mich schon unten im Saloon über deine Frage gewundert. Kennst du ihn irgendwoher?“

„Das versuche ich ja herauszufinden ... nein, ich glaube nicht, dass ich ihn kenne. Hat der Mann auch einen Namen?“

„Ritter. Clemens Ritter.“

Blume schüttelte den Kopf. „Nie gehört. Trotzdem ... mit dem stimmt was nicht. Irgendwas an dem stört mich.“

„Und was soll das deiner Meinung nach sein?“ Katja schaltete auf Abwehr um. Ihre Stimme klang wie das Fauchen einer Katze.

„Es ... es ist nur so ein Gefühl“, versuchte Blume eine Erklärung. „Seine ganze Haltung. Lauernd ... er schien alles genau abzuchecken. Vorhin, als ich nach Hause kam, stand er drüben vor der Tür. Hat mir zugewunken und ist dann reingegangen. Als hätte er auf mich gewartet.“

„Er hat dir zugewunken? Na, so was!“, höhnte Katja. „Und das macht ihn in deinen Augen verdächtig? Verdammt, Blume! Fang nicht schon wieder an mit dieser Scheiß-Verfolgungsmacke!“ Sie atmete tief durch. „Du kannst dich nicht ein Leben lang vor deiner Vergangenheit verkriechen! Der Mann ist ein normaler Gast! Er will nur ein paar Tage Urlaub machen. Die Seele baumeln lassen! Ausspannen! Waldluft atmen! Weiter nichts.“

„Hat er das gesagt?“

„Ja! Hat er!“

Blume nickte. „Okay, okay. Du hast ja recht. Manchmal sehe ich Gespenster. Tut mir leid.“

„Hm ...“, murrte Katja und wandte sich ihrer Suppe zu.

Die folgenden Minuten aßen sie schweigend, hingen ihren Gedanken nach. Blume war klar, er musste sich zusammenreißen. Er hatte gehofft, bei Katja endlich Ruhe zu finden. Ihr Saloon und die Ferienhaussiedlung lagen weit ab vom Schuss, am südlichen Harzrand. Diejenigen, vor denen er sich versteckte, hatten ihn schon in Hannover, in seinem kleinen Elektroladen, nicht aufspüren können. Wie sollten sie ihn dann ausgerechnet hier finden? Er wusste ja gar nicht mit Sicherheit, ob sie überhaupt hinter ihm her waren! Nicht mal, wer genau sie waren! Nur denjenigen, der sie geschickt hatte, sollten sie tatsächlich eines Tages kommen, den kannte er: Gerhard Hauser. So hatte er damals geheißen. Blume wusste nicht, ob der Mann den Namen bis heute trug oder, wie er selbst, seine Identität gewechselt hatte. Lebte er überhaupt noch? Spekulationen, Fragen, Vermutungen. Ein Gefühl ständiger Bedrohung. Gerhard Hauser saß ihm wie ein Gespenst im Nacken, war fast immer da, folgte ihm an jeden Ort der Welt, egal, wohin er sich verkroch.

Als dieser Clemens Ritter heute aufgetaucht war, hatte der Blumes verschüttete Ängste wieder an die Oberfläche geholt. Schon möglich, dass der Mann nur ein völlig harmloser Feriengast war, in dem er zu Unrecht eine Gefahr für sich sah.

Trotzdem – er würde achtsam sein und ein Auge auf den Kerl haben. Mit diesem Vorsatz und einem flüchtigen Gute-Nacht-Kuss auf ihre Stirn verließ er Katjas Küche und verzog sich nach oben, in seine Wohnung.