IM AUGE DES FEUERS

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Aus der Reihe: Blackshaw #4
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Kapitel 3

Blackshaw hatte keine Ahnung, wohin er wollte. Er hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, wo er nicht sein wollte. Zum ersten Mal in seinem Leben kam ihm die Chesapeake Bay wie ein Sumpf vor. Er konnte seine eigene Abscheu überhaupt nicht verstehen … diese neue Geringschätzung seiner wunderschönen Heimat. Vielleicht war der Grund auch viel simpler, als ihm lieb war. Alles, was er kannte, jeder, den er liebte, und jeder Ort, der sich tröstend und lebensspendend für ihn anfühlte, war nun von seinen eigenen Gefühlen der Reue verschmutzt.

Er richtete Miss Dotsy nach Südwesten. Der Himmel war klar und die Wellen schwappten mit einer behutsamen Schaukelbewegung, die ihn immer weiter ins Unbekannte trieb. Dann fiel Blackshaw auf, was passiert war. Irgendwann in den letzten vierundzwanzig Stunden hatte er sich offenbar selbst in den Einsatz geschickt, und das ganz ohne irgendwelche Befehle von oben. Er war anscheinend auf der Suche nach Ärger.

Der Windy Point Jachthafen in Calvert County, Maryland, brummte, obwohl es ein Wochentag war. Zur Zeit war Hochsaison. Der Hafenvorsteher hatte aber noch einen Platz für die Saison frei und Blackshaw zögerte nicht lange. In einem Büro gleich neben dem Jachtausrüster, ein äußerst übertriebener Name für den Windy Point Köderladen, schälte Blackshaw vor dem Manager Geldscheine von einem Bündel, bis Miss Dotsys Unterbringung für den Sommer und den Herbst beglichen war. Mit der Anweisung, Miss Dotsy winterfest zu machen, sollte er sich bis November nicht gemeldet haben, ließ er noch mehr Bares springen. Und er hinterlegte außerdem einen Umschlag. Falls er bis zum nächsten Frühling nicht zurück sein sollte, enthielt dieser Umschlag ein Blatt Papier mit einem Namen und einer Telefonnummer. Die darauf genannte Person war bevollmächtigt, Miss Dotsy nach Begleichung jeglicher offener oder unerwarteter Rechnungen abzuholen. Abgesehen von den Standard-Nachlassdokumenten der Navy war Blackshaw noch nie so nahe daran gewesen, für den Fall seines Ablebens vorzusorgen, wenn man die paar Minuten vergaß, in denen er in das gefährliche Ende einer geladenen Flinte gestarrt hatte.

Nun, da Miss Dotsy in guten Händen war, benutzte Blackshaw das Telefon des Managers, um ein Taxi zu rufen. Er schwang seinen Rucksack wieder über seine Schulter, lief zum Eingang des Jachthafens und wartete dort. All das, während er sich größte Mühe gab, sich nicht mit seinem Vater zu vergleichen.

Kapitel 4

Bucky schmeckte ganz okay nach Timon Pardues Einschätzung, aber trotzdem würden Chili-Pferdesteaks niemals an die Köstlichkeiten von Sammys Hot Dog Company an der Bundesstraße 92 herankommen. Seine Feldflasche voller Jack Daniels half ihm beim Herunterspülen. Im Exil, auch im selbstauferlegten Exil, waren Annehmlichkeiten zu genießen und gewisse Standards dennoch aufrechtzuerhalten.

Er hatte sich gut ausgerüstet, bevor er in die Wildnis gezogen war, und hatte sich deshalb nicht neu bevorraten müssen. Der Mangel an menschlichem Kontakt, selbst so geringem, wie er einem beim Schnapskaufen widerfuhr, machte sich mit der Zeit deutlich bemerkbar. Pardue redete mittlerweile schon mit seinen schwindenden Tieren und dachte sich nichts weiter dabei. Mit genug Jack Daniels würde es nicht mehr lange dauern, bis er seine Hosen hochkrempelte und die Sterne anschrie, überzeugt davon, den ungesehenen Massen undokumentierter Eindringlinge aus dem Süden Angst einzujagen. Bevor er das Bewusstsein verlor, murmelte er etwas an die undankbaren Bürger von Cochise County und widmete ihnen ein Gebet, in dem er ihnen die Beulenpest und andere Demütigungen an den Hals wünschte.

Da das übliche Ziel des Abends schon fast in Reichweite war, brauchte Pardue ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass diese neue Stimme nicht seine eigene war, und auch um seine Glock zu ziehen.

Auf nichts Bestimmtes zielend, lallte er mürrisch:»Wer ist da? Zeig dich gefälligst!«

Die Antwort, gedämpft von dazwischenliegenden Felsen, die der Sprecher wohlweislich zwischen sich und den bewaffneten, betrunkenen Pardue platziert hatte, kam sofort.»Ich bin’s, Timon. Sam Wimble. Nicht schießen, bitte! Nimm die Waffe runter, okay?«

«Zeig mir deine Hände«, knurrte Pardue.»Und komm schön langsam ins Licht, wo ich dich sehen kann.«

Es war beinahe Schlafenszeit für Pardue. Er hatte das Feuer deshalb runterbrennen lassen. Wimbles Wampe und die staubigen Spitzen seiner Cowboy-Stiefel waren das Erste, was Pardue zu Gesicht bekam, der Rest seines alten Freundes folgte kurz darauf.

«Bist du allein?«, fragte Pardue.

«Nur Lobo und ich. «Wimbles Bluthund trottete jetzt hinter ihm in den Schein des Feuers.»Ich schwör’, du liest zu viel Louis L’Armour Westernkrimis.«

Pardue holsterte daraufhin seine Waffe.»Zuviel Louis L’Armour Westernkrimis gibt’s gar nicht. Willst du ‘n Drink?«

«Wenn du mich schon so fragst«, sagte Wimble.»Was ist das denn für ein Geruch?«

Als Pardue Whiskey in eine Blechtasse goss, sagte er:»Schätze mal, das ist Bucky. Hab‘ wohl vor dem Braten nicht das ganze Fell abgekriegt.«

Wimble nahm sich einen Moment, um das zu verdauen, und nutzte die Zeit, um aus seiner Tasse zu nippen. Pardue war dankbar für die Gesellschaft, aber Wimble, oder Deputy Wimble, der diensthabende Polizist und erstes Opfer des Richterin-Vasquez-Fiaskos, wäre nicht seine erste Wahl gewesen. Er schaffte es noch nicht mal in die Top 100, was das anging. Aber ein anderes menschliches Wesen war immer noch besser als nichts und sie hatten zusammen gearbeitet und waren beide im Namen der Political Correctness geopfert worden.

«Du hast mich gefunden«, sagte Pardue nach einer Weile.»Willst du dann jetzt die ganze Nacht nur dasitzen oder hast du mir auch was mitzuteilen?«

In Anbetracht der Mühen, die sich Wimble offensichtlich gemacht hatte, um ihn aufzuspüren, erwartete Pardue mindestens eine Entschuldigung für den dümmlichen Schlamassel, der ihn seinen Job gekostet hatte, das war jedoch nicht das, was er bekam.

«Da gibt’s ‘n paar Leute, die nach dir suchen, Timon.«

Das war unerwartet. Pardue hatte nämlich kaum Freunde. Er war seit neun Jahren geschieden und seine Frau hatte sich so schnell und erfolgreich neu verheiratet, dass es ihn immer noch maßlos ärgerte. Er und seine beiden Kinder sprachen auch nicht mehr miteinander. Er war ein strenger und manchmal sogar grausamer Vater gewesen und heutzutage, da Kinder neu definierten, was als Familie galt, und Blutsverwandtschaft offenbar nicht mehr zu zählen schien, wurde Disziplin nicht mehr geschätzt. Pardue gab verweichlichten TV-Psychologen und überladenen Selbsthilfe-Sektionen in Buchläden die Schuld für den Zerfall seines kleinen Clans.

Pardue sagte:»Geht mich nichts an und du sagst lieber keinem, wo du mich gefunden hast. Absolut niemandem. Ich zieh’ sowieso alle paar Tage weiter, nur, dass du’s weißt.«

«Ein richtiger Gesetzloser, vogelfrei. Also bist du morgen Abend hier oder einen Tagesritt weit entfernt?«Wimble war ein richtiger Klugscheißer, aber leider nicht sehr klug. Er hielt Pardue seine Tasse entgegen.

«Sam, was willst du hier?«Pardue wägte bereits die nachlassende Freude an Wimbles Gesellschaft gegen den beträchtlichen Schwund seines Whiskey-Vorrats ab. Wimble war fett, zweifellos, aber eine vergrößerte Leber machte den Großteil seines Bauches aus.

«Ich bin’s nicht allein, Timon. Du bist irgendwie berühmt geworden, nach allem, was passiert ist.«

Pardue schnaubte.»Ich hab die Abstimmungsergebnisse gesehen. Wer auch immer behauptet hat, es gäbe keine schlechte Publicity, ist ein verdammter Idiot.«

«Schätze schon, meistens jedenfalls. Aber wenn sich eine Tür schließt, geht woanders ein Fenster auf.«

Pardue strafte seinen früheren Hilfssheriff mit einem ungeduldigen, stechenden Blick.»Danke für deinen Besuch, Sam. Ist schon spät, du gehst jetzt besser.«

«Klar, Timon. Daheim schläft sich’s schließlich am besten. «Wimble nahm daraufhin Anlauf und kam endlich zur Sache.»Aber wie gesagt, es gibt Leute, die nach dir suchen. Die sind stinksauer, dass man dich den Löwen zum Fraß vorgeworfen hat. Haben die Nase voll vom CBP, das ständig groß ‘rumtönt, es würde was getan werden, und dann passiert wieder nix. Wie sie Teile der Grenze absichern und wir uns allein mit vier oder fünf Mann durchschlagen müssen, wenn wir fünfzig bräuchten. Wir sind jetzt der Flaschenhals. Cochise ist das weit offene Loch im Zaun und die ganzen Illegalen wissen das ganz genau.«

Wimble hielt ihm wieder seine Tasse hin. Pardue wollte sie nicht auffüllen, tat es aber doch. Die Feldflasche wurde immer leichter. Neugier, in Kombination mit Jack Daniels, machte Wimble nun schon beinahe interessant.

Nach einem weiteren großen Schluck sagte Wimble:»Diese Leute, von denen ich rede, die sind sauer, aber die gehören nicht zu denen, die ums Gurkenfass sitzen und rummeckern. Die wollen aktiv werden. «Wimble hatte aktiv besonders betont, auf die gleiche Weise, wie Personalverantwortliche Bewerber mit gepflegter Ausdrucksweise bevorzugten und damit eigentlich keine Ausländer meinten.»Timon, du bist schon so lange hier draußen, dass du gar nicht weißt, dass man dich inzwischen für einen richtigen Helden hält.«

«Ich werde mich ganz bestimmt nicht noch einmal zur Wahl aufstellen lassen.«

Wimble sah für einen Augenblick verwirrt aus, dann setzte er wieder diesen verschwörerischen Blick auf.»Niemand hat gesagt, dass du wieder für das Sheriff-Amt kandidieren sollst. Diese Leute, von denen ich rede, die haben keine Zeit für diesen Quatsch, genauso wenig wie du. Himmel, die Hälfte von denen glaubt, dass es überhaupt kein politisches Amt mehr gibt, das noch einen Pfifferling wert ist. Die glauben noch nicht einmal an Politik. Die sind eher proaktiv. Die handeln selbstbestimmt.«

 

Pardue konnte sich nun nicht mehr zurückhalten, deshalb fragte er:»Wer sind die

«Rancher, Viehzüchter hauptsächlich. Sogar welche, deren Farmen nicht an die Grenze stoßen.«

Pardue verstand das Ganze jetzt langsam besser.»Ach du Scheiße, Wimble. Die Kerle haben ‘nen Hass auf die Illegalen, aber die wollen genauso sehr Rabatz machen, weil sie ihre Weidegebühren nicht zahlen wollen. Die hören den ganzen Tag America, Why I Love Her, als wär’s die Gettysburg-Ansprache.«

Wimble plusterte sich empört auf.»Mach‘ dich bitte nicht über den Duke lustig, Timon. Nicht vor diesen Jungs. Ich meine, John Wayne ist für die ein Held. Aber er ist nicht hier, um jemanden anzuführen, Gott hab ihn selig. Und es sind nicht nur Kerle. Es gibt auch ‘ne Frau im Komitee.«

«Adele Congreve. «Pardue spuckte ins Feuer.

Wimble schaute ihn überrascht an.»Das stimmt.«

Pardue kannte Miss Adele, wie sie sich gern nennen ließ, ziemlich gut. Eine dynamische, wohlhabende, ordinäre Frau, die von ihrem Ehemann, dem Viehzüchter und Ölmagnaten Ricky-Ray Congreve, beerbt worden war. Sie war irgendwo in den Fünfzigern, wahrscheinlich für immer, und gehörte zur festen Einrichtung des Stadtrats. Davor hatte sie bei allen Meetings in der ersten Reihe gesessen und ihre diversen preisermäßigten Schönheitsreparaturen und – operationen, Einspritzungen und Absaugungen zur Schau gestellt. Die Frauen der Rancher hatten ihrer Double-R-Ranch die Bezeichnung Doppel-D gegeben. Sie wusste das und es war ihr herzlich egal. Die Frau kontrollierte ihre Zäune immer noch selbst und packte mit an, soviel war sicher.

Congreve reiste immer von ihrer Ranch zu den Ratstreffen in Bisbee in einem Konvoi aus nicht weniger als drei geschwärzten, gepanzerten Chevy Suburban. Die Einheimischen tauchten immer bei den Meetings auf, um darauf zu wetten, welcher der drei Wagen sie letzten Endes ausspucken würde, da sie aus Angst vor Kidnappern jedes Mal in einem anderen Wagen fuhr.

An heiteren Tagen, wenn Adele Congreve nicht so sehr nach einer Parade war, flog sie mit dem Hughes OH-6 Cayuse ihres verstorbenen Mannes zum Helikopterlandeplatz des Copper Queen Hospitals. Es war eine ausrangierte Version des AH-6 Kampfhubschraubers, den Ricky-Ray in Vietnam geflogen hatte, und er hatte seiner Frau beigebracht, ihn ebenfalls zu fliegen. Mit Adeles bewaffnetem Bodyguard auf dem linken Sitz erinnerte es noch mehr an das Killer-Ei, das ihr Mann auf seinen Missionen geflogen hatte. Sie landete normalerweise auf dem Dachlandeplatz der neuen Notaufnahme, für den sie bezahlt hatte, um ihr Oxycodon-Rezept abzuholen, was sie nur in ihrer Freizeit nutzte oder wenn Ricky-Rays Abwesenheit ihr besonders zusetzte.

Mit dem Rezept in der Hand verließ sie die Notaufnahme immer in einem der drei Suburban, die vor der Tür auf sie warteten. Adele verabscheute die illegalen Einwanderer, die von der Grenze aus über ihr Grundstück wanderten. Dies kam einigen Leute reichlich verlogen vor, da die Mutter ihres geliebten Ricky-Rays selbst aus Chiapas stammte.

Auf die Erwähnung ihres Namens hin dachte Timon Pardue nicht zum ersten Mal darüber nach, dass Adele Congreve eine komplexe und vielleicht missverstandene Frau war.

«Und was will sie von mir?«, fragte Pardue nun.

«Sie will sich nur mal mit dir treffen. Sie und ein paar andere«, erklärte Wimble.

«Mir gefällt’s hier aber ganz gut.«

«Dann trefft euch doch hier. Timon, die meinen’s ernst. Du bist ihr Mann. Lass sie doch einfach mal reden.«

Timon war inzwischen gelangweilt und einsam genug, um intelligente, verständnisvolle und bemitleidende Gesellschaft nicht einfach abzulehnen. Jetzt den Schüchternen zu spielen, würde nur bedeuten, den durstigen Wimble noch länger hierzuhaben, als Pardue lieb war.

«Sam, mir ist wirklich egal, was diese Leute vorhaben. Wenn sie sich hier rausschleppen wollen, um mit mir zu reden, kann ich sie nicht davon abhalten. Das ist schließlich ein freies Land.«

«Damit hast du verdammt recht, Timon. Und wir wollen sicherstellen, dass es das auch bleibt.«

Kapitel 5

Blackshaw hatte seinen Platz im Bus mit Bedacht auswählen wollen, aber vergebens. Alle Fensterplätze waren bereits besetzt und er schloss auch die hinteren Plätze nahe der stinkenden Toilette aus. Außerdem sah er davon ab, dort zu sitzen, wo schwergewichtigere Passagiere vermutlich wegnicken würde und Ellbogen und Schultern über die Armlehne in sein Territorium überquellen würden. Man konnte sich schließlich nicht ewig in den Gang lehnen.

Nach einer kurzen Beurteilung setzte sich Blackshaw schließlich leise neben einen weißen Burschen, der auf linker Seite in der Mitte des Busses gegen ein Fenster gelehnt döste. Der Typ war Anfang zwanzig, mit geschorenem Kopf und einem kleinen Verband an seiner rechten Schulter. Der Verbandsmull sah einigermaßen frisch aus und die Jeans und das Unterhemd des Jungen wirkten sauber. Er war spindeldürr und seine Füße hatten sich gemeinsam mit seinen kantigen Knien und Ellbogen in all den richtigen Stellen der Armlehne und des Kanals der Klimaanlage an der Seitenwand verklemmt, um ihn in aufrechter Position zu halten, obwohl er tief und fest schlief. Ja, Blackshaw hatte das schwarze Klappmesser in seiner rechten Hosentasche durchaus bemerkt, aber das war für Jungs heutzutage normal. Zu guter Letzt und vielleicht am allerwichtigsten, war es, dass der Junge nicht schnarchte.

Der Bus fuhr pünktlich von der Haltestelle in Washington, D.C. los in Richtung Los Angeles. Blackshaw musste in Richmond und Oklahoma City noch einmal umsteigen, aber der dritte Bus würde ihn den Rest des Weges bis zur Stadt der Engel bringen. Blackshaw hatte erst kürzlich eine ziemliche Menge Ärger bei der Jagd auf einen Sniper namens Nitro Express in Los Angeles gehabt, aber er verspürte dennoch den Drang, den Ort des Geschehens noch einmal zu besuchen. Er hielt LA für das absolute Gegenteil von Smith Island, sogar noch fremder als das New York seiner Erinnerung, von wo aus er in die Nitro Express-Geschichte verwickelt worden war. Der Big Apple war immerhin noch eine Insel, wenn auch knapp sechshundert Meter mit Glas und Stahl in die Höhe gebaut, und Blackshaw hatte Inseln definitiv satt.

Er sah aus dem Fenster, als der Bus den Potomac überquerte. Er erinnerte sich an ein Linienflugzeug, das in den frühen Achtzigern auf dem Weg nach Tampa auf die Brücke und danach in den eisigen Fluss gestürzt war. Nur fünf Passagiere hatten überlebt. Vier Autofahrer waren ebenfalls auf der Brücke ums Leben gekommen. Als Inselbewohner sah Blackshaw Brücken nicht nur als Straßen über Wasser an, sondern auch als Überführungen in eine größere Welt. Was die Opfer des Air-Florida-Flugs anging, hatten diese ihre Überführung zwar bekommen, aber Särge und Urnen waren gewiss nicht die erhofften Bestimmungsorte gewesen. Vielleicht waren sie am Ende ja doch besser weggekommen. Es kam ganz darauf an, was man von Tampa hielt.

Als der Bus von der Brücke nach Virginia rollte, unversehrt und ohne Zwischenfälle, rührte sich der Bursche neben ihm, grummelte und wachte auf. Für einen Augenblick hatten seine Augen eine schläfrige, jungenhafte Unschuld. Dann, als er vollends wach wurde, rückten gewisse Defizite seiner Persönlichkeit in sein Gesicht und verliehen ihm etwas Rattiges.

«Was guckst du denn so dumm?«

«Schaue nur aus’m Fenster. Nichts für ungut«, sagte Blackshaw monoton.

Der Junge warf noch einen langen Blick auf Blackshaw, registrierte dessen Größe und den Ausdruck vollkommener Furchtlosigkeit in seinen Augen und nickte dann kurz. Zufrieden, dass der gebührende Respekt, der ihm zustand, gezollt worden war.

Blackshaws Mission erwachte nun wieder in seiner Seele. Er betrachtete den Jungen seinerseits und glaubte, dass eine physische Konfrontation unwahrscheinlich war. Sein Reisegefährte war vermutlich den Großteil seines Lebens gemobbt worden. Er fragte sich, wie tief diese Aufsässigkeit ging, und dachte sich, dass dieser Junge deshalb mit Gemeinheit statt mit Freundlichkeit gegenüber Leuten wie ihm auf das Leid seiner Kindheit reagierte. Da es nur wenige Zielscheiben in der Welt gab, die vor so einem kleinen Scheißer klein beigaben, vermutete Blackshaw, dass er bei der Verübung von Rache Hilfe hatte. Manche, aber zum Glück nur wenige, gingen daraufhin zum Militär. Er war schon Typen wie ihm begegnet. Aber für diesen Kollegen hatte vielleicht auch eine Gang den Zweck erfüllt. Nun war Blackshaw doch neugierig, was sich unter dem Verband verbarg.

«Neues Tattoo?«, fragte er deshalb.

«Farbe auf ‘nem alten. «Der Junge konnte es offensichtlich kaum erwarten, mit seinem Kunstwerk anzugeben, aber aus irgendeinem Grund zögerte er nun.

«Hab‘ auch drüber nachgedacht, mir eins zuzulegen«, sagte Blackshaw.»Zuerst fiel mir nichts ein, womit ich lange glücklich wäre.«

«So jung biste nicht mehr. Brauchst dich damit nicht mehr lange rumschleppen. «Relativ gesehen hatte der Junge vielleicht recht. Er lotete offenbar gerade Blackshaws Frustrationsgrenze aus. Solche Kerle profitierten häufig von der Höflichkeit der restlichen Welt und nutzten diese tief verwurzelten, ungeschriebenen Spielregeln einer zwischenmenschlichen Gesellschaft, um ernsthaftem Ärger aus dem Weg gehen zu können.

Blackshaw würde allerdings nur eine sehr begrenzte Menge an Unsinn von diesem Bengel tolerieren. Mit ruhiger Stimme gab er zu:»Auch wieder wahr. Aber bis ich was finden konnte, was ich mir für den Rest meines Lebens anschauen wollte, war meine Pelle schon zu lädiert, um noch ‘ne gute Stelle zu finden. Hab inzwischen aber trotzdem eins.«

Der Junge setzte sich nun gerader hin und schenkte Blackshaw mehr Aufmerksamkeit.»Lädiert?«

«Narben. Verbrennungen. ‘N paar Kugeln. Ben Blackshaw mein Name.«

Seine Prahlerei hatte offensichtlich den gewünschten Effekt auf den Jungen.»Rufus Colquette. Kugeln, hm? Wie von ‘ner Schießerei?«

«So ungefähr. Mit der Taliban.«

Colquette verzog das Gesicht. Nicht das, was Blackshaw erwartet hatte.

«Du warst bei der Army?«

Blackshaw schob die Konversation langsam voran, von seiner Vergangenheit mehr geschädigt als beschämt.»Navy.«

Colquette guckte selbstgefällig, als hätte er Blackshaws Lüge enttarnt.»Die Taliban hat neuerdings Schiffe?«

«Die Navy hat die SEALs. «Entgegen seiner eher verhaltenen Natur entblößte Blackshaw kurz sein eigenes Schultertattoo eines Adlers, der einen Dreizack, einen Anker und eine Steinschlosspistole in den Fängen hielt. Blackshaw spürte instinktiv, dass an diesem Jungen mehr dran war, als Elend und Angeberei … etwas so Bedürftiges, dass es ihn gefährlich machte.

Inzwischen wirkte Colquette wütend und seine nächsten Worte bestätigten Blackshaws Ahnung.»Oh. Also setzt die Navy sich jetzt für Übersee-Sandnigger ein, Big Ben?«

Blackshaw fragte sich, ob sich der Knoten in seinem Magen auch auf seinem Gesicht abzeichnete.»Ich glaube, dass es an dem Tag eher um Demokratie ging.«

Rufus Colquette schnaubte. Blackshaw vermutete, dass er zu viele Silben verwendet und den Jungen damit verwirrt hatte.

Einen Augenblick später lehnte sich Colquette weit nach links und griff in seine rechte vordere Hosentasche. Nachdem er mit seinen Fingern darin herumgewühlt hatte, als ob er einen Ausschlag kratzte, zog er schließlich etwas hervor, behielt es aber in seiner Hand verborgen.

«Ich zeig’ dir was, großer, böser Ben. Ich zeig’ dir, was ich denke, was den Einsatz eines guten Mannes wert ist.«

Nach einem verstohlenen Blick nach links und rechts, der so deutlich und auffällig war wie der eines Stummfilm-Bösewichts, öffnete er langsam seine Hand.

Blackshaw war sich einen Augenblick lang nicht sicher, was er da ansah. Colquettes Augen brannten, gespannt auf seine Reaktion. Der Gegenstand, ein Knäuel schwarzer, gekräuselter Fäden war mit Fusseln und anderen Staubpartikeln bedeckt. Blackshaw versuchte zu verstehen, was er Colquettes Meinung nach sofort erkennen müsste. Es schien so, als hatte Colquette einen Friseurladen mit mindestens einem schwarzen Kunden besucht und aus Gründen, die einzig und allein ihm bekannt waren, eine Handvoll Haarbüschel vom Boden aufgelesen.

Colquette knetete das Haarknäuel und schob es in seiner Hand hin und her, dann drehte sich Ben der Magen um. Doch er blieb ruhig. Als Colquette das Haar wie einen Massageball drückte, sah Blackshaw, dass dies gar keine losen Haare waren. Ein großes Stück Kopfhaut hielt sie alle zusammen.

«Ich bin auch ein Soldat, Big Ben. «Rufus Colquette betrachtete seine Trophäe mit Stolz.

Angewidert reagierte Ben auf seine Entscheidung, bevor ihm klar wurde, dass er eine getroffen hatte. Er lehnte sich nach vorn und blockierte auf diese Weise die Sicht der anderen Passagiere.»Sei vorsichtig damit, Rufus. Wenn das jemand sieht …«Er überließ den Rest des Satzes Colquettes Vorstellungsvermögen.

 

«Ich hab aber keine Angst. «Doch Colquette knüllte den grauenvollen Gegenstand trotzdem zusammen, bis er wieder in seiner Hand verschwand.

«Schätze nicht. Wo hast du das denn gekauft?«, fragte Ben in der Hoffnung, dass es zu mehr Informationen führte.

«Gekauft?«Colquette nahm offenbar Anstoß an dieser Anschuldigung.»So etwas kann man doch nicht kaufen. Das verdient man sich. Man nimmt es sich!«

«Oh. Okay, Rufus.«

«Und das hab ich getan! Hier, sieh mal!«Colquette schob den langen, schmutzigen Daumennagel seiner linken Hand unter das Klebeband des Verbands an seiner rechten Schulter. Blackshaw lehnte sich nach hinten, um besser sehen zu können. Colquette schälte nun den Verband ab und da war es. Ein Eisernes Kreuz, wund und frisch ausgefüllt mit roter Tinte und mit dunkelblauen oder vielleicht auch schwarzen Streifen, die die roten Felder nach dem Muster der Konföderiertenflagge kreuzten. Darunter stand die Nummer 88.

«Hab‘ ja gesagt, ich bin ein Ritter. Weißte, was ich meine?«

«Glaube schon. «Rufus Colquette gehörte also dem Klan oder etwas in der Richtung an. Oder vielleicht war er auch einfach nur ein Möchtegern-Skinhead, der Hass-Symbole sammelte. Angesichts der Trophäe vermutete Blackshaw, dass dieses Tattoo das Zeichen einer bestimmten Gang war. Die 88 bezeichnete zweimal den achten Buchstaben des Alphabets, also HH oder Heil Hitler.

«Mensch, Rufus. Ich mein’, das is’ ‘n nettes Tat’ und so und die Haare sind auch cool, aber ich mein’, echt jetzt?«

Colquettes Bedürfnis, Blackshaw zu beeindrucken und ihn zu überzeugen, wurde nun immer stärker und verzweifelter. Er deckte das Tattoo wieder ab und griff in seine linke hintere Hosentasche. Nach ein paar Momenten des Wühlens oder des Kratzens, Blackshaw war sich da nicht ganz sicher, zog er ein Handy hervor. Das Smartphone war ramponiert, zerkratzt und ungepflegt. Es war auf jeden Fall ein privates Telefon und kein Wegwerfgerät.

«Guck dir das mal an, Mann. «Colquette öffnete jetzt die Bildergalerie. Er blätterte rückwärts, vorbei an den drei neuesten Fotos. Sie huschten extrem schnell über den Schirm, aber Blackshaw konnte trotzdem erkennen, dass es Aufnahmen von Colquette zusammen mit zwei weißen Männern, die Gewehre hielten, waren. Umgebaute AR-15er. Der Junge hörte nun auf zu blättern.

Wieder einmal sah sich Rufus Colquette auffällig um, um sicherzugehen, dass nur Blackshaw zuschaute. Dann hielt er ihm das Telefon entgegen.

Als Veteran und manchmal nicht ganz ungefährlicher Zivilist hatte Blackshaw schon furchtbare Gemetzel mit eigenen Augen sehen müssen. Leichen, häufig frische, und manchmal auch in einem gewissen Alter. Einmal hatte er auf Patrouille mal einen Arm gefunden. Nur einen Arm, abgefetzt vom Körper bei irgendeiner Explosion. Aber rund um den Arm herum hatte es keine Leiche gegeben. Ein simples Gruppenfoto hätte ihn deshalb nicht so schocken sollen, wie das Bild, das Colquette ihm jetzt preisgab.

Auf dem Foto stand Rufus Colquette neben den beiden Männern von den anderen Fotos. Einer war ein kleinerer, muskulöser Mann, vielleicht Mitte fünfzig, mit kurzgeschorenen grauen Haaren. Er strahlte durch seine gerade Haltung Autorität aus, aber der Ausdruck seiner Augen war der eines Untergebenen und Lakaien. Der andere war nicht viel größer, etwa Mitte vierzig, mit längerem, angegrautem Haar und Muskeln, die langsam Fett wichen. In den Augen des größeren Mannes herrschte eine düstere Leere. Beide Männer trugen khakifarbene Kampfhosen und olivfarbene Hemden, mit akkurat bis zum Bizeps hochgerollten Ärmeln. Sie hatten ihre AR-15er in einer Hand und hielten mit der anderen große Kampfmesser gegen ihre Herzen als eine Art Ehrenbezeugung.

Rechts hielt Colquette ein Messer, vermutlich das, was in seiner Tasche steckte. Die Klinge auf dem Foto war ausgeklappt und voller Blut. Außerdem gab es noch eine vierte Person auf dem Bild. Es war ein Junge, der zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein mochte, aber in Anbetracht seines Zustands war sein richtiges Alter nur noch schwer schätzbar. Der Junge war schwarz, nackt und an einem Baumstamm in einem dichten Wald festgebunden. Es musste ein sehr abgeschiedener Fleck sein, denn angesichts der Wunden des Jungen musste er sehr laut geschrien haben, und trotzdem war er nicht geknebelt.

Blackshaw konnte seine Augen einfach nicht von dem Kopf des Jungen abwenden. An den Seiten waren nur noch ein paar Haare übrig; kleine Büschel über den Ohren. Der Rest des Schädels war eine rohe Glatze aus Knochen und Blut, das in seine Augen troff. Entsetzte Augen starrten Blackshaw an. Unfassbar angewidert begriff Blackshaw, dass der Junge noch gelebt hatte, als das Foto gemacht worden war, doch das Kind hatte die darauffolgende Stunde wahrscheinlich nicht mehr erlebt.

Im krassen Kontrast zu den äußersten Qualen auf dem Gesicht des Opfers stand hingegen das überhebliche, breite Grinsen, das in den Visagen seiner Peiniger zu sehen war. Als sein Blick ein letztes Mal über das Bild wanderte, bemerkte Blackshaw Colquettes andere Hand auf dem Foto – mit der er den Skalp umklammerte.