Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit

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Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit
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Rodney Stark

DER SIEG DES
ABENDLANDES

Christentum und kapitalistische Freiheit

Aus dem Englischen von Stefan Flach


INHALT

EINFÜHRUNG: VERNUNFT UND FORTSCHRITT

TEIL I: FUNDAMENTE

Kapitel 1: Die Segnungen der rationalen Theologie

Kapitel 2: Fortschritt im Mittelalter – technisch, kulturell und religiös

Kapitel 3: Die Tyrannei und die »Wiedergeburt« der Freiheit

TEIL II: ERFÜLLUNG

Kapitel 4: Die Perfektionierung des italienischen Kapitalismus

Kapitel 5: Der Kapitalismus zieht nordwärts

Kapitel 6: »Katholischer« Antikapitalismus: spanischer und französischer Despotismus

Kapitel 7: Feudalismus und Kapitalismus in der Neuen Welt

FAZIT: GLOBALISIERUNG UND MODERNE

Danksagungen

Anmerkungen

Verwendete Literatur

EINFÜHRUNG:
VERNUNFT UND FORTSCHRITT

Als die Europäer den Erdball zu erkunden begannen, überraschte sie weniger die Existenz der westlichen Hemisphäre, als vielmehr das Ausmaß ihrer eigenen technologischen Überlegenheit über den Rest der Welt. Nicht nur die stolzen Völker der Maya, Azteken und Inka waren den europäischen Invasoren gegenüber vollkommen hilflos, sondern ebenso die legendären Zivilisationen des Ostens: China, Indien und sogar die islamische Welt waren unterentwickelt gegenüber dem Europa des 17. Jahrhunderts. Wie war das möglich? Wie kam es, dass zwar viele Völker die Alchemie betrieben, sie aber nur in Europa die Chemie zur Folge hatte? Warum besaßen über Jahrhunderte nur die Europäer solche Dinge wie Brillen, Kamine, präzise Uhrwerke, schwere Kavallerien oder ein System der musikalischen Notation? Wie konnten Völker, die aus der Barbarei und dem Schutt des untergegangenen römischen Reiches erwachsen waren, den Rest der Welt derart überflügeln?

Verschiedene Autoren haben den westlichen Erfolg in jüngster Zeit an örtlichen Gegebenheiten festgemacht. Doch hatte der gleiche Kontinent schon lange Zeit europäische Kulturen beherbergt, die wiederum den asiatischen weit unterlegen waren. Andere Autoren verbinden den Aufstieg des Westens mit Stahl, Waffen oder Segelschiffen; noch andere führen ihn auf einen besonders ertragreichen Ackerbau zurück. Doch ist das Problem dabei, dass all diese Begründungen auf etwas aufbauen, was zuvor einmal geklärt werden müsste: Warum waren und sind die Europäer solche Meister der Metallurgie, des Schiffbaus oder der Landwirtschaft? Um hierauf die richtige Antwort zu finden, muss die Dominanz des Westens zusammen mit dem Aufstieg des Kapitalismus gesehen werden, schon weil letzterer ausschließlich in Europa entstand. Selbst die ärgsten Feinde des Kapitalismus gestehen ihm eine vormals ungeahnte Produktivität und eine nie gekannte Fortschrittsfähigkeit zu. In ihrem »Kommunistischen Manifest« schreiben Karl Marx und Friedrich Engels, dass die Menschen vor dem Kapitalismus »in der trägsten Bärenhäuterei« verharrten und dass das kapitalistische System »massenhaftere und kolossalere Produktivkräfte geschaffen hat, als alle vergangenen Generationen zusammen«. Der Kapitalismus macht dieses »Wunder« möglich, indem er erzielte Erträge immer wieder neu investiert, um damit die Produktivität zu erhöhen – sei es durch größere Leistung oder verbesserte Technologie – und gleichermaßen Führungs- wie Arbeitskräfte mittels steigender Löhne anzuspornen.

Doch auch wenn man annimmt, dass der Kapitalismus für Europa den einen großen Schritt nach vorn bedeutete, bleibt immer noch zu klären, warum er gerade dort gemacht wurde. Manche erkennen die Wurzeln des Kapitalismus in der Reformation, andere in diversen politischen Umständen. Gräbt man jedoch etwas tiefer, wird deutlich, dass das eigentliche Fundament des Kapitalismus sowie des westlichen Erfolges überhaupt in einem besonders starken Glauben an die Vernunft bestand.

Dieses Buch erkundet eine Reihe von Entwicklungen, in denen die Vernunft jeweils den Sieg davontrug und der abendländischen Kultur ihr spezifisches Gepräge gab. Der wichtigste dieser Siege fand innerhalb des Christentums statt. Während die anderen Weltreligionen besonderen Wert auf das Mysterium und die Intuition legten, machte allein das Christentum die Logik und Vernunft zu Orientierungshilfen für seine religiöse Wahrheit. Das christliche Vertrauen in die Vernunft war zwar von der griechischen Philosophie beeinflusst. Wichtiger jedoch ist, dass diese Philosophie sich nicht auch auf die griechischen Religionen auswirkte. Diese verharrten in der altbekannten Sphäre des Mysterien-Kults, in der man sich mit Doppeldeutigkeiten und logischen Widersprüchen zufriedengab, da man in ihnen Grundbausteine der heiligen Ursprünge erkannte. Ähnliche Annahmen, die die grundsätzliche Unerklärlichkeit der Götter betrafen, ebenso die intellektuelle Überlegenheit der Introspektion, dominierten auch alle anderen Weltreligionen. Demgegenüber lehrten die Kirchenväter von Anfang an, dass das größte Geschenk Gottes die Vernunft ist, welche es gerade ermöglicht, das Verständnis der Bibel und der Offenbarungen progressiv zu vergrößern. Folglich war das Christentum immer auch der Zukunft zugewandt, wohingegen die anderen Religionen der Vergangenheit den Vorzug gaben. Im Grundsatz, wenn auch nicht immer in der Praxis, konnte die christliche Glaubenslehre stets im Namen des Fortschritts, so er nur vernünftig erschien, modifiziert werden. Ermutigt durch die Scholastiker und verkörpert durch die großen, von der Kirche gegründeten Universitäten, durchdrang der Glaube an die Kräfte der Vernunft die gesamte westliche Kultur und befeuerte die Wissenschaft wie die Entwicklung der Demokratie in Theorie und Praxis. Der Aufstieg des Kapitalismus war nicht zuletzt ein Sieg jener durch die Kirche inspirierten Vernunft. Denn in seiner Essenz ist der Kapitalismus nichts anderes als eine systematische und fortwährende Anwendung der Vernunft auf dem Gebiet des Handels – etwas, das zunächst in den großen Klöstern betrieben wurde.

Im vergangenen Jahrhundert haben westliche Intellektuelle häufig den europäischen Kolonialismus auf seine christlichen Ursprünge zurückgeführt. Dagegen sahen sie nur sehr ungern ein, dass das Christentum in keiner Weise (es sei denn durch Intoleranz) den westlichen Dominanz-Ansprüchen zugearbeitet hat. Stattdessen wird behauptet, der Erfolg des Westens habe sich erst dann wirklich eingestellt, als er die religiösen Fortschritts-Schranken hinter sich ließ, besonders solche, die die Wissenschaft behinderten. Das ist jedoch Unsinn. Der Erfolg des Westens einschließlich des Emporkommens der Wissenschaft hatte zur Gänze eine religiöse Grundlage; ebenso waren die Menschen, die ihn herbeiführten, fromme Christen. Leider sehen selbst solche Historiker, die dem Christentum eine formende Kraft im westlichen Fortschritt zugestehen, günstige Faktoren allein auf Seiten der protestantischen Reformation, wobei selbst diese bloß religiöser Natur gewesen sein sollen. Es klingt dann so, als wären die vorangegangenen fünfzehnhundert Jahre der Christenheit entweder unwichtig oder gar schädlich gewesen. Akademischer Anti-Katholizismus dieser Prägung war verantwortlich für das berühmteste Buch, das je über den Kapitalismus geschrieben wurde.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlichte der Soziologe Max Weber eine Studie1, die schon bald große Wirkung haben sollte: Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus.1 Darin vertritt er die Ansicht, dass der Kapitalismus deshalb seinen Ursprung in Europa hatte, weil von allen Weltreligionen allein der Protestantismus den Menschen eine moralische Vision darbot, in der sie einerseits ihren materiellen Konsum beschränkten und andererseits entschieden Glück und Reichtum suchten. Vor der Reformation, so Weber, sei die Konsumbeschränkung notwendig mit Askese und folglich mit einer Verurteilung des Handels einhergegangen. Im Umkehrschluss habe man das Streben nach Reichtum stets mit verschwenderischem, liederlichem Konsum gleichgesetzt. Weder das eine noch das andere Muster hätte sich mit dem Kapitalismus vertragen. Laut Weber wurden diese althergebrachten Verknüpfungen erst durch die protestantische Ethik über den Haufen geworfen, indem diese nämlich eine ganze Kultur sparsamer Unternehmer hervorbrachte, die es zufrieden waren, ihre Profite systematisch zu reinvestieren, um so noch größere Gewinne zu erzielen. Und genau darin liege der Schlüssel zum Kapitalismus und zum Aufstieg des Abendlandes.

Es mag an der Eleganz dieser These gelegen haben, dass sie im großen Stil übernommen wurde, selbst wenn sie offensichtlich falsch ist. Noch heute wird der Protestantischen Ethik unter Soziologen2 ein fast heiliger Status zuerkannt, auch wenn Wirtschaftshistoriker Webers erstaunlich schlecht dokumentiertes3 Werk schon seinerzeit auf der unbestreitbaren Grundlage abqualifizierten, dass der europäische Aufstieg des Kapitalismus bereits Jahrhunderte vor der Reformation stattgefunden hatte. Hugh Trevor-Roper sagt es so: »Die Vorstellung, dass der großangelegte Kapitalismus vor der Reformation ideologisch unmöglich gewesen sei, wird schon dadurch ausgehebelt, dass es ihn ja gegeben hat.«4 Nur eine Dekade nach Webers Buch trug der berühmte Henri Pirenne5 eine Vielzahl von Literaturnachweisen zusammen, die allesamt »den Umstand belegen, dass das gesamte Grundinventar des Kapitalismus – Alleinunternehmertum, Kreditvorschüsse, kommerzieller Profit, Spekulationen usw. – bereits vom 12. Jahrhundert an in den Stadtrepubliken Italiens, Venedig, Genua oder Florenz, zu finden war«. Eine Generation später beklagte der ebenfalls vielgefeierte Fernand Braudel, dass »zwar alle Historiker dieser dürftigen Theorie (der protestantischen Ethik) entgegengetreten sind, es aber keiner geschafft hat, sie ein für allemal zu widerlegen. Und das obwohl sie eindeutig falsch ist. Die Länder des Nordens übernahmen einfach eine Position, die zuvor lange und wirkungsvoll von den alten kapitalistischen Zentren des Mittelmeerraumes besetzt worden waren. Sie selbst haben keinerlei Erfindungen gemacht, weder in technologischer noch betriebswirtschaftlicher Hinsicht.«6 Darüber hinaus waren diese kapitalistischen Zentren des Nordens in der kritischen Phase ihrer Wirtschaftsentwicklung allesamt katholisch, nicht protestantisch – die Reformation lag noch in ferner Zukunft.

 

John Gilchrist, ein führender Historiker des Wirtschaftslebens in den mittelalterlichen Kirchen, hat von einem anderen Punkt aus dargelegt, dass die ersten Beispiele für den Kapitalismus in den großen christlichen Klöstern zu finden waren.7 Ebenso ist es bewiesen, dass noch im 19. Jahrhundert die protestantischen Regionen und Länder des Kontinents8 den katholischen Gegenden keineswegs voraus waren, vom »rückständigen« Spanien abgesehen.9

Aber auch wenn Weber falsch lag, ging er völlig zu Recht davon aus, dass religiöse Vorstellungen beim Aufstieg des Kapitalismus in Europa eine höchst vitale Rolle gespielt haben. Die materiellen Vorbedingungen für den Kapitalismus waren auch in anderen Zivilisationen gegeben, etwa in China, der islamischen Welt, Indien, Byzanz und vermutlich auch im alten Rom und in Griechenland. Doch ging keine dieser Gesellschaften voran und entwickelte den Kapitalismus, da keine von ihnen eine ethische Vision besaß, die mit einem dynamischen Wirtschaftssystem kompatibel gewesen wäre. Stattdessen huldigten die führenden Religionen fernab des Westens der Askese und prangerten das Profitstreben an, während gleichzeitig habgierige Eliten die von Kleinbauern und Handeltreibenden erwirtschafteten Gewinne zu einem Gutteil wieder einstrichen.10 Warum haben sich die Dinge in Europa anders entwickelt? Weil sich die Christen dort einer rationalen Theologie anheimgaben – ein Umstand, der später zwar auch die Reformation hervorgebracht haben mag, der dieser jedoch um mehr als ein Jahrtausend vorausging.

Gleichwohl hat sich der Kapitalismus nur an manchen Orten entwickelt. Warum nicht überall? Weil es in manchen europäischen Gesellschaften wie auch im großen Rest der Welt viele gierige Despoten gab, die ihn verhindern wollten. Was dort fehlte, war ein Grundbestandteil der kapitalistischen Entwicklung, nämlich die Freiheit. Hier schließt sich eine weitere Frage an: Warum war die Freiheit fast überall auf der Welt ein so seltenes Gut und wie kam es, dass einige Staaten des europäischen Mittelalters sie gehegt und gepflegt haben? Auch hierfür war ein Sieg der Vernunft verantwortlich. Noch lange bevor einer dieser europäischen Staaten seine Regierung in die Hände einer gewählten Versammlung legte, hatten christliche Theologen bereits Theorien über Fragen der Gleichheit und der individuellen Rechte aufgestellt. So beruhen etwa die späteren Arbeiten eines solch »säkularen« politischen Theoretikers des 18. Jahrhunderts wie John Locke auf egalitären Axiomen, die bereits vorher von Kirchengelehrten erarbeitet worden waren.11

Um es zusammenzufassen: der Aufstieg des Westens beruhte auf vier grundlegenden Siegen der Vernunft. Der erste war die Genese des Fortschrittsglaubens in der christlichen Theologie. Der zweite war die Übertragung und Einspeisung dieses Glaubens in technologische und organisatorische Innovationen, von denen viele aus dem Klosterleben stammten. Der dritte Sieg beruhte darauf, dass die Vernunft dank der christlichen Theologie ebenso die politische wie die praktische Philosophie durchdrang, und zwar bis zu dem Punkt, an dem hierfür empfängliche Staaten im mittelalterlichen Europa den Weg für ein großes Ausmaß an persönlicher Freiheit ebneten. Der letzte Sieg beinhaltete die Anwendung der Vernunft auf den Handelsverkehr, was schließlich zur Entwicklung des Kapitalismus in den sicheren Häfen jener willigen Staaten führte. Durch genau diese Siege wurde das Abendland groß.

Der Plan des Buches

Der Sieg des Abendlandes besteht aus zwei Teilen. Der erste wendet sich den Fundamenten zu. Er untersucht die Rolle der Vernunft im Christentum und zeichnet nach, wie sie der politischen Freiheit und dem Aufkommen von Wissenschaft und Kapitalismus den Weg bereitet hat. Teil zwei befasst sich damit, wie die Europäer auf diesen Fundamenten etwas errichteten.

Kapitel 1 widmet sich den Ursprüngen und Konsequenzen des christlichen Zuspruchs zu einer rationalen Theologie. Wie kam es dazu? Und warum resultierte es in dem revolutionären Umstand, dass die Anwendung der Vernunft auf das Verständnis der Bibel zu einem theologischen Fortschritt führte? Es wurde zu einem Grundsatz der christlichen Theologie, dass das Verständnis Gottes mit der Zeit besser und größer werden könne und auch feststehende Doktrinen durchaus radikal veränderbar seien. Nachdem ich die rationalen und fortschrittlichen Aspekte der christlichen Theologie dargelegt habe, wende ich mich Beispielen und Folgeerscheinungen zu. Zunächst behandele ich die absolut zentrale Rolle, die die rationale Theologie beim Aufkommen der Wissenschaft gespielt hat und zeige auf, warum die Wissenschaft sich zwar sehr wohl in Europa entwickelte, nicht aber in China, der islamischen Welt oder im alten Griechenland. Danach wird der Fokus auf wichtige moralische Innovationen gerichtet, die von der mittelalterlichen Kirche geleistet wurden. So begünstigte das Christentum eine sehr nachdrückliche Konzeption des Individualismus, die dennoch mit den eigenen Doktrinen bezüglich des freien Willens und der Erlösung vereinbar war. Daneben kultivierte das mittelalterliche Mönchswesen den Respekt vor Tugenden wie Arbeit oder einfachen Lebensweisen, der der protestantischen Ethik fast um ein Jahrtausend vorausging. Dieses Kapitel umreißt zudem den Anteil des Christentums bei der Heranbildung neuer Ideen der Menschenrechte. Denn für die Entwicklung des Kapitalismus war es erforderlich, dass Europa nicht länger eine Zusammenballung von Sklavengesellschaften war. Wie auch in Rom und allen anderen damaligen Zivilisationen existierte die Sklaverei überall im frühen mittelalterlichen Europa. Unter allen führenden Glaubensrichtungen bildete einzig das Christentum einen moralischen Widerstand gegen die Sklaverei aus, welcher ab dem 7. Jahrhundert dann wiederum in eine religiöse Opposition überging. Ab dem 12. Jahrhundert war die Sklaverei fast überall im Westen verschwunden und hielt sich nur hier und da in Grenzgebieten.12 Dass die Sklaverei einige Jahrhunderte später wieder eingeführt werden sollte, ist ein anderes Thema, doch auch dann bemühte sich das Christentum erneut um ihre Abschaffung.13

Kapitel 2 blickt auf die religiösen Grundlagen des Kapitalismus, die im sogenannten finsteren Mittelalter statuiert wurden. Es wird aufgezeigt, dass diese Epoche alles andere als ignorant und rückständig war, sondern im Gegenteil eine Zeit spektakulären technologischen und intellektuellen Fortschritts darstellte, sobald die Innovation einmal aus den Klauen des römischen Despotismus befreit worden war. Der christliche Einsatz für den Fortschritt spielte nicht nur eine wichtige Rolle bei der Suche nach neuen Technologien, sondern ebenso bei deren zügiger und großflächiger Anwendung. Obendrein führte die Bejahung des Fortschrittsgeschehens durch viele Kirchenführer und Gelehrte zu einigen bemerkenswerten theologischen Revisionen. Nicht anders als die übrigen Weltreligionen hatte auch das Christentum über Jahrhunderte die moralische und spirituelle Überlegenheit des Asketismus betont und auf dessen Gegensatz zu Kommerz und Finanzwesen hingewiesen. Doch wurden diese Grundhaltungen im 12. und 13. Jahrhundert von katholischen Theologen verworfen, die nun stattdessen den privaten Besitz und das Profitstreben verteidigten. Wie konnte das geschehen? Ganz einfach dadurch, dass Theologen das Handelstreiben, das in den großen klösterlichen Anwesen begonnen hatte, moralisch neu beurteilten, da sie dessen früheres Verbot nun theologisch nicht mehr angemessen fanden.

Kapitel 3 beginnt mit einer kurzen Darstellung der Planwirtschaft: es wird gezeigt, wie despotische Regierungen regelmäßig Innovation und Handel unterdrücken, indem sie zwar Reichtum anhäufen, verbrauchen und enteignen, ihn aber kaum je reinvestieren. Da der Aufstieg des Kapitalismus den Sieg über despotische Staaten erforderlich machte, widmet sich der Rest des Kapitels der Ausbreitung der Freiheit in Europa, die die Form kleiner und häufig überraschend demokratischer politscher Einheiten annahm. Zuerst wird die christliche Grundlage des westlichen Demokratie-Konzepts untersucht, d.h. die Genese der Doktrinen von individueller moralischer Gleichheit, der Rechte des Privatbesitzes und der Trennung von Kirche und Staat. Danach wird erklärt, wie in einigen italienischen Stadtstaaten und in Nordeuropa eine relativ demokratische Gesetzgebung entstehen konnte.

Kapitel 4 geht der Perfektionierung des Kapitalismus in den italienischen Stadtstaaten nach und zeigt, wie die für das Funktionieren von großen, rationalen und industriellen Unternehmen erforderlichen Organisationsstrukturen und Finanztechniken entwickelt wurden. Kapitel 5 zeichnet die Ausbreitung von »kolonialen« kapitalistischen Unternehmen aus Italien in die Städte des Nordens nach. Am Ende des Kapitels befasst sich ein längerer Abschnitt mit der Frage, wie die Engländer das leistungsstärkste kapitalistische Wirtschaftssystem in Europa entwickeln konnten.

Kapitel 6 blickt auf die wichtigsten negativen Fälle, schon weil eine umfassende Erörterung der Frage, warum der Kapitalismus sich in bestimmten Regionen Europas ausbreiten konnte, ebenfalls erklären muss, warum das Gleiche andernorts misslang. Wie kam es, dass Spanien, das reichste und mächtigste Land Europas im 17. Jahrhundert, stets ein vor-kapitalistischer, feudaler Staat blieb? Warum wollte Spanien die kapitalistische Vitalität der italienischen Stadtstaaten sowie der spanischen Niederlande zerstören? Und was waren die Gründe dafür, dass Spanien in der Folge rasch zu einer drittrangigen Macht wurde und sein Herrschaftsgebiet verlor? Was Frankreich angeht – warum stagnierten der Kapitalismus und die Freiheit auch dort? Um diese Fragen zu beantworten, wende ich mich erneut den erdrückenden wirtschaftlichen Folgen des Despotismus zu.

Vor diesem Hintergrund wechselt Kapitel 7 den Standort und blickt auf die Neue Welt sowie auf das dramatische ökonomische Gefälle, das die Vereinigten Staaten, Kanada und Lateinamerika voneinander absetzen sollte. Die Schilderung dieser Geschichte wird nicht zuletzt als Zusammenfassung des ganzen Buches dienen, da die hier wirksamen Faktoren praktisch eine Wiederholung der wirtschaftlichen Historie Europas darstellen. Auch hier spielten das Christentum, die Freiheit und der Kapitalismus die entscheidenden Rollen. Im Fazit wird die Frage gestellt, ob das heute wohl immer noch so ist. Oder können durch die Globalisierung alternativ auch völlig andere moderne Gesellschaften entstehen, die weder christlich noch kapitalistisch oder auch nur frei sind?