Buch lesen: «Hitzeschlacht»
Robert Lang
Hitzeschlacht
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Erstes Kapitel: Hitzewelle
Zweites Kapitel: Dies war nur der Anfang
Drittes Kapitel: Hochdruckgebiet
Viertes Kapitel: Hundstage
Fünftes Kapitel: In der Hitze des Tages
Sechstes Kapitel: Hitzeschlacht
Siebtes Kapitel: Nach der Flut
Achtes Kapitel: Höllenglut
Impressum neobooks
Erstes Kapitel: Hitzewelle
Robert Lang
Hitzeschlacht
Roman
Prolog
Der Himmel wölbt sich in mattem Grau über der Stadt. Am Abend soll ein Gewitter aufziehen, aber zu dieser Vormittagsstunde ist davon noch nichts zu spüren. Die Luft ist stickig und macht das Atmen schwer, schon am frühen Morgen ist die Temperatur wieder auf dreißig Grad geklettert, und es soll bis zum Nachmittag noch schlimmer werden.
Ausgerechnet heute ist im Konferenzraum 12 des „Frankfurter Hof“, des besten Hotels am Platz, die Klimaanlage ausgefallen. Eilends herbeigerufene Techniker finden den Fehler nicht sofort, aber der Festakt zu Ehren des Jubilars kann so kurzfristig nicht in einen anderen Raum verlegt werden, weil man eine provisorische Bühne errichtet hat, auf der ein kleines, aber erlesenes Orchester Schuberts‘ „Forellenquintett“ zum Besten geben soll. Die Musiker sind dabei, ihre Instrumente noch einmal nachzustimmen, was dringend erforderlich ist, weil sich durch die Hitze die Saiten ihrer Instrumente dehnen, und das ruiniert jeden Klang.
Es sind an die achtzig Einladungen verschickt worden, aber beinahe die Hälfte der Eingeladenen hat sich wegen anderweitiger Verpflichtungen entschuldigt, ein paar sind - ohne abzusagen - ferngeblieben, vielleicht der Hitze wegen, vielleicht aber auch, weil sie kein Interesse an einem alten Geschäftsmann haben, der von der Stadt mit schwülstigen Reden und einer Ehrenurkunde für seine besonderen Verdienste um Versöhnung, Bildung und Kultur ausgezeichnet wird.
Richling hat sich in eine der hinteren Reihen gezwängt und schwitzt wie ein Schwein, wie er selbst es formulieren würde, weil er die Dinge gern beim Namen nennt. Das liegt zum einen an seinem Körper, den man wohlmeinend als beleibt bezeichnen mag; zum anderen hat er sich an dem reichhaltigen Büffet schon ein paar Lachshäppchen und zwei Glas Sekt genehmigt, was er besser gelassen hätte, denn das Zeug will jetzt partout aus all seinen Poren wieder hinaus.
Wenn er um sich schaut, sieht er nur piekfeine Leute, die viel zu nobel sind, um zu schwitzen. Die transpirieren stattdessen, denkt er voller Hohn. Und die Weiber sind mitten im Sommer mit mehr Schmuck behängt als ein Weihnachtsbaum Lametta trägt.
Der Oberbürgermeister ist an diesem Tag unabkömmlich, weil er bei einer Veranstaltung des Deutschen Städtetages in Dresden auftritt, und so muss für die Laudatio sein Stellvertreter herhalten, der gerade nach einem Blick auf die Uhr den Saaldiener gebeten hat, die Tür zu schließen, weil nicht anzunehmen ist, dass noch weitere Gäste hinzukommen. Das Gemurmel in den Reihen verstummt. Die Musik setzt ein.
Irgendein Schlaumeier ist auf die Idee gekommen, ein Fenster aufzureißen, aber die Luft steht still, und so ist es in dem kleinen Saal inzwischen genauso heiß und schwül wie draußen im Freien.
Richling, der außer ein paar gelegentlichen Takten Wagner so gut wie nie klassische Musik hört und sich für diese auch nicht die Bohne interessiert, hätte wohl schleunigst das Weite gesucht, wenn er gewusst hätte, dass das verdammte Stück eine geschlagene Dreiviertelstunde dauert. Er schließt die Augen, faltet die Hände über seinem Bauch und hofft, dass das ganze Theater irgendwie vorübergeht. Er sehnt sich nach einer kalten Dusche, und auf die Toilette wird er auch bald wieder müssen. So ist das eben bei Männern, wenn sie alt werden.
Ohnehin hat er nicht die geringste Ahnung, warum er zu diesem Festakt eingeladen worden ist; natürlich kennt er Erdmann dem Namen nach, und bei Google hat er herausgefunden, dass dieser der reichsten Männern der Stadt ist und vor kurzem seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag gefeiert hat. Das ist bis auf ein paar Banalitäten alles, und persönlich begegnet ist er ihm nie. Wäre er nicht ohnehin in der Nähe gewesen, hätte er sich diese Veranstaltung nicht einmal im Traum angetan. Er kann sich seinen Schampus selbst kaufen.
Endlich ist das Orchester fertig, das ermattete Publikum applaudiert dankbar, weil zu hoffen ist, dass man nun bald wieder hier rauskommt, in ein klimatisiertes Büro oder Auto, nur raus aus dieser Sauna.
Der stellvertretende Bürgermeister, vielleicht mit Rücksicht auf die widrigen Umstände, vielleicht aber auch, weil lange Reden nicht seine Sache sind, tritt an ein Mikrofon am rechten Bühnenrand und gibt einen kurzen Abriss von Erdmanns Lebenslauf; den Kriegsjahren, der Auswanderung nach Palästina noch im Vorschulalter, seiner Zeit in den USA, wo er den Grundstein für sein beträchtliches Vermögen gelegt hat, seiner Rückkehr nach Frankfurt, und natürlich den vielen Wohltaten, die er seiner Heimatstadt im Laufe von mehr als fünf Jahrzehnten erwiesen hat. Er betont, dass die Stadt Frankfurt diese Auszeichnung in den letzten zweihundertzwanzig Jahren nicht öfter als dreißig Mal verliehen hat. Um dem gestressten Publikum das Kopfrechnen zu ersparen, fügt er hinzu, dass eine Veranstaltung wie die heutige statistisch gesehen nur alle sieben Jahre stattfindet. Gott sei Dank, mag ein Teil der Gäste denken.
Richling hört kaum zu, ihm läuft der Schweiß von der Stirn in die Augen und er atmet so schwer, dass sich eine ältere Dame, die vor ihm sitzt, beunruhigt zu ihm umdreht und mit den Augen fragt, ob er in Ordnung sei. Lass mich in Ruhe, du alte Vettel!
„Und nun einen Applaus für den Mann, der sich wie kaum ein anderer für die Belange unserer Stadt eingesetzt hat. Frankfurt wäre ohne diesen Mann nicht das, was es heute ist. Bitte, Herr Johannes Erdmann!“
Erneuter Applaus, etwas lebhafter als zuvor, und auf die Bühne schlurft ein alter Mann in einem schwarzen Anzug, auf dem Kopf ein ebenso schwarzes Käppchen, unter dem schneeweißes, aber noch volles Haar hervorschaut. Noch bevor der Beifall verklungen ist, nimmt er aus der Hand des Bürgermeisters die Ehrenurkunde der Stadt entgegen, bedankt sich mit einem langen Händedruck und wendet sich dann dem Mikrofon und damit auch dem Publikum zu.
„Vielen Dank, vielen herzlichen Dank, meine Damen und Herren.“ Er ist sichtlich gerührt. „Meine Mutter sagte, als ich einst noch ein kleiner Junge war, zu mir…“
Richling ist wie vom Donner gerührt, er sitzt auf der Vorderkante seines Stuhls, der unter dem Gewicht des massigen Körpers beinahe unter ihm wegrutscht, und seine Augen quellen ihm fast aus den Höhlen. Seine Lippen bewegen sich stumm, ein Speichelfaden hängt von seinem rechten Mundwinkel herab und er sieht aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. Sein Unterkiefer beginnt Luft zu kauen, alle Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen. Es ist ein Gespenst, das da vorne steht, aber es ist ein sehr reales und sehr lebendiges Gespenst.
Sein Verstand droht auszusetzen, Bilder von Schmach und Scham, von Aufruhr und Wut folgen in wilder Abfolge, das alles geschieht in Sekunden.
„Das ist nicht Erdmann“, flüstert er endlich, „das ist nicht Erdmann.“
„Pssst!“
„Das ist gar nicht Erdmann…“ Er kann es nicht fassen. Er hat den Alten zuerst nicht erkannt, als dieser die Bühne betrat. Aber er kennt diese Stimme. Die hohe, singende Stimme, die durch Mark und Bein geht, eine Stimme, die schon vor einem halben Jahrhundert so geklungen hat; er würde sie niemals vergessen, nicht bis zum jüngsten Gericht. „Das ist nicht…“
„Jetzt halten Sie aber die Klappe“, die ältere Frau vor ihm schaut jetzt nicht mehr besorgt, sondern wütend.
„Das ist Seligman, Joshua Seligman! Der Jud‘…“
Köpfe rucken herum, entgeisterte Blicke treffen ihn, die er aber nicht mehr bemerkt, denn er springt bereits auf und verlässt hastig den Saal, in dem es schlagartig totenstill geworden ist. Aber kaum hat er die Tür hinter sich zugeschlagen, bricht ein mittlerer Tumult los.
Der alte Mann steht am Mikrofon und kann sich ein feines Lächeln nicht verkneifen. Er weiß ganz genau, wer da soeben die Flucht angetreten hat.
Joshua Seligman, heute bekannt als Johannes Erdmann, wartet, bis es im Publikum wieder ruhig geworden ist; dann setzt er seine Rede fort, ohne auf das soeben Geschehene einzugehen. Er hat seinen Spaß an diesem kurzen Zwischenfall gehabt, denn schließlich hat er sich diesen Spaß selbst ausgedacht.
Der Rest der Veranstaltung verläuft ungestört, und nachdem Erdmann seine Rede beendet und nochmals auf das Büfett hingewiesen hat, springen seine Gäste auf und eilen nach draußen. Immerhin haben sie gänzlich unverhofft eine saftige Klatschgeschichte aus dieser insgesamt recht unerfreulichen Veranstaltung mitnehmen können. Und das sättigt um einiges nachhaltiger als jedes noch so leckere Lachshäppchen.
1
Rebecca Silberschmied kommt nach Unterrichtsschluss am Goethe-Gymnasium gegen 13:30 Uhr bei ihrem Großvater an. Sie isst dort zu Mittag und verlässt kurz darauf das Haus im Frankfurter Westend, um nach Sachsenhausen zu fahren und dort mit ihrer besten Freundin für einen Test in Chemie zu pauken. Die zerknitterte U-Bahnfahrkarte in ihrer Hosentasche belegt dies später; einen Rückfahrschein finden die Ermittler nicht. Die junge Frau besitzt keine Monatskarte, weil sie in Fußnähe zu ihrer Schule wohnt und sich deshalb eine solche nicht für sie lohnt.
Und da auch ihre Freundin später aussagt, dass sich Rebecca für mehr als zwei Stunden in ihrer Wohnung aufgehalten hat, fokussiert sich die Suche nach ihr auf die Umgebung der U-Bahn-Station, an der sie nach menschlichem Ermessen ihre Heimfahrt hätte antreten sollen.
Die Beamten, die sofort nach Eingang der Vermisstenanzeige ausgeschwärmt sind, um nach möglichen Augenzeugen zu suchen, erfahren - wie zu vermuten - im Westend nichts Verwertbares. Dagegen glaubt eine Zeitungsverkäuferin in Sachsenhausen gesehen zu haben, wie ein Mädchen von einem Mann angesprochen wird und kurz darauf in ein Auto steigt – oder eher hineingeschubst wird, als dass sie es freiwillig tut. Das Fahrzeug ist dunkel und sehr gepflegt, vielleicht ist es ein BMW oder Audi. Den Mann, der das Mädchen angesprochen hat, kann sie nur ungenau beschreiben. Er sei groß gewesen, mit Glatze oder Kurzhaarschnitt.
Der Beamte, der mit der Verkäuferin gesprochen hat, hat dieser Aussage den Hinweis hinzugefügt, dass die Frau trotz der frühen Stunde der Befragung (ca. elf Uhr vormittags) deutlich nach Alkohol riecht, und dass sie offensichtlich ein starkes Mitteilungsbedürfnis besitzt, wenn sie getrunken hat. Beides entwertet ihre Aussage möglicherweise ganz, zumindest aber teilweise. Ein Witzbold hat mit Bleistift hinter dem entsprechenden Abschnitt des Protokolls das Wort „Schnapsdrossel“ gekritzelt.
Gefragt, warum sie ihre Beobachtung nicht schon am Vortag der Polizei gemeldet hat, kann die Frau das nicht erklären. Der Beamte mutmaßt, dass sie auch zum Zeitpunkt der möglichen Entführung von Rebecca S. alkoholisiert war und deshalb Angst hatte, sich zu blamieren.
Trotz aller Unwägbarkeiten bezüglich dieser Zeugenaussage kann man davon ausgehen, dass das Mädchen auf den wenigen Metern von der Haustür ihrer Freundin zur nächstgelegenen U-Bahn-Station entführt worden ist. Es findet sich trotz aller Bemühungen nirgends eine Aussage, die Zweifel an diesem Sachverhalt aufkommen lässt. Man hat aber jetzt eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wann Rebecca Silberschmied überfallen wurde. Tage später wird der Pathologe feststellen, dass der Tod der Schülerin vermutlich bald darauf eingetreten ist, wobei er damit eine Zeitspanne von einigen Stunden meint. Daraus folgt für Kommissar Schuchardt von der Mordkommission, dass es bei diesem Verbrechen nicht um Lösegeld gegangen ist.
Die Freundin der Toten weint und weint, und zwischendurch erfahren die Beamten, dass gemeinsames Chemielernen im Wesentlichen bedeutet, dass sie zwei Stunden lang über die Jungs in ihrer Klasse lästern und sich zwischendurch eine große Pizza kommen lassen, etwas, das bei Rebecca zuhause nicht möglich wäre, denn ihre Eltern und der Großvater haben eine ziemlich vorsintflutliche Meinung zu Fast Food (und nebenbei auch zu Jungs).
Rebecca trägt eine weiße Bluse, als sie bei Claudia eintrifft; sie zieht sie aber direkt nach ihrer Ankunft aus und setzt sich in einem nabelfreien Top auf den Balkon, ein weiterer Akt zivilen Ungehorsams gegen die restriktive Jugendpolitik in ihrer Familie.
Den Gedanken, dass die mutmaßlich Entführte einen festen Freund haben könnte, empfindet ihre Freundin als abwegig. Ihre Eltern würden sie eher in einem Kohlenkeller anketten als eine solche Liaison zuzulassen. Sie sei auch mit Sicherheit noch Jungfrau, ansonsten wüsste sie als ihre engste Vertraute es bestimmt. Der Pathologe wird auch das bestätigen, was eher nebenbei geschieht angesichts all der Gräueltaten, die Rebecca Silberschmied zugefügt worden sind. „Verkrustetes Blut an den Innenseiten beider Oberschenkel“, spricht er resigniert in sein Diktiergerät, bevor er an diesem Tag nach Hause geht, um einen Joint zu rauchen, mindestens so groß wie ein Ofenrohr.
Mutmaßliche Entführung in der Nähe einer U-Bahn-Station nachmittags gegen siebzehn Uhr dreißig. Dunkles Fahrzeug, großer Kerl mit kurzem Haar plus ein Fahrer. Viel ist das nicht.
Sofort schickt die Polizei ein paar Spezialisten zur Wohnung der Familie Silberschmied, lässt das Telefon an ein Aufnahmegerät koppeln und wartet auf einen Anruf, der in den üblichen ersten vierundzwanzig Stunden nicht eingeht. Dann tritt der Vater des Mädchens auf den Plan und verbietet den Beamten die weitere Überwachung. Zu groß sei das Risiko, dass die Entführer Wind davon bekommen und ihre Tochter das büßen muss.
Am Morgen nach dem Verschwinden von Rebecca fallen ein paar Beamte im Goethe-Gymnasium ein und befragen ihre Freunde und Freundinnen einzelnen und parallel in mehreren eilig geräumten Klassenzimmern. Von den Mädchen wollen die Beamtinnen unter anderem wissen, ob Rebecca vielleicht von irgend einem Jungen besonders hartnäckig angehimmelt wird. Doch diese Spur führt offenbar nirgendwo hin, und man lässt sie fallen, sobald zwei Stunden später die Aussage der Zeitungsfrau vorliegt. In der zehnten Klasse fährt noch niemand einen Wagen der Oberklasse; also kann es kein durchgedrehter jugendlicher Verehrer gewesen sein.
Man überprüft selbstverständlich auch die Kartei der polizeibekannten Sexualstraftäter und unter diesen welche, die wegen Übergriffen auf junge Mädchen eingesessen haben und erst vor kurzem wieder entlassen worden sind. Von diesen kommen vier in die engere Auswahl, und die Polizei rückt mit Spezialeinheiten aus, um diese aufzusuchen und zur Sache zu befragen.
Einer der vier liegt im Krankenhaus, einer ist unterwegs in Südfrankreich, ein dritter hat ein einwandfreies Alibi. Der vierte Mann wohnt bei seiner Mutter, und er erklärt, dass er spezielle Medikamente nimmt, die ihn impotent machen. „Sie könnten mir Marilyn Monroe nackt und in High Heels auf den Schoß setzen, und bei mir würde sich absolut nichts rühren.“ Nach einem Anruf bei seinem Arzt und nach einer einvernehmlich entnommenen Blutprobe lässt man den Mann schweren Herzens in Ruhe.
2
„Wir haben es der Kleinen anständig besorgt, Chef, und jetzt wollen wir wissen, wann Sie endlich mit der Kohle rüberkommen.“ – „Ihr solltet mich doch in nächster Zeit nicht abrufen, ihr Idioten!“
„Die Jungs sind ungeduldig, sie wollen feiern. Und wir sind auch keine Idioten. Wir wissen, wann es Zeit zu säen ist, und wir wissen, wann es Zeit zu ernten ist.“
„Ich muss morgen Mittag zur Bank. Ich hab solche Summen nicht unter dem Kopfkissen liegen. Sagen wir, achtzehn Uhr in eurer Wolfsschanze. Und vorher kein weiterer Kontakt, ist das klar?“
„Klar. Nichts für ungut, Richling. Wir sind alle noch ein bisschen durch den Wind nach dieser Aktion.“
Wolfsschanze nennen sie einen kleinen Schrebergarten in Frankfurt-Rödelheim, der den Großeltern eines Mitglieds der Bande gehört und den sie ungestört nutzen dürfen, weil ebendiese Großeltern nicht mehr mobil genug sind, um noch Gartenarbeit zu verrichten. Zum Grundstück gehören eine kleine Hütte mit einem Kühlschrank und ein Elektrogrill unter einem kleinen Vordach. Die Bande trifft sich hier regelmäßig während der Saison von April bis Oktober. Im Garten hängt an einem neun Meter hohen Mast eine große Deutschland-Fahne - eine Reichbürgerflagge und die noch härteren Sachen zieren die Innenwände der Hütte und werden in einer alten, abschließbaren Holztruhe verwahrt, wenn die Jungs nicht anwesend sind.
Richling trainiert im Garten seine beiden Dobermänner Adolf und Joseph, als sein Handy summt. Die Viecher sind zu dämlich, um einer mannshohen Strohpuppe an die Kehle zu gehen, aber sie kosten ihn ein Vermögen an Frischfleisch. Immer wieder beißen sie sich an den längst zerfetzten Beinen fest, obwohl er ihnen schon ein dutzend Mal gezeigt hat, wie man es richtig macht. Naja, vielleicht macht die Hitze den Burschen genauso große Probleme wie ihm. Er schmort seit Tagen im eigenen Saft, und im Fernsehen sagen sie, dass dieses verfluchte Wetter noch sehr lange so oder vielleicht noch schlimmer weitergehen wird.
Wenn man den Zeitungen vom heute früh glauben kann, hat seine Jungschar gute Arbeit geleistet. Das Judenmädchen lebt nicht mehr.
Aber seltsamerweise ist er nicht wirklich zufrieden, sein Triumph ist nicht vollkommen. Vielleicht liegt es daran, dass die Medien kaum ein Wort darüber verlieren, auf welche Weise die kleine Prinzessin um die Ecke gebracht worden ist. Nur eine einzige Zeitung hat das Ganze ein „grausames Verbrechen“ genannt, alle anderen Drecksblätter haben nur erwähnt, dass die Leiche gefunden wurde. Das fühlt sich für ihn so an, als sei er um etwas Wichtiges betrogen worden. Etwas, das er nicht genau benennen kann, das er aber deutlich fühlt.
Fünfzig Riesen hat er sich den Spaß kosten lassen, obwohl ihn bald nach der Vereinbarung des Deals der Verdacht kam, dass er das Ganze auch für einen Bruchteil dieser Summe hätte haben können. Seine Jungs sind doch angeblich vom selben Schlag wie er. Stattdessen zocken sie ihn ab und lachen sich wahrscheinlich hinter seinem Rücken über ihn kaputt.
Er hat ein paar Wertpapiere verkaufen müssen, die in den letzten vierundzwanzig Monaten etwa ein Drittel ihres Kurswertes verloren haben und deshalb tun ihm die fünfzigtausend doppelt weh. Vielleicht sollte er nachverhandeln, wenn sie sich morgen treffen. Schließlich sitzen sie im selben Boot, und er hat die Bande mindestens ebenso sehr in der Hand wie diese ihn.
Er spritzt seine Hunde mit dem Wasserschlauch ab, bei diesen äußeren Bedingungen ein herrlicher Spaß für die Bestien. Danach sperrt er sie in ihren Zwinger und geht ins Haus, um selbst zu duschen. Während er sich vom kühlen Nass berieseln lässt, versucht er sich vorzustellen, wie es wäre, wenn jetzt Gas anstelle von Wasser aus der Brause käme. Das ist ein wenig beklemmend, aber nicht wirklich unangenehm. Es muss nur die richtigen Leute treffen, dann ist die Vorstellung gar nicht so schlimm.
Er trocknet sich ab, zieht einen Morgenmantel an und setzt sich an seinen Computer, um ein paar Wertpapierpositionen zu liquidieren. Dann transferiert er die Erlöse auf sein Girokonto und ruft seinen Bankberater an, um ihm zu sagen, dass er morgen Nachmittag achtzigtausend Euro in bar braucht. Der Mann faselt etwas über die Gefahr von Bargeschäften, und Richling lässt ihn reden. Nach ein paar weiteren Sätzen gibt der Berater nach und sagt ein wenig verschnupft, es sei schließlich Richlings Geld.
So ist es, du Penner!
3
Schuchardts Katze tut, was sie immer tut, wenn dieser versucht, morgens die Zeitung zu lesen. Kaum, dass er sich an den Küchentisch gesetzt hat, springt sie auf den Tisch und legt sich – schnurrend wie ein Rasenmäher – auf genau diese Zeitung und ist mit friedlichen Mitteln nicht mehr zu vertreiben. Das hat er nun davon, dass er dieses dumme Tier aus dem Heim geholt und zu sich genommen hat. „Runter mit dir, du Räuber, sonst bringe ich dich zurück zu der alten Schabracke. Da kenne ich gar nichts.“ Das dumme Tier bleibt unbeeindruckt und schnurrt einfach weiter.
Er hat den kleinen Kerl aus dem Tierheim geholt. Das war vor acht Wochen, nachdem er einen kniffligen Fall gelöst hatte und auch dabei einige prominente Landespolitiker in sein Visier geraten waren. Danach haben sie sie ihn eine Zeitlang wie einen Nestbeschmutzer behandelt und seine Arbeit argwöhnisch beobachtet.
Dieser Sturm hat sich inzwischen – seit alle Fakten auf dem Tisch sind – wieder gelegt. Er aber fühlte sich danach so einsam, dass er sich den lange gehegten Wunsch nach einer Katze erfüllte. Das Resultat dieses Entschlusses liegt nun auf seiner Morgenzeitung und grinst ihn spöttisch an.
Aber Schuchardt steht heute ohnehin nicht der Sinn nach Zeitungslektüre. Man hat das Mädchens im Stadtwald gefunden. Rebecca Silberschmied, noch nicht einmal ganz fünfzehn Jahre alt. Sie war zuletzt gesehen worden, als sie in ein wartendes Fahrzeug einstieg, vor inzwischen vier Tagen.
Er hat schon geahnt, dass diese Geschichte schlimm ausgehen wird, denn den verzweifelten Eltern des Mädchen ist bis zum späten gestrigen Abend keine Lösegeldforderung zugestellt worden. Das ist für gewöhnlich kein gutes Zeichen.
Der Kommissar verzichtet an diesem Morgen auf feste Nahrung, denn ihm steht ein Besuch in der Pathologie des Uniklinikums bevor, und dieser – man hat ihn vorgewarnt - soll unappetitlich werden. Multiple schwere und schwerste innere und äußere Verletzungen.
Den Beamten, der ihn angerufen hat, weist er an, die Eltern noch nicht zu informieren. Er selbst wird diese traurige Pflicht erfüllen, denn der Fall wird ohnehin bei ihm landen, weil es jetzt Mord ist und nicht mehr nur Kidnapping. Und wenn er von Anfang an dabei ist, erfährt er mehr, als wenn er solche Dinge einem Kollegen überlässt.
Man hätte bei der Familie des Mädchens eine Genehmigung zur Obduktion einholen können, hat aber darauf verzichtet. Mord ist Mord, und da steht Landesgesetz über religiösen Vorschriften. Die Eltern von Rebecca sind nicht gerade ultraorthodox und hätten wahrscheinlich sowieso zugestimmt. Bei allem ist Eile geboten, denn der Leichnam muss so schnell wie möglich beerdigt werden. Und zwar per Erdbestattung, denn Verbrennung ist bei Juden nicht üblich.
Sein erster Weg wird ihn also in die Pathologie führen, denn er will vorbereitet sein, wenn die Fragen der Angehörigen und der Presse auf ihn einprasseln. Denn das werden sie unausweichlich tun.
Schuchardt ist erst vor ein paar Tagen aus einem einwöchigen Urlaub im Schwarzwald zurückgekehrt, wo er mit seiner Katze in dem Renchtal-Städtchen Oppenau in einer Ferienwohnung gewohnt, dreimal täglich gut und reichlich gegessen und den Stress der letzten Monate durch ausgedehnte Wanderungen in der Umgebung abgebaut hat. Er muss kein Hellseher sein, um zu wissen, dass der Erholungseffekt dieser Woche schnell wieder aufgebraucht sein wird.
„Na, Bobby“, fragt er seinen Kater, „meinst du auch, dass das eine böse Geschichte wird?“ Aber dieser hat sich offenbar noch keine Meinung zu diesem Fall gebildet, und überhaupt sind Kategorien wie Gut und Böse für einen vier Monate alten Kater noch kein Thema.
„Katze 1, Schuchardt 0“, brummt der Kommissar.
Schuchardt hat nicht die geringste Lust auf diese Ermittlung - ein totes Mädchen, und als ob das nicht genug wäre, ein jüdisches Mädchen, das impliziert vielleicht eine politisch motivierte Tat durch Nazis oder andere Judenhasser, beispielsweise aus der islamistischen Ecke, und das ganze Paket riecht überhaupt nicht verlockend. Das ist schlüpfriges Parkett, auf dem man nur zu leicht ausrutschen und sich das Genick brechen kann. Ihm liegt der Fall schon seit Tagen schwer im Magen, obwohl er von dem Hintergrund der Tat und dem Tod des Mädchens noch gar nichts gehört hat; nein, allein deshalb, weil Rebecca aus einer der angesehensten Frankfurter Familien kommt und er von Beginn an skeptisch war, was ihre Überlebenschancen anging.
Und so ist es dann gekommen. Er hat es schon gewusst, als er an diesem Morgen die SMS vom Polizeipräsidenten gelesen hat. „Rückruf, aber bitte sofort!!!“ Schuchardt mag keine Nachrichten mit drei Ausrufezeichen, egal, von wem sie kommen.
Er setzt Bobby in die oberste Höhle seines Kratzbaums, sagt ihm, er solle die Stellung halten, bis er wieder nach Hause kommt.
Danach zieht er eine leichte Windjacke an, um in ihren Taschen Handy, Schlüssel und ein paar Kirschbonbons zu verstauen; dann verlässt er die Wohnung. Es ist so warm, dass er auch nur in Badehose und Strandlatschen hätte ausgehen können. Nur tut man so etwas nicht, wenn man sich auf den Weg zu einem Mordopfer macht.
4
Die Mitglieder der Gang treffen sich schon zwei Stunden vor dem mit Richling anberaumten Termin, um ihre Darstellung der Tat aufeinander abzustimmen. Es ist nicht alles gut gelaufen vor vier Tagen, weiß Gott nicht, denkt der Anführer der Bande, der gerade seine Krawatte lockert. Er ist direkt von seiner Arbeit im Backoffice einer Frankfurter Großbank hierher zur Wolfsschanze gefahren, denn es war nicht mehr genügend Zeit, um nach Hause zu fahren und sich umzuziehen.
Aus Angst vor Gewittern (die dann aber ausgeblieben sind) haben sie nach dem letzten Treffen den Stecker des Kühlschranks im Gartenhäuschen gezogen, mit dem Resultat, dass sie vorläufig nur lauwarmes Bier trinken werden.
Das Mädchen ist lammfromm gewesen, nachdem sie es in ihren Wagen verfrachtet haben. Kreidebleich und viel zu verängstigt, um Fragen zu stellen. Schockstarre wahrscheinlich, oder aber eine Vorahnung dessen, was ihr gleich zustoßen würde.
Aber nicht das Opfer treibt ihn im Moment um, das ist tot und vergessen. Es sind zwei seiner Jungs, die ihm Sorge bereiten.
Der kleine Detlev hat keinen hochgekriegt, als er an der Reihe war, sich mit der kleinen Jüdin zu vergnügen. Das hat zwar beim Rest der Bande hämisches Gelächter hervorgerufen, bei ihm selbst aber haben die Alarmglocken geläutet.
Und später, als alles vorbei war, hat derselbe Detlev noch an Ort und Stelle unter einen Baum gekotzt. Er ist einem solchen Stress nicht gewachsen, und das ist beunruhigend. Er kann sich lebhaft vorstellen, was Richling dazu sagen wird und er überlegt, ob es nicht besser ist, es ihm zu verschweigen.
Wegen der Sache mit dem Ritzen der doppelten Acht könnte er sich selbst ohrfeigen. Er hätte Rocco, den sie wenig liebevoll auch „das Frettchen“ nennen, aufhalten müssen. Aber das hat er versäumt, weil es ihm im ersten Moment als richtig erschien, ihre Unterschrift unter den Mord zu setzen. Schließlich ist es nicht nur das Geld gewesen, das sie zu dieser Tat bewegt hat. Sie wollten der Welt zeigen, dass sie sich dem Kampf gegen das sich ausbreitende Judentum verschrieben haben, und zwar mit Taten anstelle der üblichen Stammtischparolen oder eilig hingeschmierten Graffitis an der Mauer eines jüdischen Friedhofs.
Wenn er Richling richtig verstanden hat, dann ist diese Sache ein persönlicher Rachefeldzug für etwas, das mindestens eine Generation zurückliegt. Ihm selbst ist das an sich egal, aber er weiß, dass Emotionen zu Fehlern führen können, und er kennt Richling noch nicht besonders gut.
Also, einer mit weichen Knien und ein anderer mit einer weichen Birne, Detlev und das Frettchen bereiten ihm umso größeren Kummer, je länger er über sie nachdenkt. Vielleicht sollte er beide in einen unbefristeten Urlaub schicken, sie irgendwo für eine Weile zwischenparken, bis der ärgste Rummel vorbei ist. Würde Detlev den Bullen in die Hände fallen würde er in kürzester Zeit umfallen und die ganze Truppe mit sich reißen.
Zu allem Überfluss sind sie allesamt polizeibekannt. Wenn also die Bullen zwei und zwei zusammenzählen, werden sie damit beginnen, ihre Neonazi-Kartei zu durchforsten, und dann herrscht Alarmstufe rot.
Draußen vor dem Grundstück hält ein Wagen, das wird wohl Richling sein. Und ja, er steht kurz darauf in der Tür und taxiert jeden Einzelnen in der Hütte.
Dann hält er auf Matthias zu, den einzigen aus der Truppe, den er von Angesicht zu Angesicht kennt. Die beiden haben die Tat gemeinsam geplant, Richling hat ihn mit Informationen über die Familien Silberschmied und Erdmann versehen, die er selbst durch eigene Recherche im Internet und durch Erkundigungen gesammelt hat.
In dem Raum, in dem eben noch eine aufgekratzte Stimmung geherrscht hat, ist es jetzt still geworden. Alle sind gespannt auf den Auftritt des Fettsacks, denn der hat das Geld mitgebracht, auf das sie warten. Und – Matthias hat es ihnen gegenüber beiläufig erwähnt – wo diese fünfzigtausend Piepen sind, gibt es noch mehr zu holen.
„War der Goldrauschengel dort drüben auch dabei?“ Richling hält sich nicht mit Smalltalk auf.
„Ja, und Sie müssen gar nichts sagen, ich werde ihn noch morgen für eine Zeitlang aus der Schusslinie nehmen. Es hat sich gezeigt, dass er einer solchen Sache noch nicht gewachsen ist. Er selbst weiß es noch nicht, aber er fliegt morgen nach Mallorca. Vorerst für vier Wochen, bis dahin sollte sich der Pulverdampf verzogen haben.“