Die Grump-Affäre

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Oval Office, Washington, D.C., Januar 2017

Er saß allein an seinem neuen Schreibtisch und ließ den riesigen Raum auf sich wirken. Hatte er es tatsächlich geschafft? Er, der selbst nicht daran geglaubt hatte. Er war im Weißen Haus. Und nicht als Besucher: Er war der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Unvorstellbar, noch bis vor wenigen Wochen. Seine Gedanken schweiften zurück ins Jahr 2011. Da war er noch Immobilientycoon, Unternehmer, Produzent von Miss-Wahlen und der Star einer Reality-TV-Show. International bekannt und berühmt für seine Deals. Ein wahres Genie und Multitalent. Aber Präsident? Daran hatte er nie gedacht, die Idee schien ihm völlig absurd. Bis zu diesem schicksalhaften Abend.

Er hatte sich über Beziehungen Karten für das Präsidentendinner besorgt. Man war erst in der Society richtig angekommen, wenn man an diesem Event teilnahm oder eingeladen wurde. Die Fernsehkameras liefen. Ronald wollte hier einige Geschäftsfreunde aus der Baubranche treffen, einige Details der Finanzierung seines neuen Casinos besprechen, vor allem aber gesehen werden und feiern.

Die Lust zum Feiern verging ihm jedoch schnell, als der amtierende Präsident ihn vor allen Leuten im Saal und bei laufenden TV-Kameras der Lächerlichkeit preisgab, ja Witze über ihn riss. Er kannte den Grund nicht, aber über fünf Minuten lang machte der Präsident eine Bemerkung nach der anderen über ihn, und alle trafen ihn bis ins Mark. Er wurde vor aller Welt vorgeführt. War blamiert worden bis auf die Knochen.

Das war der alles entscheidende Moment, der Augenblick, der alles verändern sollte.

Wie konnte dieser illegale Einwanderer aus Afrika sich über ihn lustig machen. Es war eine Erniedrigung, wie er sie in seinem ganzen Leben noch nicht aushalten musste. Der Präsident saß auf der Bühne mit dem Mikrofon, redete und witzelte über ihn, und er konnte nichts tun. Saß an seinem Tisch, für den er Tausende von Dollar bezahlt hatte, und konnte nichts machen, außer zu hoffen, dass all die Beleidigungen und Erniedrigungen endlich aufhörten.

Ein Feuer begann in ihm zu lodern. Ein Feuer gespeist aus Wut und Zorn.

Vergeltung für diese Qual; sein sorgfältig gepflegtes Image war angekratzt. Dafür hatte er Ehen geschlossen, Interviews gegeben und sein Leben der Öffentlichkeit preisgegeben. Er war seine eigene Marke. Von nun an wollte er selbst auf der Bühne stehen, keinen neben sich, allein am Mikrofon, und den Leuten sagen, was er über sie dachte, sich über all die Leute lustig machen, die heute gelacht hatten, und alle sollten auf ihn schauen. Keiner könnte widersprechen. Keiner würde sich trauen.

Ja, das war verdammt lang her, viele Jahre, und das waren die härtesten Jahre in seinem Leben gewesen. Er erinnerte sich noch genau, wie nach dem Dinner ein Freund zu ihm kam und ihn mit einigen Leuten bekannt machen wollte. Er verspürte keine Lust mehr nach diesem grauenvollen Abend und dachte, nur noch weg von hier. Sich aus diesem korrupten Washington so schnell es ging in sein geliebtes New York zurückziehen, doch der Freund blieb hartnäckig, und so kam er letztlich der Bitte nach.

Diese Begegnung verlief völlig anders, als er es sich ausgemalt hatte, kein Händeschütteln, kein Small Talk, keine Häppchen. Selbst der Ort war mehr als ungewöhnlich. Er wurde aus dem Hotel begleitet, von einer Limousine abgeholt und aus der Stadt herausgefahren. Sie fuhren mindestens eine Stunde. Allein im Wagen begann Ronald, sich allmählich Sorgen zu machen, bis sie endlich an einem See hielten. Man konnte das Schild „Burke Lake“ noch gut erkennen, obwohl es schon weit nach Mitternacht war, als sie mit einem kleinen Boot auf den See hinausfuhren. Was für Leute wollten sich um die Uhrzeit hier draußen mit ihm treffen? Eine Feier mit gut aussehenden, leicht bekleideten Damen würde das sicher nicht werden.

Das Boot hielt in der Mitte des Sees. Die Nacht war finster, und eine unangenehme Kühle stieg vom Wasser auf. Ronald begann zu frieren, er war unpassend gekleidet.

Die Sterne leuchteten hell am Himmel. Er fragte den Skipper, was hier los sei, doch der knurrte nur: „Geduld, die anderen werden schon kommen!“

Plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchten drei weitere Boote auf, alle ohne Positionslichter, alle ohne Motorengeräusche. Die Boote wurden von leisen Elektromotoren angetrieben.

Drei Männer stiegen zu ihm an Bord. Der Skipper verließ das Boot, ohne sich umzublicken. Keiner stellte sich vor. Ronald verkniff sich ein Grinsen, als sich die drei, wie die Orgelpfeifen vor ihm aufbauten. Der Kleinste von ihnen mit einem grauen Trenchcoat, in seinem Gesicht leuchtete nur das Helle seiner Augen, als er ansetzte: „Sie fragen sich bestimmt, was das hier alles soll, und ich versichere Ihnen, das hier dient alles nur Ihrem und unserem Schutz. Wir sind eine Organisation, die nicht gern in der Öffentlichkeit arbeitet und – ganz im Gegensatz zu Ihnen und Ihren sonstigen Gewohnheiten – keine Interviews gibt. Wir verfügen auch über keine Presseabteilung. Allerdings verfolgen wir genau, was in diesem Land geschieht, und wir sind mit den aktuellen Entwicklungen nicht sehr glücklich.“

Der zweite, etwas größere Mann ergänzte: „Nun, lassen Sie es mich so ausdrücken: Wir haben Sie seit geraumer Zeit beobachtet und möchten Ihnen heute Abend ein Angebot unterbreiten, das Sie hier und heute annehmen können. Damit würden Sie Erfolg, Macht und Einfluss bekommen, wie Sie es sich nicht erträumen könnten, und Ihre Probleme in New York und alle Geldsorgen wären für immer vorbei. Oder wir sehen uns nach diesem Abend niemals wieder.“

Nun trat der dritte Mann einen Schritt auf ihn zu. Ronald, selbst nicht gerade klein, musste zu ihm aufschauen. Was er sah, gefiel ihm nicht. Ein überheblicher Wichtigtuer mit eisgrauen, militärisch geschorenen Stoppelhaaren, dazu ein Blick aus ebenfalls eisigen Augen.

„Wir haben die Möglichkeiten und den Einfluss, Sie zum Präsidenten der Vereinigten Staaten zu machen. Sie erhalten unsere volle Unterstützung. Wenn Sie sich nach unseren Spielregeln verhalten, werden Sie bald der mächtigste Mann der Welt sein. Einen Abend wie den heutigen, an dem Sie der Lächerlichkeit preisgegeben wurden, wird es nie wieder geben. Sie erhalten Zugang zu sämtlichen Ressourcen dieses Landes, und wir sorgen dafür, dass alles reibungslos verläuft.“

Er hatte aufmerksam zugehört, und sein erster Gedanke war: „Was für überhebliche Arschlöcher! Schleppen mich mitten in der Nacht auf einen See, um mir solch einen infantilen Mist aufzutischen.“ Nach kurzer Überlegung und der reinen Neugier folgend fragte er:

„Wie wollen Sie das anstellen? Wer sind Sie überhaupt?“

Der erste Mann trat einen Schritt näher. „Das tut nichts zur Sache, und Namen sind nicht wichtig. Wichtig ist, dass Sie verstehen, was wir für Sie möglich machen können! Wir garantieren Ihnen die Präsidentschaft! Alles ist seit langer Zeit geplant, Milliarden an Dollar stehen zur Verfügung, Heerscharen von Leuten arbeiten seit Jahren an diesem Plan. Was uns noch fehlt, ist der richtige Kandidat. Ronald, Sie sind der geeignete Mann. Doch es gibt da noch eine Bedingung!“

Der zweite Mann flüsterte fast. Fehlte nur noch, dass er sich verschwörerisch umschaute, obwohl nun wirklich niemand anders in der Nähe sein konnte.

„Wir werden Gefallen einfordern, und wir werden Leute von uns in Ihrer Nähe platzieren, die Sie offiziell ernennen werden. Dafür übernehmen wir alle Kosten des Wahlkampfes und sorgen dafür, dass die Probleme, die Sie bereits haben, und alle zukünftigen Probleme, die Sie verursachen werden, sich allesamt in Luft auflösen. Wir meinen nicht nur die Immobiliengeschäfte, die Steuer, die Sie nicht zahlen können, und die drohenden Prozesse um Insolvenzverschleppung, Sex mit minderjährigen Prostituierten oder das Verschwindenlassen von unliebsamen Grundstücksbesitzern. Das alles können wir für Sie regeln. Eines Tages werden Sie sogar in der Lage sein, sich selbst zu begnadigen. Bis dahin sorgen wir für Sie.“

Was waren das für Typen? Hatten sie so viel Einfluss und Macht? Ungläubig wägte Ronald seine Chancen ab. Waren das Ermittler vom FBI oder der Finanzbehörde, die ihm hier Aussagen abringen wollten? Woher zum Teufel wussten diese Typen von der Entführung in New York und all den anderen Dingen? Das waren Informationen, die im kleinsten Kreis getuschelt und nicht einmal da laut ausgesprochen wurden. Diese Fragen schossen ihm alle gleichzeitig durch den Kopf. Doch dann kam sein Überlebensinstinkt in ihm auf. Er war Ronnie, der Dealmaker, er bestimmte die Deals. Gleichzeitig war er besorgt darüber, wie viel die Typen über ihn wussten. Er entschloss sich zur Attacke. Er würde „all-in“ gehen: „Nun gut, Sie haben gründlich recherchiert, Sie haben einiges ausgegraben, okay, aber ich kenne euch nicht und mache nur Deals mit Leuten, die ich kenne! Woher soll ich wissen, ob ihr nicht vom FBI seid oder vom Finanzministerium?“

Der kleine Mann reichte ihm ein Handy und sagte fast tonlos: „Schau mal, Ronnie!“

Er traute seinen Augen nicht. Sie hatten alles! Sex-Tapes, seine Scheinverträge, seine gefälschten Steuerunterlagen, seinen nachträglich veränderten Ehevertrag, seine Abmachungen mit den Chinesen zum Bau eines neuen Casinos, einfach alles. Sie hatten ihn in der Hand, so viel war klar.

Er musste daran denken, wie viel Glück er in seinem Leben bereits gehabt hatte. Für die Dinge, die er getan hatte, wären alle anderen längst im Knast gelandet. Ihm blieb eigentlich keine Option. Kein Deal möglich bei dem er die Bedingungen stellen konnte. Er hoffte, dass ihm das Glück weiter gewogen blieb.

Man konnte die Stille förmlich greifen, als die drei Männer auf seine Antwort warteten.

Sein Verstand raste, suchte nach Optionen und Möglichkeiten das Ganze aufzuschieben.

 

Die Frage, „Wie lautet Ihre Antwort?“, riss Ihn aus seinen Überlegungen.

„Okay, ich stimme zu. Wie geht’s weiter? Was muss ich tun?“

Die drei Männer gingen einen weiteren Schritt auf ihn zu, und der Kleinste von ihnen raunte: „Wir melden uns bei Ihnen in vier bis sechs Wochen, so lange brauchen wir, um die Vorbereitungen abzuschließen: Vorbereitungen, die bereits seit vielen Jahren laufen!“

An all das musste er denken, als er allein im Zentrum der Macht saß. An diesem Abend hatte seine Entwicklung vom Geschäftsmann zum Politiker begonnen. Er hätte nie auch nur im mindesten geahnt, wie ähnlich sich das Geschäftemachen und die hohe Politik waren. Er war für beides wie geschaffen. Es würden fantastische Zeiten anbrechen. Bessere Zeiten. Der Tag würde kommen, und zwar bald, an dem er sich bei allen dafür revanchieren würde, dass sie ihn derart mit Dreck überschüttet hatten. Er musste lächeln. Er konnte das schon heute tun! Er hatte gewonnen!

Ungewissheit

Marco und John saßen in der Küche von Marcos Elternhaus. Sie hatten stundenlang diskutiert, was als Nächstes zu tun sei.

John galt als Hauptverdächtiger bei der Polizei. Der Officer hatte es ihm auf den Kopf zugesagt, es sei eine ungewöhnliche Häufung von Zufällen, dass sein Haus explodiert, seine Familie nicht auffindbar und die Lebensversicherung seiner Frau vier Wochen zuvor erhöht worden sei. Seine Geschichte von dem „italienisch aussehenden Gianluca“ sei unglaubwürdig und frei erfunden. Es war eindeutig. Aus dieser Ecke würde keine Hilfe oder Unterstützung bei der Suche nach dem Italiener kommen. Wie er sich von dem Verdacht befreien könnte, keine Idee. Alle Indizien sprachen gegen ihn.

Irgendwer hatte hier ganze Arbeit geleistet, um den Verdacht auf ihn zu lenken. Indizien derart zu fälschen war kein leichtes Unterfangen. Es mussten Profis mit enormen Geldmitteln sein. Wie sonst erhöhte man schnell mal eine fremde Lebensversicherungspolice?

Plötzlich klingelte sein Handy.

„Buongiorno, Mr. Brockmann! Wir hatten Sie gewarnt! Sollten Sie Interesse haben, Ihre Familie lebend wiederzusehen, so unterschreiben Sie den Vertrag, den Sie in Ihrer Mailbox finden, und geben Sie das Dokument bis heute, 18 Uhr, beim Barmann im Irish Pub ab, in dem wir uns letztens getroffen haben.“

John wollte noch etwas sagen, aber der Anrufer hatte bereits aufgelegt.

Marco sah ihn fragend an, und John erzählte, was er gehört hatte.

„Du kannst solchen Typen nicht vertrauen, John. Wenn du verkaufst, hast du nichts mehr in der Hand!“

„Ich weiß! Trotzdem muss ich es versuchen, es ist die einzige Chance, Emma und Felix lebend wiederzusehen. Oder hast du eine andere Idee?“

Marco schüttelte den Kopf: „Wahrscheinlich wirklich deine einzige Chance. Die Bullen wirst du sonst nicht mehr los, die haben ihren Täter längst gefunden. Wenn wir mehr Zeit hätten, könnten wir versuchen, eine Falle zu stellen. Aber so haben die alle Trümpfe in der Hand. Weil die Typen aber kein Geld wollen, sondern die Verkaufsurkunde, wirst du hoffen müssen, dass sie fair spielen.“

Pünktlich um 18 Uhr betrat er den Pub und übergab dem Barkeeper den Umschlag mit dem Vertrag. Er wusste, dass es keinen Sinn haben würde, hier auf den Italiener zu warten oder gar Fragen zu stellen. Ein Fremder würde den Vertrag abholen und das Dokument wieder einem anderen Fremden geben. Selbst der Barmann wusste nicht, dass er als stiller Briefkasten herhalten musste.

Zurück bei Marco in der Küche passierte stundenlang nichts. Niemand meldete sich.

Es gab Kaninchen auf ligurische Art, geschmort im Ofen mit Wurzelgemüse, schwarzen Oliven und Rosmarin in einer Sauce von Weißwein aus Apulien, den Marco augenzwinkernd auch als Aperitif sowie als Tischwein kredenzte.

In John breitete sich Verzweiflung aus. Der Wein schmeckte schal, und das lag sicher nicht an dem preisgekrönten Tropfen. Er musste etwas unternehmen!

„Marco, du kennst dich doch bei euch in der Community aus. Kannst du dich nicht mal umhören? Vielleicht kennt jemand diesen Gianluca?“

Marco schaute vom Zwiebelschneiden auf. Er wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab und sagte schniefend: „Schon erledigt. Ich habe meinen Onkel darauf angesetzt und treffe mich in einer Stunde mit ein paar alten Freunden. Wenn die nicht wissen, für wen der Kerl arbeitet, dann weiß es in ganz New York niemand.“

Es wurde dunkel. John saß allein in der Küche und dachte bei einem schönen Single Malt, den der gute Marco ihm zum Abschluss angeboten hatte, angestrengt nach. Er war noch nie in solch einer Situation gewesen. Gewalt, Entführung oder gar Mord kamen in seiner Welt nicht vor. Er zog die verbale Auseinandersetzung der körperlichen vor. Jetzt hatte er das Gefühl, zu versagen, er wurde in eine andere Welt hineingezogen. Eine dunkle, kalte Welt, von der er nichts verstand.

Er musste etwas unternehmen. Dieses Warten, dass sein Handy klingelte und man ihm endlich den Ort verriet, an dem seine Familie gefangen gehalten wurde, konnte er nicht mehr länger ertragen. Er hatte alles getan, was von ihm verlangt wurde, er hatte nur noch einen Wunsch und Gedanken: Er wollte seine Frau und seinen Sohn endlich wieder in den Armen halten, wissen, dass es ihnen gut ging. Er musste sich bewegen und nachdenken. Er ging auf die Straße und lief einfach los, er hatte kein Ziel, er musste nachdenken und brauchte eine Lösung. Er lief die Baker Street hinunter an seinem alten Haus vorbei, blieb kurz stehen, um die Ruinen, die wie Stalagmiten aus dem Boden ragten, zu betrachten, und lief dann ziellos weiter.

Nachdem er das Gefühl für die Zeit verloren hatte und schon den Hudson River sehen konnte, vibrierte das Handy in seiner Manteltasche. Sein Herz blieb kurz stehen.

Weisses Haus, Washington, D.C., Januar 2017

Steve Bacon betrat geschmeidig das Oval Office durch eine Seitentür.

Wie immer war Steve leger gekleidet, trug ein einfaches Hemd mit rotem Schlips, darüber ein kariertes Sakko und Jeans. Er hatte sein Aussehen stets beibehalten; neuerdings rasierte er sich allerdings täglich. Das einzige Zugeständnis an seine neue Position. Er legte bei der Auswahl seiner Kleidung keinen gesteigerten Wert auf Äußerlichkeiten, das karierte Sakko trug er schon etliche Jahre. Es war zu einer Art Markenzeichen von ihm geworden.

Er war der persönliche Assistent von Ronald Grump. So zumindest seine offizielle Bezeichnung, jeder wusste aber, welche Macht Steve innehatte. Er allein entschied, welche Dinge mit Ronald besprochen werden durften. Einen Termin bei Ronald ohne die Freigabe von Steve war undenkbar. Die beiden Männer verband keine Freundschaft, aber durch die zahlreichen Schlachten, die sie in den letzten Jahren gemeinsam gefochten und allesamt gewonnen hatten, war so etwas wie Vertrauen und Zuneigung, aber auch Abhängigkeit entstanden. Steve Bacon war der Kontaktmann zu der geheimnisvollen Organisation. Ronald hatte gehört, dass man sie „Medusa“ nannte. Er kannte sich mit griechischer Mythologie nicht aus, hatte aber nachgelesen und herausgefunden, dass es sich um ein weibliches Ungeheuer handelte, die ihre Gegner beim bloßen Anblick versteinern und töten konnte. Ziemlich treffsichere Namensgebung, wie er fand. Er wusste immer noch nicht, um wen und welche Personen es sich bei „Medusa“ handelte.

Steve schien in der Organisation weit oben zu stehen, da er direkten Kontakt zur Führungsriege hatte und weitgehend selbst entscheiden konnte. Jedes Gespräch, in dem Ronald mehr über „Medusa“ herausfinden wollte, endete immer auf die gleiche Art und Weise: Steve setzte ein Lächeln auf, neigte den Kopf zur Seite und antwortete:

„Es ist besser, wenn Sie das nicht wissen. Besser für ein glaubwürdiges Dementi, Ronald.“

Steve war der Steuermann der Kampagne, der Kopf dahinter. „Medusa“ selber blieb im Dunkeln. Die Männer vom Burke Lake hatte Ronald nie wiedergesehen und nichts mehr von ihnen gehört. Der einzige Kontakt war Steve.

„Mr. President, Sir, ich störe Sie nur sehr ungern, aber es gibt einige wichtige Entscheidungen, die jetzt getroffen werden müssen.“

Steve überreichte dem Präsidenten einen Umschlag, der nicht beschriftet war; dies war insofern sehr außergewöhnlich, da sämtliche Korrespondenz des Präsidenten erst im Security Office geprüft werden musste und dann vom Postal Service geöffnet wurde. Dies geschah aus rein praktischen Überlegungen: Es gab kaum Post, die an den Präsidenten gerichtet war und von ihm persönlich beantwortet wurde. Für jedes Thema gab es Spezialisten. Jede dieser Stellen versah das Dokument gewöhnlich mit einem Stempel und einem Bearbeitungsvermerk. Alles wurde elektronisch dokumentiert, somit war jederzeit nachvollziehbar, wo sich welches Dokument in der Bearbeitung befand.

Dieser Umschlag war nicht gestempelt.

Der Präsident öffnete den nicht beschrifteten Umschlag, holte mehrere Blätter Papier hervor und begann zu lesen.

Es handelte sich um eine Liste, die im Großen und Ganzen die gesamte Besetzung der neuen Administration betraf. Für jeden Ministerposten und jede wichtige Funktion stand darauf ein Kandidat beziehungsweise ein Name: Namen, die Ronald noch nie gehört hatte und Namen, mit denen er weniger als ein Gesicht verband. Er kannte diese Leute nicht. Er verstand allerdings, dass die erste Gegenleistung von ihm eingefordert wurde. Man hatte ihn erwartungsgemäß kontaktiert, und nun sollte er wichtige Posten seines Kabinetts und des Executive Office des Präsidenten der Vereinigten Staaten mit Leuten besetzen, die er nicht kannte. Das war Teil des Deals, dem er vor Jahren am Burke Lake zugestimmt hatte. Bis heute hatte er keine Aufforderung bekommen, irgendetwas anders zu machen, als er es ohnehin getan hätte. Doch nun hatte „Medusa“ zum ersten Mal ihr Haupt erhoben.

Die Liste schien lang: Mike Price, mit dem er die meiste Zeit den Wahlkampf bestritten hatte, stand ganz oben weiterhin als sein Vize auf der Liste. Er mochte Mike nicht, man hatte ihn ausgesucht, weil er neben Steve der Verbindungsmann zur Organisation war, aber hauptsächlich fühlte er sich von Mike beobachtet und wusste, dass, wenn er nicht auf Linie blieb, Mike übernehmen würde. Allein schon deswegen mochte Ronald ihn nicht. Mike war ein Speichellecker, wie er schon viel zu viele getroffen hatte: Menschen, die sich gern im Schatten großer Persönlichkeiten tummelten und sich von den Brotkrumen ernährten, die Titanen wie er vom Esstisch fallen ließen. Ganz bewusst fallen ließen.

Außenminister Rik Tillman war der Nächste auf der Liste. Er kannte ihn nicht gut, nur auf einigen Veranstaltungen und Spendengalas hatte er ihm beiläufig die Hand geschüttelt. Welche Qualifikationen er hatte, wusste Ronald nicht, aber er sollte Außenminister werden. Jetzt hatte er ein Problem. Tomas Scharon sollte eigentlich den Posten übernehmen – Ronald hatte viel Geld aus dessen Heimatbezirk erhalten, und er fand den Jungen gut. Vor allem machte er alles genau so, wie man es ihm sagte. Dieser Charakterzug gefiel Ronald an Menschen: Wenn sie wussten, wann und wem sie zu folgen hatten. Nun, er würde mit ihm sprechen müssen und sicher einen anderen Posten für ihn finden. Was zählte schon das Wort von gestern, gerade bei Politikern.

Finanzminister: Steve Munic. Er hatte noch nie etwas von dem Mann gehört, fand aber, dass man mit so einem Nachnamen nicht in die Politik gehen sollte. Wieder das gleiche Problem, eigentlich wollte er Adam Scott auf diesem Posten, einen ausgewiesenen Experten. Adam hatte ihm schon unzählige Male schwierige Finanzkonstrukte mit einfachen Worten erklärt, das gefiel ihm. Gut, auch dafür würde er wohl oder übel eine Lösung finden müssen. Die Liste setzte sich endlos fort, Verteidigung, Justiz, Innenministerium, er überflog all die Namen und schaute ratlos zu Steve auf, der nach wie vor lässig dastand und auf eine Reaktion wartete.

„Ich soll alle Leute auf dieser Liste ernennen?“, versicherte sich Ronald bei ihm.

Steve nahm die Liste wieder an sich. „Ja, Mister President, das wird Ihr Kabinett sein und das Executive Office. Es freut mich, dass wir hier nicht diskutieren müssen, wir haben für Ihre designierten Kandidaten eine jeweils passende Story, und glauben Sie mir, wenn ich sage, das wird eine schlagkräftige Regierung, die Amerika wirklich ‚wieder groß‘ machen wird! Die Ernennungsurkunden sind schon in der Erstellung, wir werden die Kandidatenliste zur Abstimmung dem Senat zuleiten.“

Damit verließ Steve das Oval Office und ließ den Präsidenten allein an seinem Schreibtisch zurück. Die Papiere hatte er wieder eingesteckt. Alles musste vernichtet werden. Ronald hatte darauf bestanden, einige Dokumente, die vertraulich waren und die nur Steve und ihn betrafen, auf USB-Stick zu erhalten. Steve war dagegen, aus Sicherheitsbedenken. Ronald ließ nicht mit sich reden, er wollte auf geheime Dokumente zugreifen können, wenn er abends im Bett lag, fernsah und nebenbei an seinem Laptop arbeitete. Steve kopierte dann immer die letzten Anweisungen von „Medusa“ auf einen extra gesicherten Stick, den ihm sein Auftraggeber hatte zukommen lassen.

 

„Sie hatten sich also gemeldet“, dachte Ronald. Nach Jahren der Funkstille waren die Männer aus dem Dunkel zurückgekehrt und forderten nun die Gefälligkeiten ein, die vor Jahren angekündigt worden waren. Er wusste nicht, wie viele Forderungen sie noch stellen würden, das wurde nicht verhandelt. Bislang konnte er gut damit leben. Ein paar Posten, die von Leuten besetzt wurden, die er nicht kannte. Kein Problem, solange er die Macht hatte, alles und jeden wieder zu ersetzen. Vielleicht sollte er die CIA oder das FBI auf die Typen ansetzen, dachte er kurz, verwarf diesen Gedanken aber schnell wieder, als er an die Liste dachte, auf der er auch irgendwo CIA gelesen hatte. Diese Organisation hatte ihre Leute überall platziert. Er war umgeben von Aufpassern. Ja, er war der Präsident, aber die Menschen um ihn herum gehörten fast alle zu „Medusa“. Er musste auf der Hut sein.

Die einzigen Menschen, denen er wirklich vorbehaltlos vertrauen konnte, waren Mitglieder seiner Familie, und nur seiner Familie. Seine Tochter, die bildhübsch war und so klug. Ihr Ehemann, dem er zwei Mal aus der Patsche geholfen hatte, als seine Geschäfte wirklich schlecht liefen. Sein Sohn und natürlich dessen Frau, das waren die Menschen, denen er vorbehaltlos vertraute. Sie glaubten an ihn und an seine Mission. ‚Blut ist dicker als Wasser‘ war einer der Lieblingssprüche seines Vaters, den er über alles verehrt hatte. Ein Mann, der wusste, was er wollte und wie man es bekam. Ein Macher. Von ihm hatte er alles gelernt, auch, dass es keine Niederlagen gibt für einen Grump. Die Geschichte musste in solch einem Fall nur anders erzählt werden. Am Anfang hatte seine Familie ihn für verrückt erklärt, aber als es dann losging, hatten sie ihn vorbehaltlos unterstützt. So musste es sein.

Er ging zum Sofa und nahm sich ein Sandwich, das sichtlich nur für den Präsidenten bestimmt war. Er musste schmunzeln. „Viel zu viel Grünzeug“, dachte er und wünschte sich einen großen, fettigen Burger.

Mit dem Koch würde er reden müssen.