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Er erinnerte sich dann nur noch, daß er im Vorbeigehen empfand, das Vertrauteste sei auf dem Sessel geblieben, mit den Kleidern, die er so gut kannte; als er daran vorbeikam, stieg der liebe, frische Geruch daraus auf, den er immer als das erste empfunden hatte, wenn sie sich sahen; im Bett erwartete ihn das Unbekannte und Fremde. Er hielt noch einmal ein, und Tonka lag im Bett mit geschlossenen Augen und zur Mauer gewandtem Kopf, endlos lang, in fürchterlich einsamer Angst. Als sie ihn endlich neben sich fühlte, waren ihre Augen warm von Tränen. Es kam dann eine neue Welle der Angst, Entsetzen über ihre Undankbarkeit, ein sinnloses, Hilfe suchendes Wort, durch einen endlosen, einsamen Gang hervorstürzend, verwandelte sich in seinen Namen, und dann – war sie sein geworden; er begriff wohl kaum, wie zauberhaft, wie kindlich tapfer sie sich in ihn stahl, welche einfache List sie sich ausgedacht hatte, um auch alles zu besitzen, was sie an ihm bewunderte: man braucht bloß ganz ihm zu gehören und dann gehört man dazu.

Er erinnerte sich später gar nicht mehr, wie das geschehen war.

VI

Denn am Morgen eines einzigen Tages war alles in ein Dornengerank verwandelt worden.

Es waren schon einige Jahre vergangen, seit sie gemeinsam lebten, als Tonka sich eines Tages schwanger fühlte, aber es war nicht ein beliebiger Tag, sondern der Himmel hatte dafür einen Tag ausgesucht, von dem zurückgerechnet die Empfängnis eigentlich in eine Zeit der Abwesenheit und Reisen fiel, und Tonka wollte ihren Zustand erst bemerkt haben, als sein Beginn schon nicht mehr so genau festzustellen war.

In solcher Lage gibt es Gedanken, die jedem durch den Kopf fliegen; weit und breit war jedoch kein Mann, der ernsthaft hätte in Zusammenhang gebracht werden können.

Einige Wochen später trat das Schicksal noch deutlicher auf: Tonka erkrankte. Es war eine Krankheit, die entweder vom Kind ins Blut der Mutter getragen wird oder ohne diesen Umweg vom Vater; es war eine entsetzliche, schwere, schleichende Krankheit, aber ob sie den näheren oder weiteren Weg genommen hatte, das Merkwürdige war: die erforderliche Zeit stimmte in beiden Fällen nicht genau. Auch war er ja nach menschlichem Ermessen nicht krank, und es verstrickte ihn also entweder ein mystischer Vorgang mit Tonka oder sie hatte gemeine irdische Schuld auf sich geladen. Es gab freilich auch andere natürliche Möglichkeiten – theoretische, platonische, wie man sagt –, aber praktisch war ihre Wahrscheinlichkeit so gut wie Null; praktisch war die Wahrscheinlichkeit, daß er weder der Vater von Tonkas Kind noch der Urheber ihrer Krankheit war, gleich der Gewißheit.

Man verweile einen Augenblick, um zu verstehen, wie schwer er es begriff. Praktisch! Kommst du zu einem Kaufmann und eröffnest nicht eine Aussicht, die bald seine Begehrlichkeit reizt, sondern hältst ihm eine lange Rede über die Zeiten und das, was ein reicher Mann eigentlich tun müßte, so weiß er, du bist gekommen, um ihm sein Geld zu stehlen. Er wird sich nie irren darin, obgleich du ja auch gekommen sein könntest, um ihm Belehrung zu schenken. Ebenso ist ein Richter nicht einen Augenblick im Zweifel, wenn ihm der Angeklagte erzählt, daß er das bei ihm gefundene Beweisstück von einem «unbekannten Mann» erhalten habe. Und doch wäre einmal ja auch das möglich. Aber Handel und Wandel ruhen darauf, daß man nicht mit allen Möglichkeiten zu rechnen braucht, weil die äußersten praktisch nicht vorkommen. Theoretisch hingegen? Der alte Arzt, zu dem er Tonka anfangs gebracht hatte, nachdem er allein bei ihm zurückgeblieben war, hatte die Achseln gezuckt: Möglich? Gewiß unmöglich nicht – er hatte gute, hilflose Augen, aber er schien sagen zu wollen: Halten wir uns nicht dabei auf, es liegt unter der für menschliches Ermessen nötigen Wahrscheinlichkeit. Auch ein Gelehrter ist ein Mensch, und ehe er etwas annimmt, das medizinisch ganz unwahrscheinlich ist, nimmt er lieber einen menschlichen Fehler als Ursache an; in der Natur sind die Ausnahmen selten.

Es war also das nächste eine Art medizinische Prozeßsucht. Er wurde Gast bei vielen Ärzten. Der zweite Arzt schloß ebenso wie der erste, und der dritte wie der zweite. Er feilschte. Er trachtete Auffassungen medizinischer Schulen gegeneinander auszuspielen. Die Herren hörten ihm schweigend zu oder auch liebevoll lächelnd wie einem Narren und unverbesserlichen Dummkopf. Und natürlich wußte er selbst, während er redete, er hätte ebensogut fragen können: ist eine jungfräuliche Zeugung möglich? Und man hätte ihm nur zu antworten vermocht: sie war noch nie da. Nicht einmal ein Gesetz hätte man angeben können, das sie ausschloß; bloß: sie war noch nie da. Und doch wäre er ein unverbesserlicher Hahnrei, wollte er sich das einbilden!

Vielleicht hatte ihm das auch einer ins Gesicht gesagt, mit dem er sprach, oder es war ihm doch nur selbst durch den Kopf gefahren, es hätte ihm jedenfalls selbst einfallen können. Aber gerade weil man nicht einen Kragenknopf schließen könnte, wollte man zuvor alle möglichen Fingerkombinationen durchdenken, stand während der ganzen Zeit neben der Gewißheit seines Verstandes eine andere Unmittelbarkeit: Tonkas Gesicht. Man geht zwischen Kornfeldern, man fühlt die Luft, die Schwalben fliegen, in der Ferne die Türme der Stadt, Mädchen mit Liedern … man ist fern aller Wahrheit, man ist in einer Welt, die den Begriff Wahrheit nicht kennt. Tonka war in die Nähe tiefer Märchen gerückt. Das war die Welt des Gesalbten, der Jungfrau und Pontius Pilatus, und die Ärzte sagten, daß Tonka geschont und gepflegt werden müßte, sollte sie ihren Zustand überdauern.

VII

Er versuchte natürlich trotzdem von Zeit zu Zeit, Tonka das Geständnis zu entreißen; dazu war er ja ein Mann und kein Narr. Aber sie ging damals in ein großes häßliches Geschäft, das in einem Arbeiterviertel lag; morgens mußte sie um sieben Uhr dort sein und abends verließ sie es – oft wegen einiger Pfennige, die ein verspäteter Kunde hineintrug – nicht vor halb zehn; sie sah die Sonne nicht, nachts schliefen sie getrennt, und man ließ ihnen keine Zeit für ihre Seele. Sie mußten selbst für dieses dürftige Leben bangen, wenn man die Schwangerschaft merkte, denn sie waren damals schon in Geldverlegenheit geraten; er hatte die Mittel für seine Studien verbraucht und Geld zu verdienen war er nicht imstande; es ist das am Anfang einer wissenschaftlichen Laufbahn besonders schwer, und er war der Lösung seiner Aufgabe, ohne sie schon erreicht zu haben, so nahe gekommen, daß er aller Kraft für das letzte Erreichen bedurfte. Tonka war bei diesem Leben ohne Licht und voll Sorgen hingewelkt und sie verblühte natürlich nicht schön wie manche Frauen, die Berauschendes ausströmen, wenn sie verfallen, sondern sie welkte unscheinbar wie ein kleines Küchenkraut, das gilbt und häßlich wird, sobald die Frische seines Grüns verloren ist. Ihre Wangen blaßten und fielen ein, dadurch sprang die Nase groß aus dem Gesicht, der Mund erschien breit und sogar die Ohren standen etwas weg; auch der Körper magerte ab, und wo früher biegsame Fülle des Fleisches gewesen war, blickte jetzt ein ländlicher Knochenbau durch. Er, dessen wohlerzogenes Gesicht dem Kummer besser widerstand und dessen Vorrat an guten Kleidern länger vorhielt, merkte, wenn er mit ihr ausging, den erstaunten Blick manches Vorübereilenden. Und weil er nicht ohne Eitelkeit war, brachte es ihn gegen Tonka auf, daß er ihr keine schönen Kleider kaufen konnte; er war wegen ihrer Dürftigkeit, an der er die Schuld trug, böse auf sie, aber wahrhaftig, er hätte ihr, wenn er gekonnt hätte, zuvor schöne wolkige Umstandskleider geschenkt und sie dann erst zur Rede gestellt wegen ihrer Untreue. Sobald er versuchte, ihr das Geständnis zu entreißen, leugnete Tonka. Sie wußte nicht, wie es gekommen war. Wenn er um ihrer alten Freundschaft willen bat, ihn doch nicht zu belügen, trat ein gequälter Zug in ihr Gesicht, und wenn er heftig wurde, sagte sie bloß, sie lüge nicht, und was sollte man da noch tun? Hätte er sie prügeln und beschimpfen sollen oder sie in ihrer furchtbaren Lage verlassen? Er schlief nicht mehr bei ihr, aber auf die Folter gelegt, hätte sie nichts bekannt, schon deshalb nicht, weil sie kein Wort über die Lippen brachte, seit sie sein Mißtrauen merkte, und dieser törichte Eigensinn war, seit seine Einsamkeit nicht mehr durch Liebreiz gemildert wurde, erst recht entwaffnend. Er mußte zäh und lauernd sein.

Er hatte sich entschlossen, seine Mutter um Geldhilfe zu bitten. Aber der Vater lag seit langem zwischen Leben und Sterben, und alles verfügbare Geld war dadurch gebunden; er konnte es nicht prüfen, wenn er auch wußte, daß seine Mutter sich vor der Möglichkeit ängstigte, er könnte mit der Zeit Tonka heiraten wollen. Ja, sie ängstigte sich schon davor, daß andere Heiraten niemals zustandekommen würden, weil Tonka dazwischen war; und als alles sich dehnte, die Studien, der Erfolg, die Krankheit des Vaters und die Sorgen im Haushalt, war näher oder ferner daran Tonka schuld, die nicht bloß als die erste Ursache unseliger Verkettungen empfunden wurde, sondern geradezu als ein böses Zeichen, das Unglück vorbedeutete, indem zum erstenmal durch sie der gewöhnliche Ablauf des Lebens gestört worden war. In Briefen und bei Besuchen im Elternhaus war diese unklare Überzeugung durchgebrochen, die im Grunde aus nichts bestand als der Ahnung eines Familienmakels, weil der Sohn «von so einem Mädchen» sich tiefer binden ließ, als es sonst bei jungen Männern üblich ist. Hyazinth mußte warnen, und als der Junge, betroffen von diesem uneingestandenen Aberglauben und an seine eigenen unvernünftigen, schmerzlichen Erlebnisse erinnert, heftig ablehnte, war Tonka ein «pflichtvergessenes Mädchen» genannt worden, das den Frieden einer Familie nicht achtete, und linkische Anspielungen auf «sinnliche Künste», mit denen sie ihn «in Banden halte», kamen mit der ganzen Lebensunerfahrenheit der anständigen Mütter zutage. – Sie hatten auch jetzt durch die Antwort geblickt, die er erhielt, als ob jeder Pfennig, solange er ihn mit Tonka verband, nur seinem Unglück dienen würde. Da entschloß er sich, noch einmal zu schreiben und sich als Vater von Tonkas Kind zu bekennen.

 

Als Antwort kam seine Mutter selbst.

Sie kam, «um die Verhältnisse zu ordnen».

Sie betrat nicht seine Wohnung, als müßte sie fürchten, dort auf Unerträgliches zu stoßen, und beschied ihn ins Hotel. Eine leichte Verlegenheit hatte sie mit Pflichtbewußtsein abgeschüttelt und sprach von der großen Sorge, die er ihnen bereite, von der Gefahr für das Leiden seines Vaters und von Fesseln fürs Leben; ungeschickt durchtrieben zog sie alle Bälge des Gemüts, aber ein Ton der Nachsicht, der dabei nicht von den Worten wich, bewahrte ihr die mißtrauische Neugierde ihres von der durchschauten Herzenslist gelangweilten Zuhörers. «Denn», sagte sie, «es könnte dieser Unglücksfall ja geradezu noch zum Glück ausschlagen, und man wäre dann» – sagte sie – «mit dem Schreck davongekommen: es gelte nur, die Zukunft vor der Wiederkehr solcher Ereignisse zu schützen!» Sie habe deshalb den Vater trotz aller Schwierigkeiten bewogen, eine gewisse Summe zu opfern. Man werde damit, eröffnete sie wie eine große Güte, das Mädchen samt den Ansprüchen des Kindes abfinden.

Zu ihrer eigenen Überraschung fragte ihr Sohn ruhig nach der Höhe des Angebots, hörte es sich an, schüttelte dann noch ruhiger den Kopf und sagte bloß: «Es geht nicht.»

Von Hoffnung befeuert, erwiderte sie: «Es muß gehen! Sei nicht verblendet; viele junge Leute machen ähnliche Dummheiten, aber sie lassen es sich gesagt sein. Es ist gerade jetzt eine gute Gelegenheit, dich frei zu machen, lasse sie nicht aus falschem Ehrgefühl ungenützt, du schuldest es dir und uns!»

«Wieso eine gute Gelegenheit?»

«Gewiß. Das Mädchen wird vernünftiger sein als du; es wird wissen, daß man solche Verhältnisse immer löst, wenn ein Kind da ist.»

Da verschob er die Antwort auf den nächsten Tag. Es hatte etwas in ihm gezündet.

Seine Mutter, die Ärzte mit dem Lächeln der Vernunft, das glatte Laufen der Untergrundbahn am Weg zu Tonka, der Schutzmann mit den festen, das Chaos regelnden Gebärden, der donnernde Wasserfall der Stadt: das war alles eins; er stand in dem einsamen Hohlraum darunter – unbenetzt, aber abgeschnitten.

Er fragte Tonka, ob sie es tun würde.

Tonka sagte: Ja. Fürchterlich zweideutig war dieses Ja. So vernünftig, wie die Mutter es vorausgesagt hatte, aber um den Mund, der es sprach, zuckte die Verwirrung.

Da sagte er seiner Mutter ungefragt am nächsten Tag ins Gesicht, daß er vielleicht gar nicht der Vater von Tonkas Kind sei, daß Tonka krank sei, aber daß er sich trotzdem eher selbst für krank und den Vater halten wolle, als Tonka verlassen.

Es lächelte seine Mutter machtlos vor so viel Verblendung, sah ihn zärtlich an und ging. Er wußte, sie hatte nun den großen Schwung erhalten, ihr Fleisch und Blut vor dem Makel zu schützen, und ein mächtiger Feind war ihm verbündet.

VIII

Endlich verlor Tonka ihre Stellung; es hatte ihn fast schon beunruhigt, daß dieses Unglück solang nicht gekommen war. Der Geschäftsmann, bei dem Tonka diente, war ein kleiner, häßlicher Mensch, aber in ihrer Not war er ihnen wie eine übermenschliche Macht erschienen. Wochenlang hatten sie beratschlagt; er muß alles schon wissen, aber er ist doch ein anständiger Kerl, der nicht eigens noch stößt, wenn eins im Unglück ist; dann wieder: er merkt es nicht; Gott sei Dank, er hat es überhaupt noch nicht bemerkt! Aber eines Tages wurde Tonka ins Kontor gerufen und rund heraus gefragt, wie es mit ihr stünde. Sie brachte keine Antwort hervor, bloß die Tränen traten ihr in die Augen. Und den vernünftigen Mann rührte es nicht, daß sie nicht sprechen konnte; er zahlte ihr den Gehalt für einen Monat aus und entließ sie auf der Stelle. So böse war er geworden, daß er donnerte, er sei jetzt verlegen um einen Ersatz, und es sei Betrug von Tonka gewesen, ihren Zustand zu verheimlichen, als sie die Stellung annahm; nicht einmal das Kontorfräulein schickte er hinaus, als er ihr das sagte. Tonka kam sich danach sehr schlecht vor, aber auch er bewunderte heimlich diesen schäbigen, kleinen, namenlosen Kaufmann, der nicht eine Minute lang geschwankt hatte, seinem Geschäftswillen Tonka zu opfern, und mit ihr ihre Tränen, ein Kind und weiß Gott welche Erfindungen, welche Seelen, welches Menschenschicksal, denn das alles wußte er ja nicht und fragte nicht danach.

Sie mußten jetzt in kleinen Speisewirtschaften essen, für wenige Pfennige zwischen Schmutz und Grobheit eine Kost, die er nicht vertrug. Er holte Tonka zu diesen Mahlzeiten ab, pünktlich, in Erfüllung einer Pflicht. Er machte eine sonderbare Figur in seinen vornehmen Kleidern zwischen den Gehilfen und Geschäftsdienern, ernst, schweigsam, treu zur Seite seiner schwangeren Gefährtin und unzertrennlich. Viele spöttische Blicke flogen ihm zu, und manche anerkennende, die nicht weniger brannten. Es war ein seltsames Wandeln, mit seiner Erfindung im Kopf und der Überzeugung von Tonkas Untreue, zwischen dem groben Menschenschotter der Großstadt. Er hatte noch nie so stark wie jetzt die Gemeinbürgschaft der Welt empfunden; wo er nur über Straßen ging, jagte und jappte es wie eine Meute lärmender Hunde; jeder voll Einzelgier, aber doch alle ein Rudel, und bloß er hatte keinen, den er um Unterstützung bitten oder dem er auch nur sein Schicksal hätte erzählen können; er hatte nie Zeit für Freunde gehabt, wohl auch keinen Geschmack an ihnen oder keinen Reiz für sie: er war belastet von seinen Ideen, und das ist ein lebensgefährliches Gewicht, solange die Menschen noch nicht ausgespürt haben, daß sie ihre Vorteile daraus münzen können. Er wußte nicht einmal eine Richtung, in der er nach Hilfe hätte suchen können; er war fremd. Und wer war Tonka? Geist von seinem Geiste? Nein, in zeichenhafter Übereinstimmung war sie ein fremdes Geschöpf mit seinem verhohlenen Geheimnis, das sich ihm zugesellt hatte!

Ein kleiner Spalt mit fernem Schimmer war offen, seine Gedanken begannen die Richtung hin zu nehmen. Er arbeitete an einer Erfindung, deren Bedeutung schließlich auch für die andern groß sein würde, und da war es sicher, daß außer dem Denken noch etwas dabei war, ein Mut, eine Zuversicht und Ahnung, die nie trogen, ein gesunder Lebenssinn, der ein Stern war, dem er folgte. Da ging auch er nur den größeren Wahrscheinlichkeiten nach, und stets fand sich bei einer von ihnen das Rechte; er vertraute, alles wird schon so sein, wie es immer ist, um auf das eine zu kommen, dessen Anderssein er entdecken wollte, und hätte er jeden möglichen Zweifel so prüfen wollen, wie er mit Tonka tat, so wäre er niemals zum Ende gekommen: Denken heißt, nicht zuviel denken, und ohne etwas Verzicht auf das Grenzenlose der Erfindungsgabe läßt sich keine Erfindung machen. Diese eine Hälfte seines Lebens schien unter dem Stern zu stehen, der unbeweisbares Glück oder ein Geheimnis war. Und die andere war unerleuchtet. Er spielte jetzt mit Tonka in der Pferdelotterie. Die Ziehungsliste erschien, er hatte Tonka erwartet, unterwegs wollten sie das Verzeichnis kaufen und lesen. Es handelte sich um eine elende Pferdelotterie mit einem Haupttreffer von wenigen tausend Mark; aber das machte nichts, er hätte für die nächste Zukunft sorgen können. Und wenn es nur ein paar hundert Mark gewesen wären, so hätte er Tonka das Nötigste an Kleidern und Wäsche kaufen oder sie aus ihrer ungesunden Mansarde befreien können. Und wären es nur zwanzig Mark gewesen, so würde das eine Ermunterung sein, und er hätte neue Lose gekauft. Ja selbst wenn sie nur fünf Mark gewonnen hätten, so wäre dies ein Zeichen gewesen, daß der Versuch, wieder Anschluß an das Leben zu gewinnen, in unbekannten Gegenden wohlgelitten war.

Aber alle drei Lose waren Nieten. Natürlich hatte er sie da nur zum Scherz gekauft, und schon als er auf Tonka wartete, war eine Leere in ihm, die einen Fehlschlag ankündigte; aber wahrscheinlich hatte er doch zwischen Wünschen und Hoffnungslosigkeit geschwankt, oder geschah es, weil selbst zwanzig Pfennige für eine nutzlose Liste in seinem Zustand einen Verlust bedeuteten: er empfand plötzlich, daß es eine unsichtbare Macht gab, die ihm übel wollte, und fühlte sich von Feindseligkeit umgeben.

Er wurde in der Folge recht abergläubisch; der Mensch in ihm, der abends Tonka abholte, wurde es, während der andere wie ein Gelehrter arbeitete. Er besaß zwei Ringe, die er aber nur abwechselnd trug. Beide waren kostbar, aber der eine war edel und alt, während der andere ein Geschenk seiner Eltern war, das er nie sehr in Ehren gehalten hatte. Da bemerkte er, daß er an den Tagen, wo er den neuen Ring trug, der nichts als ein teurer Allerweltsring war, vor neuen Verschlimmerungen seiner Lage eher bewahrt blieb als an den Tagen, wo er den edlen trug, und von da an traute er sich nicht mehr, diesen an den Finger zu stecken, sondern trug den andern wie ein auferlegtes Joch. Auch als er sich eines Tages zufällig nicht rasierte, hatte er Glück; als er es am nächsten Tage tat, obgleich ihn die Beobachtung gewarnt hatte, strafte ein neues seiner kleinen niedrigen Unglücke – die nur in seiner Lage Unglück statt Lächerlichkeit waren – den Verstoß: von da an konnte er sich nicht entschließen, seinem Bart etwas zu tun; er wuchs, wurde bloß sorgfältig spitz geschnitten, und er trug ihn während aller traurigen Wochen, die noch kamen. Dieser Bart entstellte ihn, aber er war wie Tonka: je häßlicher, desto ängstlicher behütet. Vielleicht wurde sein Gefühl für sie desto zärtlicher, je tiefer es enttäuscht war, denn es war innerlich ein so guter Bart, weil er äußerlich so häßlich war. Tonka mochte den Bart nicht und verstand ihn nicht. Er hätte ohne sie gar nicht gewußt, wie häßlich dieser Bart war, denn man weiß von sich so wenig, wenn man nicht andere hat, in denen man sich spiegelt. Und da man nichts weiß, wünschte er Tonka vielleicht zuweilen tot, damit dieses unerträgliche Leben ein Ende finde, und mochte den Bart bloß deshalb, weil er alles verstellte und verbarg.

IX

Zuweilen überfiel er sie noch immer aus dem Hinterhalt mit einer geheuchelt arglosen Frage, auf deren glattem Klang ihre Vorsicht ausgleiten sollte. Häufiger aber überfiel es ihn. «Es ist ja ganz unsinnig, die Tatsache zu leugnen, also sag mir nur, damit wieder Aufrichtigkeit zwischen uns ist, wie konnte es geschehen?» fragte er einflüsternd. Aber sie hatte immer die eine Antwort: schick mich fort, wenn du mir nicht glauben willst; und das war gewiß ein Mißbrauch ihrer Schutzlosigkeit, aber es war ebenso gewiß auch die allerwahrste Antwort, denn mit medizinischen und philosophischen Gründen konnte sie sich nicht verteidigen und vermochte für die Wahrheit ihrer Worte nur mit der Wahrheit ihrer Person einzustehn.

Dann begleitete er sie bei ihren Ausgängen, weil er sich nicht traute, sie allein zu lassen; er fürchtete nicht etwas Bestimmtes, aber es beunruhigte ihn, sie allein in den weiten, fremden Straßen zu wissen. Und wenn er sie abends irgendwo abholte, und sie gingen, und im Halbdunkel begegnete ihnen ein Mann, der nicht grüßte, so kam es vor, daß er bekannt erschien, und Tonka wurde scheinbar rot, und mit einemmal war die Erinnerung da, daß sie sich früher einmal bei irgendeiner Gelegenheit in seiner Gesellschaft befunden hatten, und zugleich war auch – mit der gleichen Gewißheit, wie sie Tonkas unschuldigem Gesicht zukam – die Überzeugung da: dieser war es! Einmal schien es ein wohlhabender Volontär aus einem Exportgeschäft zu sein, den sie flüchtig gekannt hatten, und ein andermal ein Tenor aus einem Chantant, der die Stimme verloren hatte und bei der gleichen Wirtin wohnte wie Tonka. Stets waren es solche lächerlich ferne Gestalten, die wie ein verschnürtes schmutziges Paket in die Erinnerung geworfen wurden, das die Wahrheit enthielt und beim ersten Versuch es aufzuschnüren nichts als den Staubhaufen quälender Ohnmacht hinterließ.

Diese Gewißheiten über Tonkas Untreue hatten etwas von Träumen. Tonka ertrug sie mit ihrer rührenden, wortlos zärtlichen Demut: aber was konnte diese nicht alles bedeuten!? Und wenn man dann alle Erinnerungen durchging, wie waren alle zweideutig! Die einfache Art zum Beispiel, wie sie ihm zugelaufen war, konnte Gleichgültigkeit sein oder Sicherheit des Herzens. Wie sie ihm diente, war Trägheit oder Seligkeit. War sie anhänglich wie ein Hund, so mochte sie auch jedem Herrn folgen wie ein Hund! Das hatte er doch gleich in jener ersten Nacht empfunden, und war es auch ihre erste Nacht? Er hatte nur auf die seelischen Zeichen geachtet und keinesfalls waren die körperlichen sehr merklich gewesen. Jetzt war es zu spät. Ihr Schweigen war jetzt über alles gebreitet und vermochte Unschuld oder Verstocktheit zu sein, ebensogut List und Leid, Reue, Angst; aber auch Scham für ihn. Doch hätte es ihm nicht geholfen, wenn er auch alles noch einmal hätte erleben können. Mißtraue einem Menschen, und die deutlichsten Anzeichen der Treue werden geradezu Zeichen der Untreue sein, traue ihm, und handgreifliche Beweise der Untreue werden zu Zeichen einer verkannten, wie ein von den Erwachsenen ausgesperrtes Kind weinenden Treue. Es war nichts für sich zu deuten, eines hing von dem andern ab, man mußte dem Ganzen trauen oder mißtrauen, es lieben oder für Trug halten, und Tonka kennen, hieß in einer bestimmten Weise auf sie antworten müssen, ihr entgegenrufen, wer sie sei; es hing fast nur von ihm ab, was sie war. Tonka verwirrte sich dann sanft blendend wie ein Märchen.

 

Und er schrieb an seine Mutter: Ihre Beine sind vom Boden bis zu den Knien so lang wie von den Knien nach oben, und überhaupt sind sie lang und können gehen wie Zwillinge, ohne zu ermüden. Ihre Haut ist nicht fein, aber sie ist weiß und ohne Makel. Ihre Brüste sind fast ein wenig zu schwer, und unter den Armen trägt sie dunkle, zottige Haare; das sieht an dem schlanken, weißen Körper lieblich zum Schämen aus. An den Ohren hängt ihr Haar in Strähnen herab, und zuweilen glaubt sie es brennen und hoch frisieren zu müssen; dann sieht sie wie ein Dienstmädchen aus, und das ist gewiß das einzig Böse, was sie in ihrem Leben getan hat …

Oder er antwortete seiner Mutter: Zwischen Ancona und Fiume oder wohl auch zwischen Middelkerke und einer unbekannten Stadt steht ein Leuchtturm, dessen Licht allnächtlich wie ein Fächerschlag übers Meer blinkt; wie ein Fächerschlag, und dann ist nichts, und dann ist wieder etwas. Und im Vennatal auf den Wiesen steht Edelweiß.

Ist das Geographie oder Botanik oder Nautik? Das ist ein Gesicht, das ist etwas, das da ist, einzig und allein und ewig da ist, und deshalb gleichsam nicht da ist. Oder was ist das?

Er schickte diese unsinnigen Antworten natürlich niemals ab.

X

Etwas Ungreifbares fehlte, um die Überzeugung zur Überzeugung zu machen.

Er war einmal nachts mit der Mutter und Hyazinth gereist, und so um zwei Uhr, in der rücksichtslosen Müdigkeit, wenn die Körper im Eisenbahnzug schwanken und nach Unterstützung suchen, schien es ihm, daß seine Mutter sich an Hyazinth lehnte, voll Einverständnis, und Hyazinth faßte ihre Hand. Seine Augen waren weit geworden vom Zorn damals, denn sein Vater tat ihm leid; aber als er sich vorbeugte, saß Hyazinth allein und seine Mutter hatte den Kopf zu der von ihm abgewandten Seite geneigt. Und nach einer Weile, als er sich wieder zurückgelehnt hatte, wiederholte sich das Ganze. So groß war die durch das ungenaue Sehen hervorgerufene Qual oder so ungenau durch die Qual in der Dunkelheit das Sehen. Er sagte sich schließlich, daß er nun doch überzeugt sei, und nahm sich vor, seine Mutter am Morgen zur Rede zu stellen; aber als der Tag schien, war das verflogen wie die Dunkelheit. Und ein anderes Mal war die Mutter auf einer Reise unwohl geworden, und Hyazinth, der an ihrer Statt dem Vater schreiben mußte, fragte unlustig: was soll ich denn schreiben? – er, welcher der Mutter bogenlange Episteln bei jeder Trennung schrieb! –: da gab es Zank, denn der Junge war wieder böse geworden, das Unwohlsein seiner Mutter verschlimmerte sich, schien gefährlich zu werden, man mußte helfen, Hyazinths Hände kreuzten dabei immerzu die Wege der seinen, und immerzu stieß er sie weg. Solange, bis Hyazinth fast traurig fragte: «Warum stößt du mich denn fortwährend weg?» Da war er über den Ton des Unglücks in dieser Stimme erschrocken. So wenig weiß man, was man weiß, und will man, was man will.

Das kann man begreifen; jedoch er vermochte in seinem Zimmer zu sitzen, von Eifersucht gequält zu sein und sich zu sagen, daß er gar nicht eifersüchtig war, sondern etwas anderes, Entlegenes, merkwürdig Erfundenes; er, dessen eigene Gefühle das waren. Wenn er aufsah, fehlte nichts. Die Tapete des Zimmers war grün und grau. Die Türen waren rötlich braun und voll still spiegelnder Lichter. Die Angeln der Türen waren dunkel und aus Kupfer. Ein weinroter Samtstuhl stand im Zimmer und hatte eine braune Mahagonirahmung. Aber alle diese Dinge hatten etwas Schiefes, Vornübergeneigtes, fast Fallendes in ihrer Aufrechtheit, sie erschienen ihm unendlich und sinnlos. Er drückte seine Augen, sah umher, aber es waren nicht die Augen. Es waren die Dinge. Von ihnen galt, daß der Glaube an sie früher da sein mußte als sie selbst; wenn man die Welt nicht mit den Augen der Welt ansieht und sie schon im Blick hat, so zerfällt sie in sinnlose Einzelheiten, die so traurig getrennt voneinander leben wie die Sterne in der Nacht. Er brauchte nur zum Fenster hinauszusehen, so schob sich plötzlich in die Welt eines unten wartenden Droschkenkutschers die eines vorübergehenden Beamten und es entstand etwas Aufgeschnittenes, ein ekelhaftes Durcheinander, Ineinander und Nebeneinander auf der Straße, ein Wirrwarr von bahnenziehenden Mittelpunkten, um deren jeden ein Kreis von Weltgefallen und Selbstvertrauen lag, und das alles waren Hilfen, um aufrecht durch eine Welt zu gehen, der das Oben und Unten fehlte. Wollen, Wissen und Fühlen sind wie ein Knäuel verschlungen; man merkt es erst, wenn man das Fadenende verliert; aber vielleicht kann man anders durch die Welt gehen als am Faden der Wahrheit? In solchen Augenblicken, wo ihn von allen ein Firnis der Kälte trennte, war Tonka mehr als ein Mädchen, da war sie fast eine Sendung.

Er sagte sich: entweder muß ich Tonka zur Frau nehmen oder sie und diese Gedanken verlassen.

Aber niemand wird es ihm übelnehmen, daß er aus solchen Gründen weder das eine noch das andere tat. Denn alle solche Gedanken oder Eindrücke mögen ja ihre Berechtigung haben, doch zweifelt heute niemand, daß sie zur Hälfte nur Gespinst sind. Also dachte er sie und dachte sie nicht ganz ernst. Er kam sich wohl manchmal wie geprüft vor, aber wenn er erwachte und zu sich wieder wie zu einem Manne sprach, mußte er sich sagen, daß solche Prüfung doch nur in der Frage bestand, ob er gegen die neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit, daß er betrogen worden und ein Dummkopf sei, gewaltsam am Tonka glauben wolle. Allerdings hatte diese beschämende Möglichkeit schon viel von ihrer Wichtigkeit verloren.

XI

Es war merkwürdigerweise eine Zeit großer wissenschaftlicher Erfolge für ihn. Er hatte seine Aufgabe in den Hauptzügen gelöst und bald mußten sich auch die Folgen zeigen. Schon fanden Menschen zu ihm den Weg. Sie brachten ihm Herzenssicherheit, wenn sie auch von Chemie sprachen. Sie glaubten alle an die Wahrscheinlichkeit seines Erfolges; neunundneunzig Prozent betrug sie schon! Und er betäubte sich mit Arbeit.

Aber während seine bürgerliche Person sich festigte und gleichsam in einen Reifezustand der Weltlichkeit eintrat, liefen seine Gedanken, sobald er von der Arbeit abließ, nicht mehr in festen Bahnen, sondern es brauchte in ihm bloß Tonkas Dasein anzuklingen, und ein Leben von Figuren begann, die einander ablösten, ohne ihren Sinn zu verraten, wie Unbekannte, die sich täglich auf dem gleichen Wege begegnen. Da war der Kommis-Tenor, den er einmal im Verdacht der Untreue gehabt hatte, und alle, an die sich je eine Gewißheit knüpfte. Sie taten nicht viel, sie waren bloß da; oder wenn sie selbst das Fürchterlichste taten, bedeutete es nicht viel; und weil sie manchmal zwei oder noch mehr in einer Person waren, konnte man gar nicht einfach eifersüchtig sein, sondern es wurden diese Geschehnisse so durchsichtig wie klarste Luft und noch klarer bis zu einer jeder Selbstsucht ledigen Freiheit und Leere, unter deren unbeweglichen Kuppel die Zufälle des Weltlebens sich winzig abspielten. Und oft wurden das Träume oder vielleicht waren es ursprünglich Träume gewesen, über deren blasse Schattenwelt er unmittelbar aufstieg, wenn die Schwere der Arbeit sich löste, als sollte er gewarnt sein, daß diese Arbeit nicht sein eigentliches Leben war.