Die Musik der Zukunft

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1.4 Tele-Theater

Hätte man im April 1911 eine Ausgabe der Zeitschrift Modern Electrics in die Hand bekommen, wäre man da auf eine Anleitung für den »Praktischen Elektriker« gestoßen, außerdem die Beschreibung eines »Kondensators für leistungsstarke Transmitter« sowie einen Bericht über neue Erfindungen aus Europa und verschiedene Leserbriefe (einschließlich einem Brief des damals 15jährigen Lewis Mumford). Gegründet im Jahr 1908, war Modern Electrics das erste Magazin, das sich explizit an ein wachsendes Publikum aus Elektronikfans und Radiotüftlern wandte. Seit den Anfängen umwarb der Herausgeber Hugo Gernsback sein Publikum bewusst als ein selbstbewusstes Netzwerk von Bastlern und forderte sie auf, ihre Gedanken und Aktivitäten mit der Zeitschrift und ihren Lesern zu teilen. Das wichtigste Medium dafür war die Leserbriefspalte.

Im Frühling 1911 veröffentlichte Gernsback jedoch etwas Besonderes. Zwischen Anleitungen und Schaltkreisen fand sich der erste Teil eines von ihm verfassten Romans, mit dem Titel Ralph 124C 41+. Die Geschichte spielt in einem amerikanischen Zuhause im Jahr 2660 und verspricht, »nicht nur eine korrekte Prophezeiung der Zukunft, sondern auch im Einklang mit dem wunderbaren Wachstum der Wissenschaft zu sein.« Gernsback nannte das »Szientifizierung«, doch es sollte nicht lange dauern, bis er diesen Begriff aufgab und sich stattdessen eines anderen, eigentümlichen Neologismus bediente: Science-Fiction. Der Titelheld ist einer von zehn »Superwissenschaftlern« auf der Erde. Ralph, ein Mann der Zukunft, ist das Vorbild für Erfinder auf der ganzen Welt. Mit seinen Kollegen kommuniziert er über einen »Televisor«, seine Notizen überträgt er mithilfe des »Menographen« sofort aus seinem Gehirn und wenn er schläft, dann sendet sein »Hypnobioskop« Kapitel aus Homers Odyssee direkt in seine Träume.

In einer frühen Szene bringt Ralph zwei Gäste in das »Tele-Theater« seines Hauses. Es wird als »großer Raum« beschrieben, im dem sich »eine Art Bühne befand, nicht anders, als es während der langen Geschichte des Dramas üblich gewesen war.« Ein Schaltpult mit Kabeln und Steckern verbindet Ralphs Tele-Theater mit der Aufführung einer Opéra comique namens Das Mädchen aus der Normandie, live in New York. »Die Lautsprecheranlage unterhalb der Bühne und die Akustik des Raumes waren so perfekt«, schreibt Gernsback, »daß man sich kaum der Tatsache bewußt wurde, daß sich das Orchester nicht im gleichen Saal befand, sondern Meilen entfernt im Opernhaus.« Das Tele-Theater ist ein Wunderwerk der Technologie des 27. Jahrhunderts, es kann perfekte Bilder einer Aufführung an einem anderen Ort senden. Jeder Schauspieler erscheint in Lebensgröße und sieht täuschend echt aus, der Televisor überträgt ihre Stimmen kristallklar. »In der Pause«, so fährt die Geschichte fort, »erzählte Ralph, daß jedes New Yorker Theater bereits über 200000 Abonnenten besaß, und daß Musik- und Theaterfreunde in Paris und Berlin ebenfalls die Möglichkeit hatten, New Yorker Vorstellungen zu abonnieren.«

Was mich an dieser Passage beeindruckt, ist, wie sehr sich Gernsback Mühe gibt, Gestalt und Form der Oper, so wie er sie kennt, zu erhalten. Schauspieler, Sänger, Bühne und Szenerie, alles stammt direkt aus der Oper des 19. Jahrhunderts, vollkommen unberührt von den neuen Kommunikationsmitteln; vielmehr wird das Innere des Hauses so gestaltet, dass es ein kleines Opernhaus enthalten kann, komplett mit Bühne und Vorhang.

In gewissem Sinne gibt es diese Vorstellung noch heute. Man sieht das bei Opern, die auf DVD veröffentlicht werden sollen oder einer der vielgepriesenen Übertragungen aus der New Yorker Met oder dem Royal Opera House in London. Sie werden in einem Stil gefilmt, der irgendwo zwischen Rockkonzert und Fernsehdrama liegt, die Bildsprache wirkt unweigerlich falsch und deplatziert. Es dauert nicht lange und die plötzlichen Close-ups und die auffälligen Aufnahmen der Krankamera verderben einem die Freude an der Musik und der Geschichte. Niemand scheint begriffen zu haben, was Robert Ashley schon vor dreieinhalb Jahrzehnten erkannte, nämlich dass eine Oper im Fernsehen nur dann funktioniert, wenn sie als Fernsehoper konzipiert wurde. Diese Haltung findet sich prägnant in einem spekulativen Artikel für Opera News von Philip Kennicott aus dem Jahr 2012. Der Autor stellt sich eine Zukunft vor, in der »das ›Opernhaus‹ einfach ein Raum ist, überall auf der Welt, ausgestattet mit der Technik, um eine vollständige 3-D-Version einer Live-Oper zu projizieren.« Und trotzdem gibt es für den Autor darin immer noch einen »Siegmund, der zu einer holographischen Sieglinde singt.«

Kennicott kann sich eine vollständige Verwandlung der Art und Weise, wie die Oper dargestellt und erfahren wird, vorstellen, aber scheinbar nicht eine Verwandlung der Oper selbst. »Es könnte eine Lagerhalle in Topeka sein«, fährt er fort, »oder eine leere Bühne in einem alten Kino, das nicht mehr benutzt wird.« Scheinbar denkt Kennicott, dass Don Giovanni dann einfach dorthin teleportiert wird, ohne dass die geänderten Umstände eine Rolle für die Oper als solche spielen, ganz so wie das Tele-Theater Gernbacks. Doch zu einer gewissen Zeit im 20. Jahrhundert gab es durchaus die Idee, dass die neuen Schläuche der internationalen Telekommunikation auch einen neuen Wein vertragen könnten.

Im Mai 1927 wurde ein amerikanischer Luftpostpilot namens Charles Lindbergh schlagartig berühmt, nachdem er allein und nonstop von New York nach Paris flog und zwar in einer Rekordzeit von 33,5 Stunden. Die hastig nur zwei Monate nach der Reise veröffentlichte Autobiographie Lindberghs Wir zwei stellte den Flug weniger als eine Ein-Mann-Mission, sondern vielmehr als Gemeinschaftsprojekt dar, als symbiotisches Unternehmen von Mensch und Flugmaschine. Bertolt Brecht, damals ein junger Dramatiker in Berlin, war von dieser Vorstellung zweifellos gefesselt. Fasziniert erdachte er selbst eine Verbindung von Mensch und Maschine, ein Stück, das die Technologie der Massenmedien nutzen sollte, um die einfachen Menschen zu inspirieren und zu animieren. Er entschied sich, eine Oper speziell für das Radio zu komponieren.

Brecht hätte das Stück nicht als Oper bezeichnet. Er stand dem Begriff äußerst misstrauisch gegenüber. Zu viel Ballast. Tatsächlich war Brecht skeptisch gegenüber der Musik überhaupt und bevorzugte das, was er »Misuk« nannte, beispielsweise den »Gesang arbeitender Frauen in Hinterhöfen an den Sonntagnachmittagen«, wie sein Freund, der Komponist Hanns Eisler sich erinnerte. In der Misuk dürfe »niemand einen Frack tragen, und da wird nichts zeremoniert.« Doch die Lehrstücke, die Brecht zu jener Zeit schrieb, waren im Grunde Theaterproduktionen mit gesungenen Dialogen, oft beruhten sie zu großen Teilen auf der Musik von Kurt Weill und Paul Hindemith, die als Komponisten von Anfang an in die Arbeit involviert waren. Sie wurden auch im Großen und Ganzen als Musik wahrgenommen: Sie wurden in Musikzeitschriften besprochen und hatten bei großen Musikfestivals ihre Premiere. Der Lindberghflug, das Lehrstück, das Brecht, Weill und Hindemith auf der Basis von Wir zwei schrieben, wurde auf dem »Donaueschingen-Festival« uraufgeführt (wenn auch temporär gut 70 Kilometer weiter nach Baden-Baden verlegt), damals einer der wichtigsten Veranstaltungen für zeitgenössische Musik. In Stil und Inhalt gleicht das Stück den Opern aus der Zeit, wie Arnold Schönbergs Von heute auf morgen, Ernst Kreneks Jonny spielt auf und Hindemiths Neues vom Tage. Es gibt allerdings einen zentralen Unterschied zwischen Der Lindberghflug und seinen Zeitgenossen: In dem Stück klafft eine Lücke an der Stelle, wo der Protagonist eigentlich sein sollte.

Die Idee bestand darin, wenn das Stück gesendet wird, den Part Lindberghs offen zu lassen und stattdessen Textblätter an das Publikum zu verteilen, damit sie selbst in ihren Küchen mitsingen, mitsprechen oder mitsummen können. In Baden-Baden wurde das Stück auf einer in der Mitte geteilten Bühne aufgeführt. Das Orchester und andere Rollen waren schwarz gekleidet auf der einen Seite, auf der anderen Seite saß Josef Witt in einem lo­ckeren Hemd in der Kulisse eines Esszimmers und sang den Part von Charles Lindbergh, so als ob er das Haus niemals verlassen hätte. Zu Beginn ging Brecht durch das Publikum und versuchte die Anwesenden zu überreden, sich doch das Stück von draußen über die dort aufgestellten Lautsprecher anzuhören, gleichsam um das Stück nicht ohne eine Vermittlung durch Technologie zu genießen. Die meisten Leute ignorierten ihn.

Trotz vieler Bearbeitungen in den nächsten Jahren wurde Der Lindberghflug niemals ohne die Hauptstimme im Radio gespielt, wie eigentlich gedacht. Kein Radiopublikum sollte jemals den Part des Protagonisten übernehmen. Doch im selben Jahr, als der echte Lindbergh über den Atlantik flog, war ein gerade in Amerika angekommener Emigrant namens Edgar Varèse fasziniert von der Idee einer Radiooper. Die Geschichte, die er inszenie­ren wollte, war gewissermaßen aus einer anderen Welt.

»Ich werde mich bei meinem nächsten Stück entspannen«, schrieb Varèse an einen Freund im November 1928, »und mir selbst den Luxus erlauben, im Jahr 3000 zu leben.« Über zwanzig Jahre lang sollte der Komponist seine Pläne für das Werk immer wieder revidieren; er änderte den Namen (mal hieß es The One-All-Alone, dann L’Astronome und später Espace), den Autor des Librettos (zu verschiedenen Zeiten Alejo Carpentier, Robert Desnos, Antonin Artaud und André Malraux) sowie immer wieder die Form und die technischen Mittel. Was relativ gleich blieb, war die Geschichte eines Astronomen, der in seinem Observatorium sitzt und Funknachrichten von einer außerirdischen Zivilisation in einer weit entfernten Galaxie empfängt.

 

Aus dieser Grundidee erträumte Varèse ein Stück, das die erste Multimediaoper im modernen Sinne des Wortes hätte sein können. Von elektronischer Musik war in den Dreißigerjahren noch keine Rede. Das hinderte Varèse nicht daran, sie geradezu per Willenskraft zu imaginieren; er hatte den Plan, Lautsprecher in die Aufführungshalle zu hängen, um elektronisch generierte Klänge durch den Raum zu schicken. Niemand – außer Geistesverwandte wie Hugo Gernsback – hatte auch nur eine Vorstellung von telematischen Aufführungen, aber dennoch wollte Varèse Sänger an den vier Enden der Welt platzieren, die per Funk miteinander verbunden wären und deren Gesang drahtlos in eine Art Paleo-Cyberspace gesendet würde. Es sollte farbige Lichter geben, Filmprojektionen, Akrobatik auf der Bühne, Klänge von Sirenen und Flugzeugpropellern. Der Höhepunkt des Stückes sollte ein wahres Chaos sein: Die Börse bricht zusammen, ganze Schiffsflotten versinken und ein wütender Mob stürmt die Bühne und selbst Charles Lindbergh stürzt vom Himmel.

Doch das Stück kam niemals zustande. Varèse verbrachte Jahrzehnte mit der Arbeit daran, ging wieder und wieder durch das Libretto und notierte genug musikalische und dramaturgische Ideen für den Rest des 20. Jahrhunderts. Nur ein paar Fragmente der Partitur sowie ein unfertiger, abgelehnter Librettoentwurf sind erhalten.

Am Ende war die Idee für The One-All-Alone oder L’Astronome oder Espace vielleicht einfach zu bombas­tisch, um sie wirklich zu realisieren. Teile wurden jedoch in andere Arbeiten aufgenommen. Wie der Gott Hönir, der von einer Welt in die andere wandert, erhalten wir hier und da verlockende Einblicke in das Material, das in die Oper eingegangen wäre: Ein Fragment aus der Arbeit an dem Stück wurde eine eigenständige Komposition, Ionisation, das erste Stück im westlichen Musikkanon, das ausschließlich für Perkussionsinstrumente geschrieben wurde; die »Klangstrahlen«, die ursprünglich durch Ondes Martenots erzeugt werden sollten, kehren in den Pfeifgeräuschen am Anfang des Poème électronique wieder, das Varèse für den Philips-Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel 1958 komponiert hatte; und Déserts, das einflussreiche Stück für Orchester und Tonband aus den frühen 1950er Jahren, arbeitete mit einigen radiofonen Elementen. Varèse gelang es, zwei Sender zu überreden, zeitgleich die Uraufführung zu übertragen, so dass die Hörer mit zwei Radios das Stück in Stereo hören konnten.

»Was mich an Varèse interessiert«, schrieb Henry Miller 1945 in Der klimatisierte Alptraum, »ist die Tatsache, dass es für ihn unmöglich zu sein scheint, Hörer zu finden.« Millers Essays versammelten einige Beobachtungen des Autors, der nach dem selbstauferlegten Exil in Frankreich in sein Heimatland zurückkehrte und dort einen Roadtrip unternahm. Zu jener Zeit, in den 1940er Jahren, zog Varèse eine eigentümliche Form der Faszination auf sich, so als wäre er kein Künstler, sondern ein verrückter Wissenschaftler, mit ewig gerunzelter Stirn und immer an der Kamera vorbeischauend. Seine Musik galt als kalt und verkopft – es gab sogar das Gerücht, dass die Wissenschaftler des Manhattan-Projekts während ihrer Arbeit Varèse hörten.

Woanders als in Oak Ridge und Los Alamos wurde seine Musik allerdings kaum aufgeführt – und wenn, dann fand sie keinen Gefallen. Kein Komponist des frühen 20. Jahrhunderts hat so viel über sein Publikum nachgedacht, dem Verhältnis zwischen Stück und Zuhörer so große Bedeutung beigemessen und wurde dabei doch so zurückgewiesen, wie Edgar Varèse. Bei der Premiere von Hyperprism lachte das Publikum die ganze Zeit; während einer Aufführung von Dèserts gab es laute Zwischenrufe. »Was Varèse betrifft«, schrieb Miller, »so ist seine Situation umso unverständlicher, weil seine Musik entschieden die Musik der Zukunft ist.«

1.5 Ätherophon

»Auf der Terrasse eines jener Himmelspaläste, die unsere Insel von Manhattan einmal überziehen werden, sitzt der New Yorker der Zukunft im Zwielicht und zupft aus dem blauen Äther seine Musik (…) Streck die Hand aus. Führe den Äther (…) Eine hohe, dünne Note, die zur Erhabenheit anschwillt, erschallt aus der Imagination des Menschen der Zukunft.« So wurde in den Seiten des New York American der russische Erfinder Lev Sergejewitsch Termen im Dezember 1927 in den Vereinigten Staaten willkommen geheißen.

Obwohl zunächst als ganz prosaische Alarmanlage gedacht, musste Termens Erfindung – die er »Ätherophon« nannte, obwohl die meisten bald den Namen »Theremin« bevorzugten – einer Art akustischen Fernwirkung gleichen, einer so faszinierenden Technologie, dass sie der Zauberei nahekam. Hugo Gernsback brachte in einer seiner Zeitschriften eine Titelgeschichte mit einem Bild des »Orchesters der Zukunft«: Es handelt sich um 16 Theremins auf einer Bühne und einem seine Hände bewegenden Dirigenten.

In den Jahren, in denen sich Varèse mit seinem Astronome abmühte, waren sich Musik und Science-Fiction so nah wie nie zuvor. Opern wie Karl-Birger Blomdahls Aniara brachten die Raumfahrt auf die Bühne; die Geschichte handelte von den letzten überlebenden Erdlingen, die in einem computergesteuerten Raumschiff durchs Weltall fliegen. Komponisten wie George Antheil und Hans Stuckenschmidt experimentierten mit »Maschinenmusik« und entlockten Grammophonen und Walzenklavieren schräge, ungelenke Rhythmen. Die ersten elektronischen Musikinstrumente kamen aus den Erfinderstuben und wurden jedes Mal von der Presse als Verkünder der Musik der Zukunft gepriesen.

Gernsback selbst hatte zwei Geräte patentieren lassen, mit denen sich Elektroimpulse in Klang verwandeln ließen: das Staccatone und das Pianorad. Bei beidem handelte es sich um polyphone Tasteninstrumente, die mithilfe von röhrenbetriebenen Oszillatoren reine Sinustöne erzeugen und kombinieren konnten. Er veröffentlichte auch Anleitungen für die Leser zu Hause, damit sie sich ihren eigenen Theremin bauen konnten – Anleitungen, die die Aufmerksamkeit des jungen Robert Moog erregten, einige Jahre bevor er seinen ersten modularen Synthesizer konstruierte.

Ab den 1950er Jahren war Termens Erfindung aufgrund der vielen Einsätze in Science-Fiction-Filmen wie Der Tag, an dem die Erde stillstand und Das Ding aus einer anderen Welt untrennbar mit Außerirdischen und Ufos assoziiert. Der wabernde, silberne Klang und die schrillen Glissandi schienen zum Zeitgeist des Weltraumzeitalters zu passen und stachen unweigerlich aus den geballten Streichorchestern Hollywoods heraus, wenn ein Regisseur das Unmenschliche oder Unheimliche evozieren wollte oder wenn wenig überzeugend kos­tümierte Marsianer sich näherten. Die Assoziation war bereits in der Titelgeschichte Hugo Gernsbacks angelegt, schon wegen der Darstellung des »Orchesters der Zukunft«, die den Raumstationen und fernen Welten, die sonst das Cover zierten, sehr ähnelte.

Was diesen Erwähnungen in der Presse abging, war ein Verständnis dafür, dass sich die Musik – in ihrem ästhetischen und gesellschaftlichen Gehalt – wirklich verändern könnte. Der Theremin und ähnliche Geräte (ob es nun Gernbacks Staccatone oder so eigentümliche Erfindungen wie das Trautonium, das Sphärophon oder der Croix Sonore waren) wurde begeistert begrüßt, galten jedoch eher als technische Neuheiten wie 3-D-Brillen. Sie waren kurzlebige Modeerscheinungen, die man bestaunte, aber schnell wieder vergaß und die die Art und Weise, wie die Menschen über Musik und Klang dachten, unangetastet ließen. Der Dirigent von Gernsbacks Orchester der Zukunft trug immer noch einen Frack und dirigierte autokratisch. Vorführungen der neuen elektronischen Musikinstrumente bezauberten das Publikum mit Versionen von Bach und leichten Opernstücken. Varèse war einer der wenigen Komponisten, der Stücke eigens für den Theremin schrieb; die Partitur von Ecuatorial enthielt neben Stimmen für Blas- und Schlaginstrumente und Bass auch Stimmen für zwei Theremins. Doch selbst er änderte später die Partitur und ersetzte sie durch die besser geeigneten Ondes Martenots.

Die bekannte Werbestrategie in jüngerer Zeit, neue Musiktechnologie damit anzupreisen, dass »jeder Klang, den man sich vorstellen kann« damit erzeugt werden könne, ist bereits in den Bastlermagazinen Mitte des 20. Jahrhunderts präsent. Das Werbematerial für den von RCA angebotenen kommerziellen Theremin nannte ihn das »universale Musikinstrument«. Jörg Mager behauptete von seinem Sphärophon, dass es eine »neue Ära der Musik« einleite und ging so weit, das Gespenst aus Shakespeares Hamlet zu zitieren: »Es gibt mehr Musik, als unsere Schulweisheit sich träumt.« Und die Ether-Minstrel-Konsole von Dynatron verkündete nicht weniger als eine »Perfektion des Klangs«. Jede Ausgabe dieser Zeitschriften versprach eine neue musikalische Utopie – für einen Spottpreis. Selbst beim Blick in die Sterne wurden die Klänge der Zukunft domestiziert und ihr utopisches Versprechen kommerziellen Interessen untergeordnet. Die endgültige Verschmelzung von Science-Fic­tion und dem Marktgeschrei erfolgte auf der Weltausstellung in New York 1939 und 1964, wo der vollautomatische Haushalt der Zukunft mit dem Piepen von elektronischer Musik beworben und von General Motors gesponsert wurde.

Doch das war nicht immer so. Als Gernsback seine erste Science-Fiction-Geschichte schrieb, konnte die Musik der Zukunft noch schockieren und verwirren. Es gab einmal eine Zeit, da war die Zukunft gefährlich.

1.6 Geräuschklänge

Am 9. März 1913 kam es im Theater Constanzi in Rom zu einem Tumult. Der Komponist Francesco Balila Pratella hatte auf seinem Dirigentenpodium alle Mühe, das Orchester bis zum Schluss der Musica Futuristi zu führen; Kohl, Fenchel und Beleidigungen flogen ihm aus dem Publikum entgegen. Eine Gruppe von Freunden des Komponisten um den Dichter und Begründer der italienischen Futuristen, Filippo Tommaso Marinetti verteidigten sich mit ihren Fäusten und Stöcken. Der »blutige Kampf« wurde bald zur Farce. Das halbe Orchester rannte um sein Leben. Doch für Marinetti war die Aufführung ein »wundervoll heroisches Spektakel« und »ein weiterer Sieg für den Futurismus.«

Inmitten des Tumults ersann der »intuitive Geist« eines jungen Malers namens Luigi Russolo eine »neue Kunstform«. Er nannte sie die »Kunst der Geräusche«, eine Musik, die aus der Orchestrierung des »Getöses von Rollläden, der auf- und zuschlagenden Türen, des Stimmengewirrs und Trampelns der Menge, der verschiedenen Geräusche von Bahnhöfe, Eisenhütten, Webereien, Druckereien, der Elektrizitätswerken und Untergrundbahnen« entsteht. Russolo träumte von Konzerten, die den »unerschöpflichen Reichtum der Geräusch-Töne« nutzen. Im Orchester der Zukunft würde nicht mehr gesungen, sondern gebrüllt, geklatscht, gepfiffen, geschnäuzt, gebellt, geschnieft, geflüstert, gegrummelt, gesummt, geknackt, geschlurft, geraschelt, gerufen, gestöhnt, gerattert und geschrien. Er ersann eine Reihe von Geräuschmaschinen – sogenannten Intonarumori – für das Orchester. Sein Entwurf zielte auf nicht weniger als »die große Erneuerung der Musik mit Hilfe der Kunst der Geräusche«.

Der italienische Futurismus trat am 5. Februar 1909 mit einer bezahlten Anzeige auf der Titelseite von La Gaz­zetta dell‘ Emilia in Erscheinung. Marinettis »Manifest des Futurismus« wollte nicht nur »die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.« Es handelte sich auch um eine veritable Form der Mythenbildung und eine Ursprungsgeschichte, die aus einem Marvel Comic stammen könnte, einschließlich einer Wiedergeburtsszene im »mütterlichen Graben«. Pratella war ein früher Anhänger der Bewegung. Er traf Marinetti im August 1910 und veröffentlichte kurz danach das erste futuristische Manifest, das sich direkt an Musiker richtete. In den nächsten zwei Jahren wurden noch zwei solcher Manifeste veröffentlicht, bevor Russolos Die Kunst der Geräusche erschien.

Die Reaktion der Presse kam schnell und gnadenlos. Im September 1912 schürte der Londoner Literary Digest die Angst vor einem »Ausbruch des Futurismus in der Musik«, so als handele es sich um eine unangenehme Hautkrankheit. In den Seiten der Musical Times wurde der Futurismus mal als »dekadent«, »hässliche Exzentrik« oder als »Deformation des Geistes« bezeichnet. In Deutschland fühlte sich der Komponist Hans Pfitzner berufen, eine eigene Tirade zu veröffentlichen: In Futu­ris­tengefahr erklärte er es zur »moralischen Aufgabe«, die Musik vor dem Niedergang und dem »Chaos« zu bewahren.

 

All dies würde nahelegen, dass Rusollo und Pratella einige Bekanntheit erreicht haben müssten. Nur ging es in keinem der Artikel um sie. Die Panik des Literary Digest über die Seuche der Futuristen entzündete sich an einer Aufführung der Musik von Arnold Schönberg. Die Musical Times hatte Igor Strawinski »dekadent« genannt und mit »hässlicher Exzentrik« wurde Cyril Scott bedacht. Niemand von ihnen kam aus der Gruppe um Marinetti. Wer die anglophone Presse nach zeitgenössischen Verweisen auf den Futurismus durchsucht, wird herausfinden, dass die große Mehrheit sich mit Komponisten beschäftigte, die erklärtermaßen nichts mit dem Futurismus zu tun hatten.

Lediglich im Vorbeigehen wurden Russolo und Pratella mit einer Bemerkung in den Kurznotizen der Musical Times vom Januar 1914 abgefertigt, es folgte noch eine zweite Erwähnung in derselben Rubrik im selben Jahr. Ein Bericht im Musical Quarterly im Januar 1916 titelte »Futurismus: Eine Reihe von Negativen«. Es wurden keine Namen erwähnt, aber man verwies auf »speziell hergestellte Maschinen« und könnte damit Russolos intonarumori gemeint haben. An anderer Stelle derselben Zeitschrift wurde bemerkt, dass Pratellas Oper L’Aviatore Dro eines Tages genauer untersucht werden könnte (aber zum Glück nicht jetzt). Ein weiteres Magazin, The Ches­terian, erwähnte Pratella in einem Artikel von 1920, erklärte ihn allerdings für unbedeutend. Und das war’s. Ein paar wenige abschätzige Bemerkungen und die Ankündigung einer zukünftigen Untersuchung, die niemals erscheinen sollte.

Hans Pfitzner hatte Futuristengefahr geschrieben, nach­dem er ein Pamphlet Ferruccio Busonis mit dem Titel Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst gelesen hatte. Busoni wurde 1866 in der Toskana geboren und lebte seit 1896 in Berlin, er war ein ausgezeichneter Pianist und brillanter Förderer der neuen Musik, obgleich seine eigenen Kompositionen relativ konservativ waren. Sein Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst wiederum war nicht weniger als eine Tour de Force. »Frei ist die Tonkunst geboren«, erklärt er feierlich und fährt fort, die »Gesetzgeber« zu verdammen, die sie in eine strenge Orthodoxie sperren wollen.

Der Aufsatz spricht davon, ein neues »ernstliches Suchen« zu beginnen, neue Formen der Notation zu erproben, neue Teilungen der Oktave und neue Stimmsysteme. »Schaffenskraft«, so Busoni, sei »umso erkennbarer, je unabhängiger sie von Überlieferungen sich zu machen vermag.« Als Edgar Varèse ein Student am Pariser Konservatorium war, fiel ihm eine Ausgabe des Büchleins in die Hände. Sobald er konnte, fuhr er nach Berlin und klopfte an Busonis Tür, um sich von ihm unterrichten zu lassen. Pfitzner jedoch erinnerte all das »an Romane von Jules Verne« und er erklärte die Schrift zu »futuristischem Kitsch.«

Tatsächlich war Busoni kein Futurist. Zwar traf er Marinetti später bei einer futuristischen Ausstellung in Berlin und kaufte sogar ein Gemälde des futuristischen Malers Umberto Boccioni. Doch in einem offenen Brief an Pfitzner erklärte er, dass er »weit entfernt« von seinen aufgeregten Landsmännern sei. »[N]iemals habe ich mich einer Sekte angeschlossen«, schrieb er in der Vossischen Zeitung im Juni 1917. Der »Futurismus (…) konnte zu meinen Argumenten keine Beziehung haben.«

Es ist allerdings möglich, dass Pfitzner mit seiner Kampfschrift Motive verfolgte, die wenig mit musikalischer Ästhetik zu tun haben. Immerhin hatte sich Pfitzner erst 1916, nach der zweiten Ausgabe von Busonis Entwurf, zur Niederschrift begeben. Zu jener Zeit befand sich Europa im Krieg und Pfitzners eigene Oper, Palestrina, tourte als Propagandaveranstaltung des Außenministeriums durch die Schweiz. Könnte der wahre Grund seines Aufsatzes darin gelegen haben, Busoni wegen seiner Verbindung mit den künstlerischen Agitatoren eines Feindeslandes als Eindringling auf deutschem Boden zu denunzieren? Ohne Zweifel hatte seine Schrift einen kriegerischen Ton. In einem späteren Traktat sprach er von der »Impotenz« der modernen Musik (gerichtet vor allem an die Adresse des einflussreichen Kritikers Paul Bekker) und begründete die Sackgasse, in die diese Kunst gerate mit den Machenschaften einer »international-jüdischen Bewegung«.

In dem Buch Future Tense beschreibt die kanadische Historikerin Roxanne Panchasi ein eigentümliches Gefühl in den französischen Schriften über die Zukunft aus jener Zeit. Sie bezeichnet dieses Gefühl als »Vortrauer«. Egal, ob in populären Magazinen, wo der Autor über die Cuisine von 2933 spekulieren soll, aber stattdessen über eine Technologie schreibt, in der »Gehirnwellen« den Menschen erlauben, die Geschmäcker der Vergangenheit nachzuempfinden oder in einem Kurzfilm von Jean Renour, in dem ein afrikanischer Forscher aus dem Jahr 2028 ein in Trümmern liegendes zukünftiges Paris besucht: Überall herrschte, so Panchasi, »eine nostalgische Sehnsucht nach französischen Werten und Kulturgütern, die noch nicht verschwunden waren.« Die Musik erwähnt Panchasi in ihrem Buch kaum, aber das Gefühl, das sie beschreibt, findet sich in den zeitgenössischen Schriften zur Musik – vor allem der Pfitzners. »Wie aber, wenn es anders wäre? Wenn wir uns auf einem Höhepunkt befänden oder gar der Höhepunkt schon überschritten wäre?«, fragte er in Futuristengefahr. »Wenn unser letztes Jahrhundert oder unsere letzten anderthalb Jahrhunderte die Blütezeit der abendländischen Musik bezeichneten, die Höhe, die eigentliche Glanzperiode, die nie wiederkehren wird und der sich ein Verfall, eine Dekadenz anschlösse, wie die nach der Blütezeit der griechischen Tragödie? Mein Gefühl«, so schloss er mürrisch, »neigt vielmehr zu dieser Ansicht.« Ganz ähnlich äußerte sich ein Journalist der Musical Times, nachdem er einen Vortrag des schweizerischen Komponisten Arthur Honegger über die Möglichkeiten, Musik mit mechanischen Walzenklavieren zu machen, besucht hatte; ohne zu zögern evozierte er Bildern eines »großen Feuers«, in dem »Stradivaris und Konzertflügel« brennen und sah Konzerte nur noch als drahtlos und bürokratisch aus einem Zentralbüro in Genf gesteuerte Veranstaltung vor.

Heute neigen wir dazu, jene wenigen Jahrzehnte zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ära des heroischen Modernismus und seiner gewaltigen Gegenreaktion zu sehen – Strawinskys Le sacre du printemps, Schönbergs »Befreiung der Dissonanz« und die Futuristen selbst. Doch je mehr man aus der Zeit liest, umso eindrücklicher spürt man das düstere Gefühl der »Vortrauer« und der »nostalgischen Sehnsucht«.

Der tatsächliche Eindruck, den die Ideen Russolos und Pratellas bei ihren Zeitgenossen hinterließen, scheint minimal gewesen zu sein. Der ganze Aufruhr brachte Russolo trotzdem nur einige wenige Vorführungen seiner Geräuschmaschinen ein. Ein paar Mal traf er sich mit wichtigen Komponisten seiner Zeit, die ihn allerdings in den meisten Fällen nicht ernstnahmen. Strawinsky räumte später ein, seine »Begeisterung nur vorgespielt« zu haben. Sowohl Varèse als auch Maurice Ravel versprachen zu unterschiedlichen Zeiten, Stücke für intonarumori zu schreiben, woraus allerdings nichts wurde. Vielleicht hatten auch sie nur vorgespielt.

Gegen Ende der 1920er Jahre hatte Russolo die Geräuschkunst im Großen und Ganzen aufgegeben und verlor sich stattdessen in einer obsessiven Beschäftigung mit den Mysterien des Okkulten und in faschistischer Politik. In kaum einem Geschichtsbuch der Musik des 20. Jahrhunderts wird er erwähnt. Seine Ideen wären vollständig vergessen, hätte nicht ein paar Jahre später einer der berühmtesten modernen Komponisten der Vereinigten Staaten sie wiederentdeckt.

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