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Robert Mirco Tollkien

Papierrolle und Gedankenskateboard

Ausgewählte Kurzgeschichten Band III

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der letzte Blick hinab

Vor Angst im Tode erstarrt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Die Zauberflöte

Die Formeln meines Freundes

Kirschenzeit

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Die Dimensionen des Türstoppers

Kapitel 1

Kapitel 2

Die Ranke der schwarzen Pflanze

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Impressum neobooks

Der letzte Blick hinab

Von der höchsten Erhebung der Umgebung blickte das wunderschöne Geschöpf mit den schwarzen Flügeln nach einer langen Reise hinab auf das sich in der Unendlichkeit verlierende Paradies. Gleich goldenen Säulen fiel das Licht der Sonne auf tiefes, gesundes Grün dort unten, welches von den blauen Adern dreier Flüsse in geschlängelten Linien durchzogen wurde. Auf der hohen schwarzen Felsspitze assoziierte der Reisende das Attribut geschlängelt mit dessen Herkunftsnomen Schlange, worauf sich ein Grinsen auf dem schönen Gesicht ausbreitete. Manchmal überstieg die natürlich entstehende Ironie die erdachte um gewaltige Potenz.

Das Geschöpf dachte an seine Milliarden Lichtjahre anhaltende Reise zurück, die ihn doch nur kurze Momente gekostet hatte, da seine Schwingen die Fähigkeit besaßen, Raum und Zeit zu deformieren, zu verschieben, zu krümmen.

Es konnte seinen Blick einfach nicht von dem Zauber zu seinen Füßen lassen. Der Anblick dieser Pracht vertrieb dar die gar heftigen Selbstzweifel, welche ihn unablässig plagten, für eine Weile. Doch der Dämon kehrte rasch zurück, um ihn wie einen unbeliebten, alten Bekannten heimzusuchen, der sich einfach nicht abschütteln ließ.

Werde ich die gar heilige Aufgabe erfüllen? Nein! Das wirst du nicht! Erinnere dich an dein Lebenswerk, das du bis ins kleinste Detail geplant hattest und das bereits in der Anrollphase wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen ist! Erinnere dich an den Aufstand, der bereits in der Frühphase niedergeschlagen wurde! Dein Lebenswerk! Das bist du! Ein kläglicher Versager!

Doch! Natürlich werde ich das schaffen! Ich bin noch immer die Krone SEINER Schöpfung! Selbst deine ärgsten Feinde werden nicht müde, deine Intelligenz zu betonen! Du wirst es doch wohl schaffen, dieses Menschenkind hinters Licht im wahrsten Sinne des Wortes zu führen!

Ja, klar! Aber…

Das Geschöpf schüttelte diese lästigen Gedanken ab, blendete sie aus, verdrängte, was nicht leichtfiel, da er die Verantwortung für die gesamte Operation allein trug. Sie war sozusagen sein Kind und nicht von minderer Wichtigkeit, als es jener gescheiterte Plan vor so vielen Zeitaltern gewesen war. Nun gab es kein Zurück mehr.

Für einen kurzen Moment flimmerte die Luft um ihn herum, verzerrte sich die bewaldete Szenerie hinter dem Vorsprung der Hügelspitze zu einem seltsamen Gemisch, verschwand das hübsche Wesen zu einem dunklen Klecks, bevor alles erklarte und eine schwarz-grün gescheckte Schlange sich dort befand, wo er zuvor gewesen war. Das Tier besaß gigantische Ausmaße für eine solche Gattung und eine gewisse Schönheit konnte man ihm wohl nicht absprechen, wie es dort, Halse und Kopfe aufgerichtet, noch kurz verweilte, einen letzten Blick hinab ins Paradies zu werfen.

Nachdem die Schlange ein paar Mal hörbar laut aus- und eingeatmet hatte, setzte sie sich im goldenen Sonnenlichte in Bewegung, aber in der Ferne zogen bereits finstere Wolken auf.

So kroch der Satan fort in Richtung Edens Garten, zu verführen die erste Menschenfrau, auf dass Gottes liebste Kinder das Paradies auf ewig verlören.

Vor Angst im Tode erstarrt

Eine Kurzgeschichte in fünf Akten

Kapitel 1

Der März war sehr warm und dazu extrem regnerisch. Auf die kleine, beschauliche Stadt im Mittelgebirge gingen Unmengen an Regen nieder, während in den Ebenen und Tälern die Ströme über die Ufer traten. Wenn die Wolkendecke denn einmal aufriss, schien eine für die Jahreszeit ungemein kräftige Sonne vom Himmel und auf die Stadt herab, so dass deren Einwohner in T-Shirts zu flanieren begannen.

Eines nachts in der Mitte des Monats gab es in der Region bei vielen Computern und Geräten, welche solche in sich bargen, Störungen und Abstürze.

Kurze Zeit darauf fing Fabrikantensohn Sven Gellert an durchzudrehen. Er verlor seinen kompletten Verstand, brabbelte wirres Zeug von seltsamen Apparaturen, finsteren Tempeln, schrecklichen Göttern und der Geburt vor sich hin, wobei er durch die Straßen seiner Heimatstadt zog, ob es nun regnete oder die Sonne schien.

Die Unternehmerdynastie der Gellerts lebte seit der Industrialisierung in einer prächtigen Villa vor den Toren der Stadt. Das aktuelle Familienoberhaupt, Vater Hermann Gellert höchstpersönlich, ließ seinen ältesten Sohn in eine private Nervenklinik einweisen. Nachdem er etwa zwölf Wochen dort verbracht hatte, kehrte Sven nach Hause zurück. Keine fünf Tage später fand eine Spaziergängerin seinen leblosen Körper unter einer alten Eisenbahnbrücke. Sven baumelte von der Trägerkonstruktion hinab. Um seinem Hals saß ein Strick. Der arme, reiche Sohn war durch Freitod aus diesem Leben geschieden.

Mir fiel in den Tagen und Wochen danach die besondere Kühle seines Bruders auf, mit dem zusammen ich den örtlichen Schachverein angehörte. Er zeigte nicht den leisesten Hauch von Trauer und das Einzige, was er über den Verstorbenen sprach, waren folgende Worte zum Schatzmeister: „Sven wollte ja nicht aufhören mit diesen Chemodrogen. Die hat er aus der großen Stadt von seinem Studium mitgebracht und die haben ihn am Ende Verstand und Leben gekostet.“

Er sprach diese Worte in strenger Kälte und ohne jede Form von Empathie aus.

Kapitel 2

Wir schrieben einen gnadenlosen Sommer. Gleich einer glühenden Glocke lag die Hitze über dem Land und der Regen des frühen Frühlings schien eine jahrhundertealte Legende zu sein.

In der beschaulichen Fußgängerzone saßen Einheimische und Touristen an den Tischen der Kneipen, Cafes und Restaurants, welche die Gastronomen unter freiem Himmel aufgestellt hatten.

An einem dieser Tische traf ich Martin Zimmer. Zimmer war ein guter Klassenkamerad während der Grundschulzeit gewesen und bis zu meinem fünfunddreißigsten Lebensjahr hatten wir zusammen im Altherrenverein unseres Heimatstadtteils Fußball gespielt. Heute und seit über zwanzig Jahren arbeitete er in der Kfz-Werkstatt seines Vaters, welche er mittlerweile alleine führte. Wenn wir uns über den Weg liefen, pflegten wir stets mehr als den üblichen Smalltalk miteinander zu führen. So geschah es auch heute. Ich wusste, dass Martin eine gute Freundschaft mit Sven Gellert verbunden hatte, und so kondolierte ich ihm, berichtete zusätzlich über die Kälte von Svens Bruder im örtlichen Schachverein und dessen Worte.

Während Zimmer der Erzählung lauschte, nahm sein kantiges Gesicht immer wütendere Formen an.

„Was erzählt dieser Unsympath da bloß für dreiste Lügengeschichten! Sven hat nie was Härteres als Gras zu sich genommen und auch das nur selten, weil ihm in der Regel von Tabakrauch schlecht wurde. Ich habe schon gemerkt, dass er plötzlich nervlich mehr als nur durch gewesen ist, dass er professionelle Hilfe braucht und das habe ich ihm auch ehrlich gesagt und dann hat er mir auch die Gründe für seinen traurigen Zustand genannt.“

 

Empört klangen seine Worte und er hielt sich mit beiden Händen an seinem Weizenglas fest, als könne dieser Griff die Wut auf den kalten Bruder lindern.

„Was hat er denn gesagt?“, fragte ich eher beiläufig und schaute auf das Display meines Smartphones.

„Das ist eigentlich zu abgedreht, um wahr zu sein. Dennoch glaube ich, dass Sven es für wahr gehalten hat und auch deswegen durchgeknallt ist. Es hat aber nichts mit Drogen zu tun, sondern wahrscheinlich eher damit, dass die Familie Sven keine Liebe gegeben hat, weil er eben kein kaltes, raffgieriges Arschloch wie der Rest seiner Sippe ist! Das ganze jahrelange Runterputzen durch seine Eltern und den Bruder haben ihm den Verstand geraubt!“

Nun sprach er leise und mehr zu seinem Bierglas wie zu mir. Doch gerade dadurch wurde mein Interesse geweckt, denn von Kindesbeinen an mochte ich abgedrehte Geschichten.

„Dann sag` an! Ich mag abgedrehte Geschichten.“, lautete daher meine Forderung.

„Weißt du noch, wie wir damals in dem alten Garten von Opa Schröder mit Knallern im Hochsommer geböllert haben und dadurch die Grill- und Partyhütte von Opa Schröder abgebrannt ist!“, stellte er mehr fest, als dass er fragte. „Wir haben uns damals das feierliche Han Solo-Ehrenwort gegeben, niemals mit einem anderen Menschen außer uns darüber zu reden. Bis heute weiß keine Seele, dass wir es gewesen sind. Wenn du mir auch diesmal dein Ehrenwort gibst, erzähl ich es dir. Aber: Es ist wirklich widerwärtig abgedreht!“

Mein Interesse war nun gänzlich geweckt.

„Ich gebe dir mein Han Solo-Ehrenwort, dass ich niemanden auch nur ein Sterbenswort verrate!“

Meine Worte wählte ich nicht nur meiner Neugier wegen, sondern auch, weil es in der Luft greifbar war, dass es Martin verlangte, über den schrägen Sven zu reden, wahrscheinlich auch, um sich selbst ein wenig zu entlasten. Mit etwas neutraleren Leuten sprach es sich eben manchmal leichter als mit engen Freunden, Bekannten oder Verwandten.

„Sven hat mir erzählt, dass seine Familie seit Jahrhunderten Mitglied einer seltsamen, geheimen Bruderschaft ist. Der Vater soll da sogar ein richtig hohes Tier sein, so eine Art Priester. Sven hat mir von unheimlichen Ritualen erzählt, die in versteckten Tempeln unter der Erde von seiner Familie und anderen Mitgliedern des uralten Geheimbundes abgehalten werden.“, berichtete Martin und blickte mal zu mir, mal gedankenverloren in die einbrechende Dämmerung der Fußgängerzone hinein.

„Die Familie Gellert sind also allesamt Satanisten?“, fragte ich, der von dieser Thematik so überhaupt keine Ahnung hatte. Ich wusste nicht einmal richtig über das Christentum Bescheid, wusste nur, dass die Römer Jesus ans Kreuz geschlagen hatten und er danach irgendwann von den Toten auferstanden war. Aber all das lag lang, lang zurück, wenn es überhaupt jemals so stattgefunden hatte. Und einen Satan, der finster lächelnd in der Hölle unter der Erde hockte, gab es ganz sicher nicht. Menschen, die an solche Dinge glaubten, konnte man nur als Spinner bezeichnen. Ich nahm einen tiefen Schluck von meinem Bitburger.

„Das hat sich für mich nicht so angehört. Sven hat erzählt, dass die so eine Kreatur aus Pyramidenstücken anbeten und dazu noch eine Art Felsen mit Tentakeln und Kugeln oder so am Körper. Ich glaube kaum, dass das der Satan ist. Und die Geschichte, die er mir erzählt hat, wurde immer schlimmer.“

„Die haben diesen komischen Figuren Menschen und Tiere geopfert.“, spann ich Erzählung weiter, weil Martin zu seiner eckigen E-Zigarette griff und kurz darauf den gesamten Tisch in süßlichen Qualm hüllte.

„Das auch. Die haben nicht nur Menschen diesen Monstern geopfert, sondern sie auch heraufbeschwört.“, fuhr Zimmer schließlich fort und drehte dabei den kleinen Verdampfer in der Hand. „Und von Kindesbeinen an musste Sven all das mit ansehen, weil das eben bei denen Familientradition ist. Sein Bruder geht auf diesen Zirkus wohl voll ab, aber Sven kam da niemals drauf klar. Deshalb hat er auch seit Jahren Antidepressiva und Stimmungsaufheller verschrieben bekommen. Sonst hätte er das schon lange nicht mehr ausgehalten und reden konnte er ja auch mit niemanden darüber.“

Der Kellner kam und wir gaben eine neue Runde in Auftrag.

„` ist schon ganz schön schräg. Der arme Kerl muss wirklich ganz schön durchgeknallt sein.“, merkte ich an. „Vielleicht haben all die Psychopharmaka auch ihren Teil zum Durchdrehen beigetragen.“

„Pass auf, mein Bester! Das richtig Durchgeknallte an der Geschichte kommt erst noch. Sven hat mir erzählt, dass in einem geheimen, unterirdischen Labor sein Vater zusammen mit einem Wissenschaftler von einer anderen Welt, der wie eine menschliche Kakerlake ausgesehen hat, eine Kreatur erschaffen hat, deren Anblick alleine ausreicht, um einen normalen Menschen in den Wahnsinn zu treiben oder gar umzubringen. Der Mensch bekommt beim Anblick dieser Kreatur einen großen Angstanfall, so dass diese Angst den Menschen endlich tötet. Sven hat aber nur einen Knacks bekommen, weil er schreckliche Dinge von seiner Familie gewohnt ist. Nur wer wirklich durch und durch stark und innerlich verdorben ist, übersteht den Anblick dieser Kreatur schadlos. Deshalb haben die Gellerts es entwickelt; um die Starken von den Schwachen und die Bösen von den Guten zu trennen. Um die Guten und die Schwachen auszuschalten, damit das Böse auf Erden rasch die Macht übernehmen kann.“

„Du meine Güte!“, rief ich es beinahe laut aus, als der Kellner kam, um Getränke zu servieren. „Da fällt einem echt nichts zu ein. Hat er dir auch gesagt, wo dieses Monstrum sich nun seine Zeit vertreibt?“

Als der junge Mann mit geübter Geste das neue Bier auf der Tischplatte abstellte und die leeren Gläser von dort aufnahm, klirrten diese leicht aneinander. Rasch zog der Kellner wieder von dannen, das hohe Arbeitspensum dieses Abends zu erfüllen.

„Du wirst“, fuhr Martin fort und versuchte dabei möglichst leise zu sein, damit die fröhliche Truppe am Nachbartisch möglichst wenig von dieser bizarren Geschichte mitbekam, „es nicht glauben, aber dazu hat Sven tatsächlich etwas erzählt. Kennst du die Bank noch oberhalb des alten Steinbruchs, da wo wir als Kinder immer geruht haben, wenn wir den Steinbruch hochgeklettert sind?“

„Na, klar! Da bin ich letztens noch vorbeispaziert.“

Ich nahm einen großen Schluck Bier und verspürte das Verlangen nach einer selbstgedrehten Zigarette, welches immer ab dem dritten großen Pils auftrat. Unglücklicherweise war gar nicht geplant gewesen, mehr als einen Humpen zu nehmen, so dass ich mit diesem Drang nun leben musste, da der Tabak daheim lag.

„Hinter der Bank im Wald sollen drei Steine, große Steine, liegen. Da laufen angeblich unter der Erde irgendwelche Feldströmungen zusammen. Und unter diesen Steinen ist das Monster von eben diesen Feldlinien gefangen. Man kann die Steine aber aus dem Weg räumen lassen und die Feldlinien wegmachen. Dann kommt das Monster wohl heraus. In einem von den Steinen befindet sich wohl eine Art Symbol. Wenn man die Formen davon achtmal mit dem Zeigefinger der rechten Hand gegen den Uhrzeigersinn nachzieht, verschwinden die Steine für den Moment, die Feldlinien lösen sich kurz auf und die Kreatur kommt frei. Wie das technisch ablaufen soll, wusste Sven dann aber auch nicht. Ach ja! Er hat auch gesagt, dass dieses Monster im Wald Spuren hinterlassen kann. Dort, wo unterirdische Gewässer und Quellen sich befinden, hinterlässt das Wesen auf weichen Böden dreieckige Fußabdrücke, die dort auf ewig bleiben. Wie bei den Astronauten auf dem Mond. Sven tat mir am Ende echt leid, Mann!“

Nachdem Martin diese Worte gesprochen hatte, sah er tatsächlich mitgenommen und innerlich bewegt aus, so dass ich beschloss, dass Thema in eine andere Richtung zu lenken. Außerdem langte es mir für heute mit Einblicken in die seelischen Abgründe eines verlorenen Menschen.

Noch etwa eine halbe Stunde redeten wir über die Kommerzialisierung des Fußballs und der Welt im Ganzen, bevor ein Jeder seines Weges ging.

Kapitel 3

Zwei Wochen später war Martin Zimmer tot. Eine Gruppe spielender Kinder fand ihn im Wald unweit jener Bank, über welche er mir im Außenbereich der Kneipe erzählt hatte.

Seine Leiche, so berichtete unser Lokalradio auf seiner Homepage, habe mitten auf einem Wanderpfad gelegen. Später schrieben die Mitarbeiter der Online-Redaktion, dass Martin beim Spazierengehen einen Herzanfall erlitten habe.

Schnell machten in der Kleinstadt Gerüchte die Runde, Martin Zimmer habe an einer versteckten Herzkrankheit gelitten. Er sei gar süchtig nach Medikamenten gewesen oder Opfer eines Schlaganfalls geworden.

Von diesen Ammenmärchen glaubte ich kein Wort. Für mich war Martin ein Breitensportler in Topform, der auch mit über vierzig auf dem Fußballplatz zehn Jahre jüngeren Herren einen Knoten in die Beine hatte spielen können.

Kapitel 4

Stets fand am zweiten Wochenende im August unser gemütliches Kleinstadtfest statt. In jenen drei Tagen wimmelte die Hauptstraße vor Fahrgeschäften, Imbisswagen, Bierbuden und Menschen, welche man irgendwie kannte und irgendwie einmal im Jahr auf dieser Kirmes traf; ich traf an einer Bierbude Thorsten Richter.

Richter hatte auf dem humanistischen Gymnasium am Rande der beschaulichen Innenstadt seine Reifeprüfung abgelegt, bevor auch ich dort zwei Jahre später erfolgreich gewesen war. Heute arbeitete Richter bei der hiesigen Kriminalpolizei. Bereits leicht angetrunken kam Thorsten an diesem Samstagabend mit mir ins Gespräch, welches sich bald um Martin drehte.

„Ich war natürlich am Ort des Todes gewesen. Der arme Kerl lag mit dem Rücken quer über dem Waldweg. Sein Gesicht sah ganz schlimm aus. Nicht, dass es entstellt war oder so, aber trotzdem war es schrecklich. Es sah aus, als ob der Kerl vor irgendetwas solchen Schiss gehabt hätte, dass ihm davon die Pumpe rausgeflogen wäre. Das Gesicht war sozusagen in Todesangst erstarrt. Es hat ausgesehen wie eine Maske aus einem Horrorfilm, Mann! Da gab es kaum noch was Menschliches dran; eine Maske der Furcht, ohne Gesichtszüge, ein Abdruck der puren Angst. Sowas habe ich in all meinen Jahren bei der Polizei nicht gesehen!“

In den späten Stunden dieses Tages saß ich auf meinem Sofa und fand einfach keine Ruhe. Im Fernsehen lief eine Dokumentation über die Weiten des Weltalls. Was mir eigentlich ein Hochgenuss war, vermochte in jenen Stunden meinen Geist und somit die Konzentration nicht zu fesseln. Der plötzliche Tod des alten Jugendfreundes hatte sich ohnehin schwer auf meine Seele gelegt und nun sah ich das von Thorsten erwähnte Gesicht ständig an meinem inneren Auge vorbeiziehen. Schwer fand ich in den nächsten Nächten Schlaf.

Die lokalen Medien berichteten zeitnah über zwei weitere Todesfälle in der Region, die denen Martins glichen. Eine Frau und ein Mann seien auf ähnliche Art und Weise beim Spazierengehen verstorben, ohne dass es Anzeichen auf eine Herzkreislauferkrankung gebe. Schon machte das Gerücht von einem seltsamen Virus die Runde.

Zudem war ein wegen Bankraubes und Drogendelikten inhaftierter Freigänger durchgedreht und hatte am Wochenende Mutter und Vater ermordet.

Es waren dies Schlagzeilen, die die friedliche Region niemals zuvor geschrieben hatte.

Kapitel 5

Es waren die ersten zehn Tage des Septembers, als es mich wieder einmal in den Wald hinauszog. Thorsten hatte an der Bierbude genau beschreiben, wo die Leichen gelegen hatte. Aus unerfindlichen Gründen ging ich dorthin.

Am Fundort fiel die Spätsommersonne durch die Baumkronen und sorgte für ein golden-schwarzes Spiel von Licht und Schatten auf dem Waldboden, während die Vögel dieses Lebensraumes hoch oben ein lebhaftes Lied sangen. Hier, in dieser Idylle, schien es unmöglich, dass Dinge wie ein plötzlicher Herztod und erstarrte Grimassen am Ende eines Lebens überhaupt existierten.

Ich machte meinen Weg hinauf zur besagten Bank. Sie stand oberhalb der Steinbruchkante hinter einem verrostenden Zaun und vor den Tiefen des Waldes. Hier war ich nicht nur mit Martin als Kind spielen gewesen, sondern hatte auch schöne Momente mit meiner ersten festen Freundin erlebt. Noch immer standen unsere Initialen in einem Herzen eingeschnitzt auf der Rückseite der Lehne, allerdings nagte der Zahn der Verwitterung nach all den Jahren gehörig an diesem Symbol immerwährender Liebe, die doch nur ein paar Monate gedauert hatte.

 

Nachdem ich eine Weile abwechselnd auf das Herz und in die Ferne geschaut hatte, führten mich meine Schritte in den wilden Wald hinein. Der Boden bestand aus dem Laub vieler Zeiten, morschen Ästen, grünen Pflanzen und kaum hörte man meine Schritte, die der Gesang der Vögel mühelos übertönte.

Als ich für eine Weile hin und her, kreuz und quer durch das Unterholz gewatet war, erreichte ich drei größere, graue Steine, die auf einer Art Miniaturlichtung lagen. Ihre eiförmige Gestalt wurde teilweise von Moos bedeckt und in mir reifte die These, dass sie bereits seit der letzten Eiszeit hier lagen. Dennoch, was man an den Schleifspuren auf dem Boden ausmachen konnte, waren sie in letzter Zeit verrückt, bewegt worden.

Ein beklemmendes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit, während ich um die Findlinge herumschlich. Dann tauchte das Symbol auf; Vertiefungen im Gestein, aber viel zu perfekt, um Gletscherspuren zu sein. Es zeigte einen Kreis, darin in Achteck, welches wiederum einen Punkt enthielt und dass seine Konturen und Strukturen frei von Moos und Dreck waren, zeigte nur zu deutlich, dass sie in letzter Zeit häufiger Berührungen durch Menschenhand ausgesetzt worden waren. Mein Herz begann laut zu schlagen. Dennoch verweilte mein Blick beinahe hypnotisch auf diesem Symbol, bevor er eher zufällig eine Absonderlichkeit des Waldbodens streifte. Nun gefror mir das Blut in den Adern. Es war dies der etwa dreißig Zentimeter Abdruck eines Geschöpfes, welches dreieckige Füße besitzen musste. Dass er besonders tief im Grund sich befand, ließ auf die enorme Größe und Schwere des Verursachers schließen. Vor dem spitzen Ende gab es fünf kleinere Löcher im Boden, die sicherlich von gebogenen Krallen herrührten und inmitten des Abdrucks lag ein kleines Knäuel, welches verworrenem Draht mit Fischschuppen darin glich.

Einige Meter von hier entfernt bergab entsprang der Blaubach, so dass es durchaus im Bereich des Möglichen lag, dass sich hier eine unterirdische Wasserader befand. Der Abdruck zeigte mit der Spitze in Richtung Waldweg und Bank.

Auf einmal kam es mir ungemein wichtig vor, rasch von diesem Ort zu verschwinden.

So eilte ich davon und kam endlich wieder an der Bank an, wo ich für eine Weile rastete, um meine aufgekratzten Gedanken zu ordnen.

Kann es sein! Kann es sein! Kann es sein! Martin ist hierhergekommen, um sich nach Svens Tod selbst ein Bild zu machen. Er findet die Steine, befingert die Symbole im Gestein und dann passiert tatsächlich etwas. Die Steine bewegen sich wie von Geisterhand zur Seite und die Kreatur, wie auch immer sie ausgesehen haben mag, steigt empor. Martin läuft davon. Aber die Kreatur verfolgt ihn, was man an dem Fußabdruck erkennen kann, der in Richtung Bank zeigt. Das Wesen macht ihm solche Angst dabei, dass er ein paar hundert Meter weiter zusammenbricht, weil ihn diese Angst schlicht und einfach umgebracht hat. Denn von dem bisschen Laufen kriegt ein trainierter Mann wie Martin keinen Herzanfall! Nie im Leben! Doch wenn das Geschöpf befreit wurde durch Martin, wo ist es jetzt? Keine Frage! Es ist nun frei und die zwei seltsamen Todesfälle in der Gegend gehen ebenfalls auf das Konto dieser Kreatur! Es ist kein Virus! Es ist diese Kreatur! Sie irrt durch die Region und erschreckt in den Wäldern Spaziergänger zu Tode! Und der Kerl, der seinen Vater und seine Mutter umgebracht hat, ist dem Geschöpf begegnet, und er hat überlebt, weil er von Natur aus böse ist. Der Anblick der Kreatur hat seine Bösartigkeit wohl noch gesteigert. Er ist deswegen vom Dealer und Bankräuber zum Mörder geworden und hat seine Eltern mit dem Hammer erschlagen! Kann es sein! Kann es sein! Kann es sein! Und was ist mir der Anzeige, dem Artikel im Google Feed, die ich vorhin überflogen habe! Jetzt wird mir einiges klar!

Ich griff zu meinem Smartphone, ließ die Finger ein paar Mal über das Display fliegen und las.

Verwirrter Mann in Weißhorst aufgegriffen

In Weißhorst fiel Passanten ein Mann auf, der orientierungslos und wirres Zeug rufend im Bereich des Busbahnhofes umherirrte.

Hilfsbereite Mitmenschen sprachen die betreffende Person an, doch diese schien kaum aufnahmefähig, so dass eine Frau endlich die Polizei rief. Diese ging sehr behutsam nach dem Eintreffen vor und es gelang den Beamten endlich, ein leichtes Gespräch herzustellen und die Daten des Hilflosen aufzunehmen. Es handelte sich um den 47jährigen Walter P. aus dem dreißig Kilometer entfernten Biberbach. Auf die Frage, wie er nach Weißhorst gekommen sei, antwortete P. voller Überzeugung, dass er auf der Flucht vor einem Monster sich befände. Dieses Monster habe den Kopf einer Gottesanbeterin, den Körper einer Portugiesischen Galeere und insektenartige Beine voller Fischschuppen gehabt. Die Füße allerdings seien dreieckig gewesen und hätten aus Metall bestanden.

Weil der Mann aus Biberbach offensichtlich von seinen Worten überzeugt war, veranlassten die Polizisten die Einweisung in eine psychiatrische Klinik.