Buch lesen: «Die Kunst und Philosophie der Osteopathie»

Schriftart:

Die Kunst und Philosophie der Osteopathie

Am ruhenden Punkt der kreisenden Welt

Robert Lever, DO

Mit einem Vorwort von

Paul Lee DO, FAAO, FCA


Über den Autor

Robert Lever ist ein weithin respektierter Osteopath mit über 40 Jahren Berufserfahrung im Bereich hoslitischer Medizin. Er ist zudem als begnadeter und empathischer Lehrer bekannt, der allergrößten Wert darauf legt, seinen Studenten das Wissen über die Hintergründe der Wissenschaft und Philosophie der Osteopathie zu vermitteln, da er dies als essenziell für die Wirksamkeit der osteopathischen Behandlung ansieht. Über viele Jahre hinweg unterrichtete er die Prinzipien der osteopathischen Praxis an der European School of Osteopathy, Maidstone, UK. Sie verlieh ihm die Auszeichnung Medal of Honour für seine Verdienste um die osteopathische Ausbildung.

Impressum

At the Still Point of the Turning World - The Art and Philosophy of Osteopathy

© 2013, Handspring Publishing Limited. All rights reserved.

The Old Manse, Fountainhall, Pencaitland, EH34 5EY, UK.

ISBN 978-1-909141-05-6 (B) - ISBN 978-1-909141-06-3 (kartoniert)

Die Kunst und Philosophie der Osteopathie - Am ruhenden Punkt der kreisenden Welt

von Robert Lever, DO

© 2014, JOLANDOS

Am Gasteig 6 –82396 Pähl

978-3-936679-76-2 (print) - 978-3-941523-72-2 (mobi) - 978-3-941523-73-9 (epub)

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ÜBERSETZUNG

Theresa Nivelnkötter

BEARBEITET VON

Christian Hartmann

LEKTORAT

Martin Ingenfeld

COVERENTWURF, SATZ UND LAYOUT

Christian Hartmann

TITELBILD: A. T. Still

MfG des Museum for Osteopathic Medicine, Kirksville, Mo. USA

DRUCK

Buchproduktion Thomas Ebertin

Goethestraße 9, 78333 Stockach

www.buchproduktion-ebertin.de

EBOOK-GESTALTUNG

Zeilenwert® GmbH

Schwarzburger Chaussee 74 – 07407 Rudolstadt

www.zeilenwert.de

Jede Verwertung von Auszügen dieser deutschen Ausgabe ist ohne Zustimmung von JOLANDOS unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Zur Erinnerung an meinen Mentor

Tom Drummer (1915–1998)

und

meinen Vater

Derrick Lever

(1923–1986)

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Widmung

ABKÜRZUNGEN UND LEGENDE

ANMERKUNG DES AUTORS

VORWORT ZUR ENGLISCHEN AUSGABE

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

EINLEITUNG

Raum und Kitt

Naturwissenschaften vs. Geistiges

Teil 1: Prinzipien

1. OSTEOPATHIE: EIN ÜBERBLICK

Hintergrund

Paradigmen

Still und die Anfänge

Vielfalt

Struktur-Funktion

Quanteneffekt

Fazit

2. DIE WESENTLICHEN QUALITÄTEN DER BEWEGUNG

Die Läsion

Die kraniale Dimension

Kräfte

Beckers Sturm

Bradbury - Dummer - SAT

3. HOLISMUS UND DIE OSTEOPATHISCHE BRILLE

Definition

Die Kultur des Materialismus und die Linearität

Therapeutika

Das Problem mit holistischen Paradigmen (sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Osteopathie)

Integration

Objektive Versuche

Holismus vs. Multifaktorialismus

Wie könnte das aussehen?

Der Einfluss von Mustern

Ganzheitliche Techniken

Die osteopathische Brille

Fazit

4. WECHSELWIRKUNGEN, BEZIEHUNGEN, RÄUME

Zusammenspiel

Gefäße

Wechselspiel der Strukturen

Strukturen regieren Strukturen

Muster

Evaluation von Mustern

Weder ist alles mental, noch liegt alles an der Wirbelsäule

Begleitbehandlung

Funktionelle Reziprozität

Mechanik der Wirbelsäule

Tensegrity

5. ZWISCHEN MAINSTREAM UND KRANIALER OSTEOPATHIE: KONTINUUM ODER QUANTENSPRUNG?

Allgemeine Gedankengänge

Swedenborg

Das kraniale Konzept im osteopathischen Spektrum

Unterschiede

Rhythmus

Eine falsche Spur

Felder

Faszien

Die Matrix

Bindegewebseigenschaften

Rekapitulation: Quantentheorie im Zusammenhang mit osteopathischem Holismus

Kohärenz und Einschwingen

Absichtlich oder Absichtslos?

Schlussfolgerung

Teil 2: Die Kunst darin

6. SUBJEKTIVITÄT UND DER TANZ

Und was ist mit dem Behandler?

Bitten wir die Subjektivität herein

Roter Strahl

Warum das für die Osteopathie von Bedeutung ist

Interpretation des Materials

Der Austausch: zur Rekapitulation

Abschließend: Logos/Mythos

7. DAS INTELLIGENTE FULKRUM

Palpation und Gedanken in Bewegung

Was palpieren wir also?

Felder und Energetik

Kultur und Mechanismen

Empirismus

Der Preis

Kreativität und Geschick

Kontext und die Rolle des ‚Verstandes‘

Leben und Mechanismen

Vitalismus

Wissenschaft des Vitalismus

Energetik und Kommunikation

Der ‚Verstand’ und das kreative Fulkrum

Inwiefern ist Berührung wirksam?

Stille und Einschwingen

Rekapitulation

Bewusst oder intuitiv?

8. DIE HEILUNG: WENN SIE ÜBERHAUPT KOMMT, DANN KOMMT SIE VON INNEN

Selbstregulation

Kohärenz

Stille und die Läsion

Das Fulkrum

Das Sutherland-Fulkrum

Fazit

9. ÜBER DIE TECHNIK HINAUS: BEGEGNUNG MIT DER LÄSION

Techniken

Technik im Gegensatz zu Ansatz

Ansatz

Der Einsatz der Hände

Einstellung

10. PLACEBO UND RITUAL

Placebo - Was ist eigentlich das Problem?

Grenzen: Falsche Hoffnung

Rituale

11. FORSCHUNG & ENTWICKLUNG, SICHERHEIT UND DER MYTHOS DER EVIDENZ

Sicherheit

Evidenzbasiert

Fortschritt

Die Grenzen der Gewissheit

Wissenschaft versus Gott

Was ist nun mit Forschung und Entwicklung?

Abschließend

Teil 3: Philosophie und Behandler

12. DER MENSCHLICHE GEIST: ANPASSUNGSFÄHIGKEIT, SELBST-KORREKTUR UND ÜBERLEBEN

Unterstützung versus Abhängigkeit

Die Grundlage der Arbeitsmoral

Chakren

Moleküle der Emotion

Anpassung versus Heilung

Zusammenfassung

13. GÖTTLICHES CHAOS: RICHTUNG, BEDEUTUNG, MYSTERIUM UND DER HEILUNGSZUSTAND

Sicherheit, Sinn und Mysterium

Zweck versus Zweifel

Transzendenz

Heilung und die Realität des Patienten

Der demütige Behandler

Zur Wiederholung

Zurück zur Gesundheitsfürsorge

Abschließend

14. DIE AUSSERORDENTLICHE NATUR DER PARADOXIE

Das Paradoxe birgt Konflikte

Zentrales Thema

Abschluss

15. EPILOG - ALLES VERBINDEN: GEIST, MENSCHLICHKEIT UND DIE KUNST DER ANWENDUNG

Jenes ominöse ‚stille hebelartige Fulkrum’

Suchende Fragen

LITERATURVERZEICHNIS

BIBLIOGRAFIE

INDEX

FUßNOTEN

ABKÜRZUNGEN UND LEGENDE

AAO = American Academy of Osteopathy

AOA = American Osteopathic Association

ASO = American School of Osteopathy

BCOM = British College of Osteopathic Medicine

BLT = Balanced Ligamentous Tension

BOA = British Osteopathic Association

BSO = British School of Osteopathy

CI = Cranialer Impuls

CSR = Craniosacraler Rhythmus

DO = Doctor of Osteopathy (USA)

ESO = European School of Osteopathy

FAAO = Fellow of the American Academy

FCA = Fellow of the Cranial Academy

GOT = General Osteopeothic Treatment

JAOA = Journal of the American Osteopathic Association

MAPs = Mikrotubuli-assoziierte Proteine

MET = Muscle Energy Technique

SAT = Specific Adjustment Technique

SSA = Swedenborg Scientific Association

[ ] = Ergänzungen durch Herausgeber oder Übersetzerin

Am ruhenden Punkt der kreisenden Welt. Weder Fleisch noch Nicht-Fleisch;

Weder hierher noch dorthin; am ruhenden Punkt ist der Tanz,

doch weder im Verharren noch Bewegung. Und nenn’ es nicht Stillstand,

Wo Vergangenes und Zukunft vereint sind. Weder Fortgehn noch Hingehn,

Weder Aufsteigen noch Absteigen. Wäre der Punkt nicht, der ruhende Punkt,

So wäre der Tanz nicht – und es gibt nichts als den Tanz. 1

ANMERKUNG DES AUTORS

Dieses Buch zu schreiben war zugleich ein Vergnügen und eine Herausforderung. Aus den unterschiedlichsten Gründen war die Inkubationszeit sehr lang. Hätte ich jedoch gleich beim ersten Mal, als es zur Debatte stand (vor mehr als 25 Jahren), den Versuch unternommen, wäre das Ergebnis ein ganz anderes gewesen. Eine Facette der Herausforderung bestand darin, über ein Konzept zu schreiben, das im wahrsten Sinne holographisch ist. Mit anderen Worten, jeder Teil oder jede Komponente eines Themas hat etwas zu jedem anderen Teil zu sagen und ist gleichzeitig eine Spiegelung dessen. Oder anders gesagt, jeder Bestandteil umfasst etwas vom Ganzen. Somit ließ sich ein gewisser Grad an Wiederholungen nicht ganz vermeiden, da dieselben Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Dies zog notwendigerweise eine Unterteilung von Aspekten nach sich, die eigentlich nur in ihrer Gesamtheit, als ein integriertes Ganzes, wirklich lebendig sind. Somit ist dies Buch als eine Reihe von Essays zu lesen, wobei ich hoffe, dass es trotzdem ein Element des Flusses und der Entwicklung enthält.

Ich wünsche mir, dass meine Versuche die folgenden Überlegungen wiederzugeben, kombiniert mit der Bereitschaft des Lesers die einzelnen Punkte zu verbinden, zu einem gewissen Grad an Kohärenz führen und eine befriedigende Verbindung anregender Teile ergeben möge. Diese sind einer wundersamen Welt entnommen und inspiriert durch die Osteopathie.

Robert Lever, DO

London, März 2013

VORWORT ZUR ENGLISCHEN AUSGABE

Was ist ein Osteopath? Dies ist die Frage, mit der sich das vorliegende Buch beschäftigt. Obwohl ich mich selbst mit dem besagten Wort Osteopath charakterisiere, habe ich mich oft gefragt, was einen Osteopathen eigentlich ausmacht, und in meinem Schreibtisch befindet sich ein Ordner mit der Aufschrift Was ist ein DO? Schon seit meiner Zeit als junger Mann, als ich in den USA noch Pharmazeutika an Ärzte vertrieb, gehe ich dieser und der dazugehörigen Frage Was ist Osteopathie? nach. Wenn ich den zu besuchenden DOs auf meiner Liste diese Frage stellte, sagten sie mir, dass die Antwort in der Ausbildung an einer Osteopathie-Schule zu finden sei, und sie halfen mir dabei, mich 1972 an der Kansas City University of Medicine and Biosciences – College of Osteopathic Medicine einzuschreiben. Dafür schulde ich ihnen auf immer meinen Dank.

Osteopathie ist so weit und tief wie die Natur selbst. Aus diesem Verständnis, welches ich nach vielen Jahren intensiven Grabens erlangte, erwächst meine Dankbarkeit. Osteopathie repräsentiert das Studium und die klinische Beschäftigung mit natürlichen Prinzipien und in meiner Praxis, in der ich meine Patienten behandle, bin ich tagtäglich damit beschäftigt die Natur bei ihrer Arbeit zu beobachten. Die Körper meiner Patienten zeigen grundlegende Charakteristika, die belegen, wie die Dinge funktionieren.

Nach seinen eigenen Worten entdeckte Dr. Still2 die Osteopathie. Das denke ich auch, denn er war ein leidenschaftlicher Beobachter der Natur. Er sah den Menschen als beseelte Maschine und zugleich als ein Beispiel für die Vollkommenheit der Schöpfung. Er interessierte sich für die innerhalb des Systems zu findende Gesundheit, das jeglicher Dysfunktionübergeordnete Normale, eben jene primäre Eigenschaft des lebendigen Menschen, und sein Ziel war es, mittels der Naturprinzipien die normale Struktur und Funktion in seinen Patienten wiederherzustellen.

Natur kann wundersame Kunststücke vollbringen. Betrachten Sie nur einmal den Hurrikan Sandy3 oder eine Sonnenfinsternis. Beschäftigen wir uns beispielsweise mit den uns zur Verfügung stehenden Kräfte der Sonne (Solarenergie), des Mondes (Gezeiten), des Windes und des Wassers (enorme Steinformationen gebildet durch Erosion), so schöpfen wir letztlich immer aus der Kraft des großen Ganzen. Laut Still entspringt die Schöpfung aus dem ‚Großen Verstand‘, welcher die materielle Substanz organisiere und durch Bewegung – oder durch Geist – belebe. Er glaubte, dass alle lebendigen Wesen, ja sogar das gesamte Universum durch VERSTAND4, Materie und Bewegung generiert würden.

Nur wenn wir die Naturprinzipien achten, sind wir demnach in der Lage auf den Körper zu hören und herauszufinden, was er zur Heilung benötigt. Seiner Führung folgend assistieren wir ihm in jenen Heilprozessen, die nur der Körper an sich selbst vollziehen kann. Wir Osteopathen unterstützen den Körper quasi bei seiner Selbstheilung. Wir ermöglichen dem Organismus zu seiner ursprünglichen Anpassung zurückzukehren, so dass er in die Lage versetzt wird sein ursprüngliches Tempo und seine Funktionen wieder aufzunehmen. Mit anderen Worten, wir erlauben es dysfunktionellen Bereichen innerhalb des Körpers zu gesunden. Nach Dr. Stills Verständnis erleichtern wir es Gesundheit zu Geweben zu überbringen, die nach den Flüssigkeiten des Lebens hungern.

Dr. Still wies auf die Verantwortung vitalistischer Prinzipien bei der Erschaffung der lebendigen Form und ihrer Aufrechterhaltung von Gesundheit hin. Flüssigkeiten – Blut, Lymphe, zerebrospinale Flüssigkeit sowie andere extrazelluläre Flüssigkeiten – liefern Gesundheit. Die schöpferische Lebenskraft als Initiator der lebendigen Form stellt ebenso durch die Übermittlung der vitalen Prinzipien die Gesundheit wieder her, wie dies bei Nährstoffen geschieht, welche durch Flüssigkeiten in den Organismus vermittelt werden. Nach den Worten von William Sutherland5, DO hat somit das Gesetz der Arterie obersten Rang und die CSF6 führt das Kommando. Mechanische (hydraulische) Wirkungen sind charakteristisch für die Potency7 der Flüssigkeiten. Zu den anderen Eigenschaften der Potency gehört das elektrisches Potential und die Bereitstellung von Information darüber, wie das System erschaffen wurde, und dementsprechend auch, wie es wiederhergestellt werden kann.

Etliche Forscherkollegen, den Autor dieses Buches, Robert Lever, DO eingeschlossen, waren unermüdlich in ihrem Streben nach der Bedeutung der Osteopathie. Robert hat eine meisterliche Sammlung an Essays (Kapiteln) zusammengestellt, die ein weites Spektrum an Themen überspannen, von Vitalität und Holismus zu Mythen und Geist. Im Mittelpunkt stehen Heilkunde, Techniken und Fragen im Zusammenhang mit Placebo und Heilen. Robert verhalf den Diskussionen über die Osteopathie auf eine höhere Ebene und er definierte damit den Beruf neu in einer modernen und vorrausschauenden Art und Weise. Wenn irgendjemand Dr. Stills Mahnung Dig on gefolgt ist, dann wohl Robert Lever mit dieser exzellenten Leistung.

Man sollte lesen, was er zu sagen hat, und sich durch alle Details bis zum Ganzen vorarbeiten, um wirklich zu erkennen, was er uns zu verstehen geben will. Auch wenn es zeitweise kurzweilig, faszinierend und voller klarer Informationen ist, handelt es sich um kein Buch, dass man einfach so nebenbei lesen sollte. Man kommt nicht umhin zu studieren, was er zu sagen hat:

„Es ist das günstige Zusammenspiel der Körpersysteme in einem komplexen Geflecht aus Interaktionen, welches es den Osteopathen erlaubt […] auf jenes Potential zuzugreifen, das aus dem kraftvollen Prozess der Selbst-Korrektur schöpft.“

Darauf können wir dann wiederum weitere Aussagen beziehen:

„Die Resilienz, Anpassungsfähigkeit und Überlebenskapazität des menschlichen Wesens sind zuweilen so außergewöhnlich wie mysteriös.“

Wenn es um die Definition oder, wenn wir schon dabei sind, um die Anwendung der Osteopathie geht, so finden wir viele Meinungen und Richtungen. In Die Kunst und Philosophie der Osteopathie betrachtet der Autor die unterschiedlichsten Meinungen aus britischer Perspektive. Auch wenn das Thema scheinbar aufgrund eines Jahrhunderts getrennter Entwicklung britischer und amerikanischer Osteopathie leicht variiert, so sind wir in den USA nicht anders. Wir haben viele Ansichten und manchmal können sie zu Meinungsverschiedenheiten führen. Robert Lever hat den Versuch unternommen unsere Varianten bezüglich eines Themas zu vereinen, indem er die Unterschiede bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgte, um sie dann unter vereinfachten Prinzipien zu verschmelzen. Ob seine wertvollen Bemühungen Erfolg haben werden, hängt von jedem einzelnen Osteopathen und seiner Bereitschaft ab, gleichermaßen gut und sorgfältig wie der Autor die von ihm angeführten Grundlagen zu verfolgen. Des Weiteren hängt der Erfolg davon ab, ob der Leser bereit ist, in derselben Art und Weise wie der Autor auf das größere Bild zu schauen und ein Weltbild zu akzeptieren, welches von seinem eigenen ursprünglichen möglicherweise abweicht.

Dr. Stills Weltbild stand im Gegensatz zu jenem der meisten Menschen seiner Zeit, aber obwohl er aus allen Richtungen Ablehnung erfuhr – von seiner Familie, Freunden, Kollegen und Geistlichen –, so hielt er daran fest, denn er war sich gewiss der Wahrheit zu folgen, wohin sie ihn auf seiner Suche auch führen mochte. Auch heute verhält es sich nicht viel anders. Wollen wir dem Potential der Osteopathie in seiner ganzen Größe – groß wie die gesamte Natur – gerecht werden, verlangt dies nach der Bereitschaft, durch eine neue Brille zu schauen. Wir sollten Dr. Stills Gebot folgen (Dig On!) und weitergraben. Robert Levers Bemühungen in diesem Buch sind ein ausgezeichneter Schritt in diese Richtung und ich kann seine aus einem Leben osteopathischer klinischer Erfahrung, Lehre und Kontemplation entsprungenen Erkenntnisse nur in allerhöchstem Maße wertschätzen.

Robert Lever ist in der Tat ein großer Lehrer für uns alle.

R. Paul Lee, DO, FAAO, FCA

Durango, Colorado, USA

Januar, 2013

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Lever bezieht sich in seinem Buch immer wieder auf den Entdecker der Osteopathie, den US-amerikanischen Landarzt Andrew Taylor Still (1828 – 1917), sowie den Begründer der Kranialen bzw. Kraniosakralen Osteopathie, William G. Sutherland (1873 – 1954). Deren Interpretation der Osteopathie, die üblicherweise als Klassische Osteopathie bezeichnet wird, unterscheidet sich in wesentlichen Inhalten insbesondere von der angelsächsisch geprägten Mainstream-Osteopathie der Gegenwart. Da aber auch nur wenige deutschsprachige Osteopathen wirklich mit der Klassischen Osteopathie vertraut sind, möchte ich das Vorwort nutzen, um diese hier kurz zusammengefasst darzustellen. Es folgen wie üblich ein paar kurze Hinweise bezüglich der in der Übersetzung gewählten Terminologie. Schließlich – und das mag einigen für ein Herausgeber-Vorwort unüblich erscheinen – auch eine Erwähnung kritischer Punkte zum vorliegenden Werk. Wie immer empfehle ich Ihnen die sorgfältige Lektüre auch dieses Vorworts zum besseren Verständnis des Buchs.

EINE KURZE GESCHICHTE DER KLASSISCHEN OSTEOPATHIE

Als der US-amerikanische Landarzt Andrew Taylor Still (1828 – 1917) im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts sein in sich geschlossenes naturheilkundliches Medizinsystem der Öffentlichkeit vorstellte, nannte er es Osteopathie. Warum gerade dieser Begriff? Still ging wie alle naturheilkundlich ausgerichteten Behandler seit Hippokrates davon aus, dass im Menschen inhärente Mechanismen zur Selbstheilung existierten und deren leitende Intelligenz höheren Ursprungs sei und jene des Menschen bei Weitem überrage. Diese Annahme bezeichnet ein Kernparadigma des Vitalismus. Folgerichtig zielt der naturheilkundliche Behandlungsansatz nicht auf einzelne Bestandteile (z. B. biochemische Substitutionen) bzw. auf deren Zielobjekte (z. B. Bekämpfung von Krankheitserregern), sondern versucht den Organismus als Ganzes zu unterstützen, damit die besagte Intelligenz sich über die inhärenten Mechanismen optimal entfalten und so Leiden (gr. pathos) überwinden kann. Das therapeutische Selbstverständnis wechselt hierbei vom (Gesund-)Macher bzw. Heiler zum empathischen und demütigen Begleiter der Natur.

Aus medizinhistorischer Sicht ist Stills Ansatz vor allem deshalb so interessant, weil er nicht nur erkannte, dass es die zwei Informationssysteme Kreislauf- und Nervensystem sind, die für den Transport und die Verteilung der Information besagter Mechanismen innerhalb des gesamten Körpers verantwortlich zeichnen. Wohl inspiriert durch den schwedischen Naturwissenschaftler, Mystiker und Spiritisten Emanuel Swedenborg (1688 – 1772) konstatierte er darüber hinaus, dass als Medium für die Verteilung besagter Informationen die fließenden Körperflüssigkeiten (Blut, Lymphe und Nervenwasser, d. h. Liquor cerebrospinalis) essenziell sind.8 Als hervorragender autodidaktischer Anatom und leidenschaftlicher Anhänger von Maschinen erkannte er schon bald, dass dieses Fließen stark vom Zustand des muskuloskelettalen Systems in seiner Gesamtheit abhängt. Dieses Kernparadigma untermauerte er – und das ist tatsächlich einmalig auch im naturheilkundlichen Bereich – ausschließlich mit anatomisch-physiologischen Erklärungsmodellen, die in ihrer Funktionalität und Dynamik geradezu holistisch anmuten und ihrer Zeit weit voraus waren.

Als naturheilkundlich und daher nicht-invasiv bzw. nicht-substituierend orientierter Arzt, sowie aufgrund der sehr beschränkten Mittel im US-amerikanischen Grenzland, entwickelte er aus diesen Einsichten einfache manuelle Techniken, um das muskuloskelettale System, also das Rahmenwerk des Körpers, an die individuelle Einzigartigkeit des Patienten anzupassen (nicht: zu korrigieren!).9 Ist dies geschehen, können nach Stills Auffassung die inhärenten und selbstregulierenden Informationen wieder frei durch den Körper fließen und Symptome, Pathologien etc., wo immer sie auch auftreten, beseitigen. Dies geschieht seiner Ansicht nach aufgrund der zugrunde liegenden und dem Menschen weit überlegenen vitalistischen Intelligenz weit besser, als dies ein Mensch durch aktive Bekämpfung einer Pathologie jemals erreichen könnte. In diesem Sinn ist auch Stills berühmter Aussage „Gesundheit zu finden ist Aufgabe des Arztes, Krankheit kann jeder finden.“10 zu interpretieren. Stills Ansatz ist damit durch seine Fokussierung auf Ressourcen, seine Wahrnehmung des Patienten als Menschen in seiner physisch-metaphysischen Gesamtheit und seiner prozessorientierten Vorgehensweise und der salutogenetischen Medizin zuzuordnen. Und da seine manuelle Techniken letztlich über die Hebel der Knochen (gr. osteon) auf den Bewegungsapparat und damit vorrangig indirekt (über vasomotorische Verbindungen) und seltener direkt (bei Kompressionen) auf die Informationssysteme wirken, ergibt sich aus dem bisher beschriebenen der in funktioneller Hinsicht zu deutende Begriff Osteo-pathie. Kurz gefasst:

Stills (vitalistische) Osteopathie => manuelle Techniken => Knochen als Hebel (Osteo…) => Anpassung des muskuloskelettalen Rahmens => ungehindertes Fließen von Blut, Lymphe und Liquor => optimaler Fluss der selbstregulierenden Informationen => maximale Entfaltung der Physiologie => maximale Verdrängung der Leiden (…pathie)=> Heilung durch die Natur.

Abgesehen von der vitalistischen Prämisse sind die in Stills Ansatz berücksichtigten anatomisch-physiologischen Grundannahmen inzwischen vor allem durch Forschungsarbeiten im Bereich der Immunologie, Neurophysiologie und funktionellen Anatomie bestätigt worden. Stills äußerst komplexer Ansatz ist allein schon durch diese klare Benennung anatomisch-physiologischer Zusammenhänge im vitalistischen Ansatz und seine daraus entwickelten manuellen Techniken nicht nur für die damalige Zeit bemerkenswert und visionär. Mit der folgerichtigen Zusammenführung von Anatomie/​Physiologie und der inhärenten Selbstregulationsmechanismen im Körper, sowie durch seine Überzeugung, dass Behandler, Methode und Patient als Teil der göttlichen Schöpfung stets eine Einheit bilden, antizipiert er darüber hinaus auch die Möglichkeit der Verschmelzung all dieser Aspekte. Dass Still mit seiner Klassischen Osteopathie die meisten seiner Zeitgenossen aufgrund seiner komplexen Überlegungen überforderte, liegt auf der Hand. Und so verschwand Stills salutogenetischer bzw. vitalistischer Ansatz innerhalb der Osteopathie schon nach wenigen Jahren wieder und wurde durch eine marktkompatiblere, weil pathogenetisch orientierte Osteopathie ersetzt, die sich auf simple Methoden zur Behandlung vorrangig muskuloskelettaler Symptome beschränkte.

Es sollten mehrere Jahrzehnte vergehen, bis William Garner Sutherland (1873 – 1954) ab Mitte der 1930er Jahre und wohl ebenfalls nachhaltig inspiriert durch Emanuel Swedenborg Stills salutogenetischen bzw. vitalistischen Aspekt wieder aufgriff und um den kraniosakralen Aspekt erweiterte, womit er die sogenannte Kraniale bzw. Kraniosakrale Osteopathie begründete. Sutherland war es auch, der die (innere) Stille und die Verbindung zwischen Behandler, Patient und jener übergeordneten Instanz als essenzielle Bestandteile einer Behandlung erstmalig innerhalb der Osteopathie benannte. Sein berühmtester Schüler, Rollin E. Becker (1910 – 1996), führte diesen Aspekt fort und wurde damit zum Wegbereiter eines der heute umstrittendsten Zweige der Osteopathie – der energetisch orientierten Biodynamischen Osteopathie. Wie auch schon bei Still steht hier die Interaktion zwischen Therapeut und Patient mit all ihren subjektiven Phänomenen wieder Zentrum der Behandlung. Und da diese mit der klassischen Physik kaum oder gar nicht zu erfassen sind, dies aber v. a. von den eher strukturell und pathogenetisch orientierten Osteopathen eingefordert wird, ist es zu einer tiefen Spaltung innerhalb der Osteopathie gekommen. An dieser Stelle kommt nun Robert Levers Buch ins Spiel, das nach Nicholas Handolls Die Anatomie der Potency und Paul Lees Interface die dritte und m. E. weitestentwickelte Monografie zu diesem Themenkomplex repräsentiert und auch als Aufruf zur Versöhnung zu verstehen ist.

METAPHYSISCHE BEGRIFFLICHKEITEN

Bei allen Übersetzungen englischsprachiger Werke über die Osteopathie begegnet man Schwierigkeiten in puncto Ausdeutung bestimmter Begrifflichkeiten, insbesondere, wenn sie sich auf metaphysische Sachverhalte beziehen. Sehr häufig werden dieselben metaphysisch relevanten Begriffe in unterschiedlichster Bedeutung verwendet. Um den Lesern hier zumindest eine einigermaßen klare Struktur zu vermitteln, wurden bei der Übersetzung die nachfolgenden Konventionen festgelegt. Hierbei ist es wichtig zu wissen, dass englischsprachige Wörter, die normalerweise klein geschrieben werden, bei Großschreibung auf einen göttlichen Ursprung hinweisen (z. B. Mind statt mind). Da diese Schreibgewohnheit bei Substantiven nicht auf deutsche Begriffe übertragbar ist (sie werden ja bereits groß geschrieben) wurden die entsprechenden Worte in Kapitälchen gesetzt:11

1. Spirit/Mind bzw. spirit/​mind

Spirit (mit großem S im Originaltext) => SEELE, GEIST

Beschreibt den rein ‚himmlischen‘ Anteil der Metaphysik einer Person.

Mind (mit großem M im Originaltext) => INTELLIGENZ, VERSTAND

Eine höhere Intelligenz, die durch den irdisch-metaphysischen Anteil des Menschen (das Mentale) über anatomisch-physiologische Medien, wie etwa das Gehirn, die Körperflüssigkeiten, die Faszien etc. in den Körper vermittelt wird und die Selbstregulation in Richtung Gesundheit bestimmt. Nur dieser Mind kann heilen.

2. spirit/​mind => Mentales

Irdische Aspekte des Menschen, wie Intelligenz und Verstand, aber auch Intuition und Wahrnehmung bzw. Empfindung in Ihrer Gesamtheit.

3. mind => Verstand bzw. Intelligenz

Der rein irdische Aspekte des Mentalen.

POTENCY

Wie besonders in der englischsprachigen Literatur über Osteopathie finden sich auch bei Lever zahlreiche eigene Wortschöpfungen, die vor allem aus der Not heraus entstehen, dass man bestimmte Phänomene und Erfahrungen während des Spürens der Patienten nur schwer fassen und ausdrücken kann. Bei den meisten Begriffen gelingt es eine deutschsprachige Übersetzung zu finden, die den Sinn des Originals treffend ausdrückt. Dies ist bei dem Begriff Potency nicht möglich, weshalb er – wie in allen anderen Büchern von JOLANDOS – nicht übersetzt wurde.