Der Schwarze Abt

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Aus der Reihe: Wathans Hammer #1
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Der Schwarze Abt
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Roland Enders

Der Schwarze Abt

Wathans Hammer I

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Karte

Echos

Ein Fest der Gaukler

Zweikampf

Lord Gadennyn

Harold

Lehrzeit

Ein Wiedersehen

Höllenhund

Pläne

Ein Mörder

Reisevorbereitungen

Aufbruch

Eis

Das grüne Meer

Geisterkatze

Gefangenschaft

Der Geist des Waldes

Zpixs

Amaran

Duelle

Die Grim

Konflikte

Am Ende der Reise

Die Entscheidung

Anhang

Impressum neobooks

Karte


Im Anhang finden Sie ein Personenregister.

Echos

Ereignisse in der Vergangenheit können bis in die Gegenwart nachhallen und diese gravierend verändern, falls das Echo noch stark genug ist. Von den Geschehnissen, die diese Geschichte in Gang setzten, schlug das am weitesten zurückliegende im wahrsten Sinne des Wortes wie der Hammer eines Gottes ein. Das Echo seines Donners ist heute noch zu vernehmen und hat eine neue Zeitrechnung eingeleitet. Das zweite Ereignis, der Tod eines Magiers, schien zunächst die Wellen des ersten zu dämpfen, und man konnte hoffen, das Echo würde verklingen. Das dritte und unscheinbarste, der Fund eines Buches, brachte die Resonanz aber erneut zum Schwingen. Die drei Wellen – jede für sich allein könnte die Gegenwart nur schwach kräuseln – überlagern sich nun, schaukeln sich dabei mehr und mehr auf und können ein Beben auslösen, das vielleicht alles zerstört.

Und dies waren die Ereignisse, die die Welt von heute bedrohen:

Wathans HammerBeginn der Zeitrechnung des neuen Kalenders

Es ist der Tag, an dem das Alte endet und das Neue beginnt, der Tag des millionenfachen Todes und der Geburt einer bisher unbekannten Macht, der Tag, an dem Wathan, der Schöpfer, seinen Hammer schwingt und die Welt zu seinem Amboss macht.

Die Raubkatze hat gerade ihre Fänge in den Hals der Antilope geschlagen und ihr Opfer niedergerissen, als ein Feuerstrahl am Himmel erscheint, so hell, dass die Tiere in der Mittagssonne einen zweiten Schatten werfen. Das Raubtier lässt seine Beute los. Die Antilope taumelt blutend und zitternd wieder auf die Beine. Beide Tiere haben einander vergessen, weil ihr Blick von dem Ereignis am Firmament angezogen wird. Der flammende Strahl zieht über den nahen Ozean zum westlichen Horizont, berührt ihn. Das Letzte, was Räuber und Opfer sehen, ist ein explodierender weißer Ball. Dann verbrennen ihre Netzhäute, ihr Fell fängt Feuer, und sie verkohlen zu Asche. Es dauert nur Augenblicke, bis die Druckwelle heranfegt. Sie knickt Bäume wie dürre Grashalme, schleudert riesige Felsbrocken durch die Luft und bläst die Asche von allem, was in diesem Teil der Welt gelebt hat, in einem Staubsturm fort.

Die Explosion türmt eine gigantische Flutwelle auf, aus der Ferne nur ein unscheinbares, glitzerndes Band, das vom Fuß der Meilen hohen pilzartigen Wolke ausgeht. Als die smaragdgrüne Wand sich der Küste nähert, verdunkelt sie den Himmel, türmt sich weiter und weiter auf. Ihre Kante bricht in einem tiefen Grollen und stürzt als weiße Gischt herab. Die Riesenwelle treibt einen heftigen Sturm vor sich her, der Bäume entlaubt und entwurzelt. Dann überrollt sie mit rasender Geschwindigkeit die Gestade, reißt Dörfer und Städte, hunderte von Meilen vom Ursprung der Katastrophe entfernt, mit sich fort, ebnet Wälder ein, zermahlt Hügel. Gelbbraune Schlammlawinen ergießen sich über die Ebenen. Ganze Inseln und breite Küstenstreifen versinken im Ozean.

Als das Wasser sich zurückzieht und in seinem Sog Erde, Bäume, die Trümmer geschleifter Häuser, Menschenleichen und Tierkadaver mit sich nimmt, widersetzt sich ihm ein schwarzer Kieselstein, der in einer Felsspalte eingeklemmt ist.

Einige tausend Meilen vom Explosionsort entfernt, kriechen Überlebende aus Erdlöchern und Höhlen und fragen sich verzweifelt, wofür ihr Gott sie so hart bestraft hat. Sie erfahren bald: Ihre Prüfung ist noch nicht beendet. Monatelang spielt das Wetter verrückt. Die Sonne ist hinter dunklen Sturmwolken verborgen. Es gießt in Strömen, und Stürme verwüsten das Land. Ernten werden durch die Fluten weggespült. Hungersnöte dezimieren die, die der Katastrophe entronnen sind, bis nur noch ein Zehntel von ihnen übrig ist.

Der Tag, an dem Wathans Hammer ihre Welt zertrümmert hat, hat den Überlebenden und Generationen ihrer Nachkommen ein Brandzeichen ins Bewusstsein gedrückt. Alles Vorherige ist jetzt ohne Bedeutung. Eine neue Zeitrechnung hat begonnen.

Ein kleines, schwarzes Bruchstück des zerstörerischen himmlischen Hammers – der Kiesel, der sich dem Sog des zurückziehenden Ozeans widersetzt hat – wird von einem Gebirgsbach, der sich ein neues Bett sucht, aus der Felsspalte gespült und gesellt sich zu den vielen anderen Kieseln, die Jahr für Jahr im von der Schneeschmelze angeschwollenen Wasserlauf ein paar Schritte weiter zu Tal rollen.

1234 n. WHTod eines Magiers

Dunst liegt wie eine fadenscheinige Decke über der Schlucht. Das Licht sickert mit Mühe hindurch, machtlos gegen die tiefen Schatten. Eiszapfen säumen die Felsüberhänge wie Zähne den Rachen einer Bestie. Das leise Echo eines Hufschlags verfängt sich zwischen den Felswänden und rollt hin und her. Das Reittier, das die Geräusche verursacht, gleicht keinem von Wathan erschaffenen Wesen. Es ist weit größer und schwerer als ein Ochse und besitzt eine schuppige Haut wie eine Echse. Seinen mächtigen drachenartigen Schädel bewehren lange Hörnern, gebogen wie die eines Widders. Die stämmigen Beine mit ihren breiten gespaltenen Hufen tragen seinen Reiter mühelos. Trotz ihrer Größe ist die Kreatur geschickt und trittsicher. Sie sucht sich vorsichtig ihren Weg auf dem schmalen Pfad an der steilen Bergwand hinauf. Dampfender Atem quillt bei jedem Ausatmen aus ihren Nüstern.

Der Reiter und Schöpfer des einzigartigen Tieres ist ein hoch gewachsener Mann mittleren Alters. Graue Strähnen durchziehen sein schwarzes, schulterlanges Haar. Unter der hohen Stirn, überschattet von buschigen Brauen, glänzen dunkle, tiefliegende Augen. Hohe Wangenknochen und eine gerade, lange Nase prägen das Gesicht, dessen unteren Teil ein schwarzer Vollbart verdeckt. Das Lächeln seiner schmalen Lippen ist nur eben zu erahnen.

Der Mann besitzt breite Schultern und eine athletische Figur. Sein Körper ist in einen langen, wollenen Mantel gehüllt, der seine übrige Kleidung verbirgt. Seine Füße stecken in klobigen, sporenlosen Lederstiefeln. Trotz der schneidenden Kälte trägt er weder Kopfbedeckung noch Handschuhe.

Sein Reittier hat kein Zaumzeug, und so ruhen seine Hände auf dem Sattelknauf. Er braucht es nicht zu lenken. Es weiß auch so, wohin er will.

Das Lächeln des Mannes wird breiter, als er an das denkt, was ihm bevorsteht – sein baldiger Tod. Er fürchtet sich nicht davor. Sein Geist ist voller Erwartung. Er weiß, er wird wiedergeboren und die Fesseln des menschlichen Leibes abstreifen, sich mit IHM vereinen und eine höhere Daseinsform erreichen.

An seine Verfolger verschwendet er kaum einen Gedanken. Sie können ihn nicht aufhalten. Selbst, wenn sie ihn einholen sollten, bevor er sein Ziel erreicht, könnte er sie mit einem Fingerschnippen vernichten. Doch es ist nicht mehr weit.

 

Nach einer Biegung erreicht der Pfad eine steinerne Brücke, die auf die andere Seite der Schlucht führt. Von dort aus strebt er weiter nach oben. Der Blick des Mannes folgt ihm. Kurz bevor der Weg in einer Kehre hinter der Felswand verschwindet, finden seine Augen den Ort: den Eingang zu einer Höhle, nur wenige Fuß oberhalb des Pfades.

Er reitet noch bis zur Brücke, wendet sein Reittier, springt ab und gibt ihm einen Klaps auf die Hinterhand. Behäbig setzt es sich in Bewegung, zurück zur Wärme seines Stalls, weit unten am Fuß der Berge, wo das Anwesen des Mannes liegt. Der blickt ihm nur für einen Augenblick nach, überquert dann die Brücke und verlässt den schmalen Pfad. Er klettert hinauf zu dem mannsgroßen Loch im Felsen. Dort dreht er sich um und blickt hinab auf den gemauerten Übergang, der die Schlucht überspannt. Eine Weile bleibt er so stehen, unbeweglich und mit ausdruckslosem Gesicht. Dann verändert sich seine Miene fast unmerklich. Für einen kurzen Augenblick scheint sie ein schwaches Bedauern wiederzuspiegeln.

Der Mann hebt die Hand und schließt die Faust. Als er sie wieder öffnet, zuckt ein blauer Blitz aus seiner Handfläche hinab auf die Brücke. Mit einem ungeheuren Knall zerbirst der Übergang, und seine Trümmer stürzen in die Schlucht.

Er wendet sich um zum Höhleneingang und tritt ein. Am Boden findet er ein paar ungebrauchte Fackeln. Er hebt eine auf und fährt mit der Fingerspitze über den getrockneten Teer. Die Kuppe hinterlässt eine blaue Flammenspur, und die Fackel beginnt zischend zu brennen.

Die Grotte ist nicht allzu geräumig. Er steckt die Fackel in den sandigen Boden und lässt sich nieder, mit dem Rücken zur Höhlenwand. Er öffnet seinen Mantel, und auf seiner Brust zeigt sich eine silberne Halskette mit schweren Gliedern und einem Medaillon, darin eingefasst ein glatt polierter und dennoch samtmatter schwarzer Stein, der die tanzende Flamme der Fackel nicht reflektiert. Der Mann nimmt das Amulett in die Hand und betrachtet es. Ohne Bedauern blickt er zurück auf sein Leben. Es ist ihm gleichgültig, dass zahlreiche Menschen gestorben sind, damit er sein Ziel erreicht. Jetzt ist er bereit. Bereit zu sterben, um als Unsterblicher wiedergeboren zu werden.

Auf dem Bergpfad, über den er gekommen ist, nähert sich zu Fuß sich eine Gruppe von zwölf Menschen, allen voran eine Frau. Sie haben sich mit dicken Kapuzenmänteln gegen die Kälte vermummt, ihre Gesichter sind nicht zu erkennen. Nur die Anführerin hat ihre Kopfbedeckung zurückgeschlagen. Sie ist um die fünfzig Jahre alt, ihr Haar schlohweiß, doch ihr schönes Gesicht kaum vom Alter gezeichnet. Ihre Augen suchen die Umgebung nach weiteren Anzeichen des Mannes ab, den sie verfolgen. Vor wenigen Augenblicken ist ihnen sein schimärenhaftes Reittier entgegengekommen. Sie mussten sich eng an die Felswand pressen, um das große Tier auf seinem Weg ins Tal vorbeizulassen. Doch wenn sein Reiter jetzt allein unterwegs ist, besteht die Aussicht, ihn bald einzuholen. Die Frau wappnet sich für die bevorstehende Konfrontation. Sie hat Angst. Der Mann, den sie suchen, ist sehr gefährlich. Er ist einmal ihr Anführer gewesen, der Mächtigste von ihnen. Sie und ihre Begleiter haben ihm kaum etwas entgegenzusetzen. Sie können ihn nicht besiegen. Und dennoch müssen sie es versuchen, auch wenn sie dabei in den Tod gehen.

Hinter der nächsten Biegung bleiben sie ratlos stehen. Die Brücke ist zerstört! Das ist sein Werk. Die Anführerin blickt sich um. Auf ihrer Seite der Schlucht, etwas oberhalb des Weges, klammert sich eine verkrüppelte Kiefer in eine Felsspalte. Sie richtet ihre Konzentration auf den Baum. Zunächst geschieht nichts, dann scheint es, als ob er sich unter ihrem starren Blick ein wenig windet und erbebt. Kleine Steine lösen sich von seinen Wurzeln und poltern in die Schlucht hinab. Die Frau beginnt vor Anstrengung zu zittern. Die anderen merken, was sie vorhat, und helfen ihr. Der Baum verliert den Kampf, als sich die Augen aller auf ihn heften. Man hört Holz und Stein brechen. Schließlich neigt sich die Kiefer ein wenig. Ihre Wurzeln lösen sich aus dem Spalt, und endlich fällt der Baum. Doch weit kommt er nicht. Die Schlucht ist zu schmal, und so verkeilt er sich in ihr, bildet, wie sie es geplant hat, eine natürliche Brücke über den Abgrund.

Die Frau atmet ein paar Mal tief durch. Die Magie hat sie viel Kraft gekostet. Dann gibt sie das Zeichen weiterzugehen. Doch bevor die Gruppe ihre Verfolgung fortsetzen kann, erschüttert eine heftige Explosion die Felswand auf der anderen Seite der Schlucht, und eine Feuerzunge schießt aus dem Berg. Alle werfen sich auf den Boden. Der nachfolgende Steinschlag ist heftig, und einige der Schutzsuchenden werden von kleinen Steinen getroffen, doch zum Glück bleiben sie unverletzt.

Die Anführerin entdeckt die Höhle zuerst. Aus ihr ist die Feuerwalze hervorgebrochen. Der Höhleneingang ist verrußt wie ein Kamin. Ist der Verfolgte durch den Berg geflüchtet oder in der Explosion umgekommen? Sie beschließt, es sei nicht notwendig, mehr als ein Leben zu riskieren. Sie wird allein nachsehen.

Nachdem sie den anderen ihren Entschluss mitgeteilt hat, klettert sie auf der umgestürzten Kiefer über die Schlucht.

Wenig später die Frau den Höhleneingang erreicht. Am Boden liegen einige verbrannte Teerfackeln. Eine von ihnen glimmt noch und flammt wieder auf, als sie sie aufhebt. Mit hoch erhobener Fackel betritt sie vorsichtig das Innere. Kurz darauf ist sie schweißgebadet: Der glasig geschmolzene Boden strahlt eine Hitze aus, die sie durch die dicken Sohlen ihrer Stiefel hindurch spürt. Mit klopfendem Herzen lässt sie ihren Blick schweifen. Der Fackelschein bringt Lichter und Schatten auf dem Fels zum Tanzen als seien sie lebendig. Da – an der Wand – eine Gestalt! Doch sie bewegt sich nicht, als die Frau näher kommt. Ein Mensch, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Sie hat ihn gefunden.

Es ist vorbei. Er hat sich selbst gerichtet.

Als sie wieder bei den anderen steht, schickt sie drei ihrer Gefährten mit dem Auftrag hinüber, die Höhle für immer zu verschließen.

Jahr 1671 n. WH Ein Buch wird gefunden

Athlan steht als Novize in der Hierarchie des Ordens weit unten, und so bürdet man ihm die Aufgaben auf, die den anderen Mönchen zu lästig sind. Seit einer Woche ist er damit beschäftigt, alte Bücher und Schriften zu katalogisieren, die wegen der Feuchtigkeit in den unteren Kellergewölben zu verrotten drohen. Seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten hat niemand mehr den Bestand gesichtet. Die ihm wertvoll erscheinenden Exemplare trägt Athlan hinauf in die Bibliothek, wo sie der greise Bibliothekar kritisch begutachtet. Wenigstens die Hälfte der abgelieferten Bände muss der Novize auf Geheiß des Mönchs wieder nach unten bringen und in mit trockenem Sand gefüllte Kisten packen, welcher die Feuchtigkeit herausziehen soll.

Es ist eine mühevolle Aufgabe, und auch heute hat er seit Stunden kein Tageslicht gesehen. Er hustet und schnieft, seine Augen tränen, sein Kopf tut weh. Im trüben Kerzenlicht kann er die verblasste Schrift des unscheinbaren Buches, das er gerade aufgeschlagen hat, kaum lesen.

Er hat es in einem dunklen Winkel des alten Gewölbes gefunden, eingeschlagen in ein Wachstuch. Es sieht nicht sehr wertvoll und wichtig aus, doch gewissenhaft beginnt er zu lesen.

Eine Stunde später schlägt sein Herz wild. Er verbirgt seinen Fund unter seiner Kutte und nimmt ihn abends mit in seine Kammer, obwohl es verboten ist. Die ganze Nacht hindurch liest er. Am nächsten Morgen schüttelt ihn ein heftiges Fieber, und der Abt entbindet ihn von seiner Aufgabe. Athlan behält das Buch und erzählt keinem Menschen davon.

Der junge Novize sieht seine Berufung nicht darin, den Rest seines Lebens als Mönch zu verbringen. Er ist hochgeboren, und sein einflussreicher Vater hat ihn zur Ausbildung in das Kloster geschickt (und dem Orden dafür eine erkleckliche Summe bezahlt). Athlan wird diesen Ort der Gelehrsamkeit in einigen Jahren verlassen, um seinen Platz in der Führungsschicht seines Landes einzunehmen.

Die Mönche erweisen sich als hervorragende Lehrer. Sie unterrichten Theologie und Geschichte, Schriftkunst, Mathematik und Sternenkunde, Heilkunde und andere Wissenschaften, doch von den Kniffen des Handels verstehen sie wenig. Athlans Vater hat mit ihnen vereinbart, sein Sohn sollte die Ausbildung im Kloster für ein Jahr unterbrechen, um bei einem Kaufmann in die Lehre zu gehen.

Das Geheimnis, das ihm der kleine Buchband offenbart hat, fasziniert den Jungen mehr als alles, was ihm seine Lehrer beigebracht haben, aber er kann ihm nicht auf den Grund gehen, solange er in den Mauern des Klosters gefangen ist. Doch endlich ist der Tag gekommen: Der Abt schickt ihn fort, damit er seine weltliche Ausbildung antreten kann. Und so macht sich der junge Mann eines Tages mit einem Bündel über der Schulter auf den Weg.

Doch kaum ist er außer Sichtweite des Klosters, verlässt er die Straße und sucht den Pfad, der in die Berge führt. Der wird bald schmaler und steiler. Den ganzen Tag läuft er, bis seine Füße wund sind. Als die Dämmerung kommt, ist er meilenweit von jedem Gasthaus und jeder menschlichen Behausung entfernt. Er sucht sich etwas Laub zusammen und bettet sich darauf. In der Nacht wird es bitterkalt, denn der kurze, nordische Sommer verliert sein Rückzugsgefecht gegen die Vorboten des Winters. Es ist Herbst geworden im Vulcatgebirge. Athlan wickelt sich eng in seine Decke. Er hört Wölfe heulen und fragt sich, ob er nicht einen schwerwiegenden Fehler begangen hat. Reumütig beschließt er, am nächsten Tag umzukehren und sich auf den weiten Weg in die Stadt Yaga zu machen, wo ihn der Kaufmann, sein neuer Lehrherr, erwartet. Doch als die Morgendämmerung die Sterne verblassen lässt und er weder von Wölfen gefressen, noch erfroren ist, holt er eine Landkarte und einige Landschaftsskizzen aus seinem Mantel hervor. Er hat sie sorgfältig aus dem im Keller gefundenen Büchlein abgezeichnet, das er schweren Herzens zurückgelassen hat, denn er wollte kein Dieb sein. Seine Augen suchen die ringsherum aufragenden Gipfel ab. Einer von ihnen sieht tatsächlich so aus wie auf der Skizze, die er gerade studiert. Nach dem kargen Frühstück sind seine guten Vorsätze vergessen. Er folgt dem Pfad weiter hinauf.

Gegen Mittag hat er die auf der Karte eingezeichnete Stelle erreicht. Er entdeckt den Höhleneingang, wenige Schritte über sich. Nur, wer den Ort kennt, wird den Blick an dieser Stelle nach oben richten und die Höhle bemerken. Er klettert hinauf. Doch der Eingang ist mit Geröll und Schutt verschlossen. Sollte der beschwerliche Weg umsonst gewesen sein? Er beginnt, mit seinem zinnenen Essteller zu graben. Zum Glück haben Wind und Wetter in den mehr als vierhundert Jahren, die seit dem im Buch beschriebenen Geschehnissen vergangenen sind, Steine gelockert und Sand weggetragen. Am späten Nachmittag ist er durchgestoßen und braucht das Loch nur noch etwas zu vergrößern, um hindurchschlüpfen zu können. Mit zitternden Händen zündet er innen die mitgebrachte Kerze an und blickt sich um. Er fährt erschrocken zusammen, als er das Skelett entdeckt. Damit hat er nicht gerechnet. Doch um die Halswirbel des Knochenmannes ist das geschlungen, was er sucht. Das Silber ist zwar angelaufen, aber der Stein schimmert makellos und schwarz. Er hebt das Amulett hoch. Zu seiner großen Verwunderung findet er darunter ein Stück rosige Haut: das einzige Fleisch, das nicht verbrannt und trotz der Zeitspanne von mehr als vierhundert Jahren nicht der Verwesung anheim gefallen ist. Vorsichtig nimmt er dem Toten die Kette ab und legt sie sich um.

Ein Fest der Gaukler

Jahr 1691 n. WH – Gegenwart.

Der alte Ben starrte verdrossen auf sein Maultier, das den schweren Karren die steile an der Klippe entlang führende Straße hinaufzog, die von der Stadt zur Hochebene führte. Er saß mürrisch auf seinem Kutschbock, würdigte den Sonnenuntergang über dem Meer keines Blickes, knallte ab und zu mit den Zügeln, um das störrische Tier anzutreiben. Er wusste, wenn es einmal stehen bliebe, könnte er es kaum dazu bewegen, das Fuhrwerk wieder anzuziehen.

Vor der Dunkelheit würde er sein Dorf nicht mehr erreichen. Hätte er doch den Wagen nicht so voll beladen! Er arbeitete als Kürschner und Gerber und verkaufte seine Waren in der Stadt, meist an Kapitäne, die Fracht für ihre Schiffe suchten. Im Hafen hatte er einen jetzt überfüllten kleinen Lagerraum gemietet, weil er heute und für die kommenden Tage mit einem sehr guten Geschäft rechnete. Am Morgen hatte er deshalb noch mehr Felle, Lederwaren und Stoffen eingeladen, bevor er in die Stadt aufbrach, in der Hoffnung, seine Waren würden ihm aus den Händen gerissen, doch statt mit einem gefüllten Geldbeutel kehrte er jetzt mit einem Karren voll unverkaufter Produkte nach Hause.

 

Die Hafenstadt Shoal war die größte der Provinz und deren Handelszentrum. Deshalb hatte er sich in ihrer Nähe niedergelassen. Tausende von Menschen wohnten hier. Doch nun wimmelte die Stadt von Besuchern aus den Provinzen, die die Gaukler und Artisten aus aller Welt sehen wollten. Das Gauklerfest war eine Attraktion, die nur alle fünf Jahre stattfand.

Aber die Vorfreude des Alten auf gute Geschäfte war Ernüchterung gewichen. Shoal brummte zwar wie ein Bienenstock, doch die Reisenden waren nicht gekommen, um Felle und Leder zu kaufen. Sie wollten feiern, Bier und Wein trinken und sich an den wettstreitenden Schaustellern ergötzen. Die Besitzer von Gasthäusern, Herbergen, Vergnügungsstätten und Hurenhäusern rieben sich die Hände, aber er hatte sogar weniger als sonst verkauft. Von seinen Kunden, den Handelskapitänen, Schneidern und Polsterern, hatte er nur wenige angetroffen. Die meisten schienen sich unter die Feiernden gemischt und ihre Arbeit vergessen zu haben. Und die Gaukler und fahrenden Artisten, die die ganze Aufregung verursachten, erwiesen sich als abgerissene Bettler und Habenichtse. Er durfte nicht hoffen, einem von ihnen auch nur ein Schnäuztuch zu verkaufen. Morgen könnte es noch schlimmer werden, denn wenn das Fest erst im vollen Gange war, würde niemand seinen Verkaufsstand eines Blickes würdigen. Er müsste Lärm und Gestank in der Stadt wohl umsonst aushalten.

Allmählich näherte sich der Karren dem Rand der Klippe. Oben, ins rötliche Licht der untergehenden Sonne getaucht, stand ein Mann, oder besser gesagt: ein junger Bursche, der hinunter auf die Stadt, den Hafen und das Meer blickte und Ben und sein Maultier überhaupt nicht wahrzunehmen schien. Der Kürschner erkannte mit leichter Abscheu ein weiteres Exemplar dieses hergelaufenen Gesindels: Ja, unverkennbar ein Gaukler, wie seine bunte Narrenkleidung bewies. Ben musterte ihn abschätzend. Der Junge ging barfuß. Seine verhornten Füße hatten einmal Sandalen gesehen, deren Riemen helle Streifen auf der sonnengebräunten Haut hinterlassen hatten, doch das schien ein paar Tage her zu sein. Wahrscheinlich waren sie ihm verrottet von den Füßen gefallen. Bunte Stofffransen – Zeichen der Gauklergilde – verzierten die Außennähte der schmutzigen, lehmfarbenen Leinenhose. In der abendlichen Windstille baumelte der Gildenschmuck müde herab. Der Oberkörper des jungen Mannes war halbnackt, lediglich eine ärmellose, viel zu kleine Weste aus bunten Flicken bedeckte ihn. Man konnte jede einzelne Rippe sehen. Ja, dachte Ben, wer arbeitsscheu ist, hat auch nichts zum Beißen. In einem Strick, den der Gaukler als Gürtel um die Taille gebunden hatte, steckte ein Jagdmesser, und ein Geldbeutel hing trostlos und schlaff herab. Dafür trug der Junge ein mageres Bündel über der Schulter, wahrscheinlich mit seinen wenigen Habseligkeiten. Bens Blick tastete sich weiter nach oben und blieb am Gesicht hängen. Und zum ersten Mal ließen seine Gefühle von Abscheu und Geringschätzung nach. Der Ausdruck des Jungen war entrückt und voller Freude. Eine Träne glitzerte im Augenwinkel, und sein hohlwangiges Gesicht glühte im Abendlicht. Die Augen schimmerten hellgrau wie Gletschereis, die Nase war leicht gebogen, der Mund voll und weich. An Wangen, Oberlippe und Kinn spross ein flaumiger Jünglingsbart. Die hellbraunen Haare waren lang, strähnig und ungepflegt und bedurften dringend, wie der ganze Junge, eines heißen Bades. Mit einem mit bunten Perlen besetzten Lederband hielt sie aus der Stirn.

Endlich schien der junge Mann aus seinem Tagtraum zu erwachen. Er bemerkte den Karren, der direkt neben ihm anhielt.

„Meinen Gruß, Herr“, sprach er den Kutscher an. „Ist die Stadt da unten Shoal?“

Wenigstens ist er höflich, dachte Ben und nickte.

„Ich nehme an, du willst zum Gauklerfest?“

„Oh ja. Ich arbeite als Jongleur. Ich möchte am Wettbewerb teilnehmen. Vielleicht gewinne ich ein paar Silbermünzen.“

Der Junge tat Ben ein bisschen leid. Er hatte sich immer einen Sohn gewünscht, doch seine Frau hatte ihm stattdessen eine widerborstige Tochter geschenkt, nur wenig älter als dieser Bengel hier. Er liebte sie über alles, aber sie hatte sich seinen Bemühungen, sie zu erziehen und ihr seine Wertvorstellungen beizubringen, erfolgreich widersetzt. Das Kürschnerhandwerk hatte sie auch nicht erlernen wollen. Dafür zog sie jetzt durch die Wälder und sammelte irgendwelche Pflanzen, aus denen sie abscheulich schmeckende Tees brühte. Die Leute bezeichneten sie hinter ihrem Rücken als Kräuterhexe.

Ben bedauerte den Vater dieses Grünschnabels, dessen Erziehungswerk schien ebenso gescheitert, denn wie sonst hätte der Bengel ein herumstreunender Hungerleider werden können, naiv genug zu glauben, er könne mit seinen so genannten Künsten Geld verdienen? Deshalb polterte er schroffer als beabsichtigt:

„Mein lieber Junge, weißt du überhaupt, wie viele Gaukler sich schon in der Stadt aufhalten? Es sind Hunderte, die sich um die wenigen Preisgelder streiten. Nur die ersten drei eines Wettbewerbs bekommen nämlich etwas. Und auf die warten schon Heerscharen von Taschendieben, Räubern und Halsabschneidern. Vor fünf Jahren, beim letzten Fest, gab es drei Morde! Am besten kehrst du um. Das Gauklerfest ist ein Sumpf, in dem sich die Trunksüchtigen, Verderbten und Verbrecher wie Schweine suhlen, nichts für Milchbärte wie dich.“

Er knallte dem Maultier die Zügel auf die Hinterhand, sodass es sich erschrocken in Bewegung setzte, und ließ den sprachlosen jungen Mann einfach stehen.

Traigar vergaß den grantigen Alten schnell und richtete seinen Blick wieder auf das beeindruckende Panorama. Er hatte noch nie das Meer gesehen, geschweige denn einen Sonnenuntergang über der See. Mit ehrfürchtigem Staunen genoss er die letzte Szene des grandiosen Schauspiels. Unter ihm erstreckte sich eine halbkreisförmige Bucht, die sich nach Westen, zum Ozean hin, öffnete. Die Sonne war gerade hinter dem Horizont versunken, und ein roter Dunstschleier schwebte über dem bleifarbenen Meer. Wenige Augenblicke davor – als sie noch drei Handbreit über der leicht gewölbten Linie der Kimm gestanden hatte – war die See wie eine Platte aus poliertem Silber erschienen, auf der ein gleißender, Funken sprühenden Schweif glitzerte, dann hatte das Wasser die Farbe von heller Bronze und bald von Gold angenommen. Der Glutball schmolz sich schließlich hinein, verflüssigte das Gold und versank in der Schmelze. Der Spiegel der See schien wieder zu erkalten, sein Kupferton verblasste, und sein Glanz nahm ab.

Traigar prägte sich diesen Anblick ein und verwahrte ihn in der Schatztruhe seiner Seele. Er wollte sich immer daran erinnern.

Ein dreimastiges Schiff unter vollen Segeln schnitt mit keilförmiger Kielwelle durch das Wasser und hielt auf den Hafen vor der Stadt zu. Zahlreiche große und kleine Schiffe lagen an den Kais vor Anker.

Shoal war annähernd kreisförmig und von zwei konzentrischen Mauern umgeben, die äußere dick genug, um Katapultgeschossen zu widerstehen, die innere zu hoch für Sturmleitern. Wehrgänge mit Schießscharten liefen über die Mauerkronen, insgesamt zwölf hohe Wachtürme ragten weit über den dreifachen Befestigungsring. Vier Tore mit Türmen zu beiden Seiten gewährten den Zugang, davon eines zum Hafen hin und eines nach Süden. Durch dieses wollte er die Stadt betreten, doch zuerst musste er der Straße folgen, die von der Klippe hinabführte. Von hier oben erkannte Traigar ein verschachteltes Häusermeer. Rote und braune Ziegeldächer türmten sich übereinander und verzahnten sich wie die Schuppen einer Fischhaut. Die Straßen und Gassen dazwischen mussten eng und verwinkelt sein. Einige Türme ragten hie und da hervor, manche spitz, andere glockenförmig. Die letzteren schienen zu einem größeren Gebäudekomplex zu gehören, wahrscheinlich einem Tempel. Und dann erhob sich auf einem Hügel am nördlichen Ende ein Palast, majestätisch und prächtig, mit Marmorsäulen, Minaretten und Spitzbögen. Wohnte da der König?

Die Dämmerung währte in diesen Breiten nur kurz. Traigar sah die ersten Laternen aufleuchten. Er machte sich auf den Weg.

Eine Weile später betrat er die Stadt. Der Geruch, der ihm entgegenschlug, war überwältigend. Es roch nach Meer, nach Fisch, Stall und Stroh, nach Abfällen und Fäkalien, aber auch appetitanregende Gerüche von Gebratenem, frisch gebackenem Brot, von Bier und fruchtigem Wein gehörten zu diesem Gemenge. Vor allem aber roch es nach Menschen, nach Schweiß, Dreck, Ärmlichkeit, Krankheit, aber auch nach Duftwasser und Weihrauch.

Noch nie hatte er solche Menschenmassen erlebt. Trotz seines Unbehagens zwängte er sich hindurch und bemühte sich, jedem auszuweichen, der seinen Weg kreuzte. Er war es nicht gewohnt, anderen Menschen so nahe zu sein. Viele Leute trugen ärmlich aussehende, mehrfach geflickte Kleidung aus grobem, grauem oder lehmfarbenem Leinen oder Schafswolle. Sie schritten zielstrebig, den Blick geradeaus gerichtet, an Traigar vorbei und ignorierten die anderen Passanten. Kein Zweifel, sie gehörten hierher, waren Bürger dieser Stadt. Im Gegensatz zu ihnen schlenderten die meisten besser Gekleideten müßig umher, flanierten unter bunten, an Leinen über die Straßen gehängten Laternen, blickten neugierig in Fenster und Hinterhöfe, lachten, kehrten in Wirtshäuser ein oder verließen sie mehr oder weniger betrunken. Diese betuchten, meist in Gruppen auftretenden Passanten schienen Fremde zu sein, vom Gauklerfest angelockt und darauf aus, sich zu amüsieren.

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