Buch lesen: «Der Haytor Fall»
Der Haytor Fall
Ein Kurz-Krimi aus Dartmoor von Rob Reef
1 Titel
2 Der Fall Haytor
3 Tatortskizze
1 Cover
2 Erzählung
Der Haytor Fall
Von Rob Reef
Professor John Stableford saß im Wintergarten des Moorland Hotels und konstatierte missmutig die dunklen Wolken, die tief über die kargen Ausläufer des Dartmoor zogen. Immer wieder blickte er auf seine alte Grabenuhr, nur um wiederholt feststellen zu müssen, dass das Zeitmessgerät an seinem Handgelenk nicht mit seinem subjektiven Zeitempfinden synchron lief. Im Auftrag des War Office hatte er gemeinsam mit Sir Perceval Holmes, dem dritten Baronet of Durbar, einen kniffligen Mordfall in der Nähe von St. Ives gelöst, und auf dem Rückweg nach London hatten die beiden Freunde entschieden, am Rande des Moors Halt zu machen, um einen späten Lunch einzunehmen. Sie wollten für diesen gerade bezahlen, als sich völlig unverhofft die Sonne zeigte und Holmes spontan darauf bestand, vor ihrer Weiterfahrt noch schnell den ganz in der Nähe liegenden Hügel mit den berühmten Haytor-Felsen zu besuchen. Doch nun war er schon fast zwei Stunden überfällig und die Dämmerung war bereits weit vorangeschritten.
„Professor Stableford?“
Der so Angesprochene fuhr aus seinen Gedanken auf und blickte in das freundlich-forschende Gesicht eines Hotelangestellten.
„Der bin ich!“
„Ein Telefongespräch für Sie, Sir! Ich habe es in den Morning room legen lassen. Dort sind Sie ungestört.“
Er folgte dem jungen Mann, der ihm im besagten Zimmer angelangt den Hörer reichte und sich dann zurückzog.
„Stableford am Apparat!“
„Ich bin verflucht!“, raunte eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Sind Sie das, Holmes?“
„Natürlich!“
„Und weshalb sind Sie verflucht?“
„Nun, bisher dachte ich, Sie würden die Leichen auf unseren gemeinsamen Reisen wie ein Magnet anziehen. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.“
„Was reden Sie da, Holmes! Und wo zum Teufel sind Sie? Haben Sie getrunken?“
„Nein, aber ich könnte ein Glas vertragen!“
„Dann haben Sie wirklich eine Leiche entdeckt? Am Haytor? Mitten am Samstagnachmittag? Es muss dort doch vor Touristen nur so gewimmelt haben!“
„Die meisten Ausflügler waren wohl schon wieder auf dem Weg nach Hause. Aber wie dem auch sei, ich wurde Zeuge eines Mordes. Das heißt, ob es sich um einen Mord handelt, ist noch unklar. Und genau da kommen Sie ins Spiel!“
„Ich? Ich warte seit fast drei Stunden auf Sie, damit wir unsere Heimreise fortsetzen können!“
„Daraus wird wohl nichts, mein Freund!“
„Aber ...“
„Hören Sie, Stableford! Ich kann verstehen, dass Sie so schnell wie möglich zu Ihrer hochschwangeren Frau wollen, aber ich habe nun einmal gesehen, wie ein Mann von der Spitze des Haytor gefallen ist, während er mit Arbeitskollegen für ein Foto posierte. Und da ich der einzige Zeuge bin, der nicht zu dieser bedauernswerten Reisegruppe gehört, besteht die Polizei auf meine Anwesenheit während der routinemäßigen Befragungen. Allerdings konnte ich den eigentlich in Moretonhampstead stationierten Inspektor durch die Erwähnung meiner engen Beziehung zum War Office, einer damit zusammenhängenden und natürlich frei erfundenen dunklen Anspielung auf eine ‚akute Gefährdung der nationalen Sicherheit‘ und nicht zuletzt der Preisung Ihrer detektivischen Meisterschaft immerhin davon überzeugen, dass er die Interviews in einem Pub in Buvvy vornimmt. Das liegt quasi auf dem Weg nach London, und wenn Sie ihren kriminalistischen Spürsinn spielen lassen und es schaffen, den Fall in welche Richtung auch immer zügig aufzuklären, können wir vielleicht sogar noch heute unsere Heimreise fortsetzen! Was sagen Sie dazu?“
„Buvvy?“
„Wie bitte?“
„Wo liegt Buvvy, Holmes?“
„Ah! Sie kommen ja nicht aus der Gegend! Der Ort ist als ‚Bovey Tracey‘ ausgeschildert. Zum Glück habe ich meine Aktentasche bei Ihnen gelassen! Der Autoschlüssel ist im vorderen Fach. Sie müssen nur zur Hauptstraße zurück und rechts abbiegen. Bis zum Red Lion, in dem man uns für die Befragungen untergebracht hat, können es kaum mehr als fünf Meilen sein. Sie können doch Auto fahren, Stableford? Stableford?“
* * *
Fünfzehn Minuten später machte Holmes seinen Freund in einem kleinen privaten Speisezimmer des besagten Pubs mit Inspektor Wallace bekannt. Der korpulente Herr, dessen furchteinflößender Schnauzbart Stableford gefährlich nah kam, schüttelte ihm herzlich die Hand.
„Sir Perceval erzählte mir von Ihrem detektivischen Talent, Professor. Es würde mich freuen, wenn Sie es uns für die anstehenden Befragungen zur Verfügung stellen und uns so einen Besuch der Herren von Scotland Yard ersparen könnten.“
„Natürlich“, entgegnete Stableford ernst. „Wo sind denn ...“
„... die zu Befragenden? Sie befinden sich in der Obhut von Constable Whistler in der Bar. Ich habe jedem von ihnen ein Pint zur Beruhigung bewilligt. Bevor wir hinübergehen, würde ich jedoch vorschlagen, Sie kurz mit den Fakten vertraut zu machen. Wären Sie damit einverstanden?“
„Ausgezeichnet.“
„Nun gut!“, entgegnete der Inspektor, zückte sein Notizbuch und öffnete es. „Gegen sechzehn Uhr näherte sich der hier anwesende Sir Perceval Holmes auf einem Rundweg dem Haytor aus westlicher Richtung, als er, etwa dreihundert Yards vom höheren der beiden Felsen entfernt, eben auf jenem einer Gruppe von Personen gewahr wurde, die sich nach und nach am nördlichen Rand desselben versammelten. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Wolken überraschend verzogen. Die Sonne stand tief, die Luft war klar, und so konnte Sir Perceval sehr deutlich Frauen- und Männergestalten unterscheiden. Ganz vorn, an der Felskante, stand ein Mann, der einen Stock emporhielt, und bis auf zwei andere Männer, die etwas zurückgeblieben waren, gruppierten sich alle anderen Personen dicht hinter diesem. Als Sir Perceval das nächste Mal aufblickte, erkannte er den Grund für das merkwürdige Verhalten der Gruppe. Am Boden - vielleicht dreißig Yards vom Fuße des Felsen entfernt – stand ein junger Bursche mit einer Kamera. Dann –“
„Dann ging alles ganz schnell!“, übernahm Holmes die Schilderung. „Mitten in der Gruppe, die sich gefährlich nahe an der Felskante aufhielt, blitze etwas auf und praktisch im gleichen Moment stürzte der Mann mit dem Stock in der Hand in die Tiefe.“
„Gab es ein Geräusch, welches Sie mit dem ‚Aufblitzen‘ verbinden könnten?“
„Nein. Es war nicht das Mündungsfeuer eines Revolvers, falls Sie darauf hinauswollen.“
„Und er war sofort tot?“, fragte Stableford nachdenklich.
„Ja. Ich bin zwar nur Psychiater, aber ein gebrochenes Genick kann auch ich diagnostizieren.“
„Der arme Teufel hatte praktisch keine Chance“, warf der Inspektor ein. Die Felswand führt an dieser Stelle fast achtzig Fuß in die Tiefe und der Boden ist steinig.“
„Und was geschah dann, Holmes?“
„Oben schrie eine Frau und der junge Bursche mit der Kamera stand plötzlich neben mir und sprach von Mord!“
„Er benutzte tatsächlich dieses Wort?“
Holmes räusperte sich. „Nicht direkt. Aber er äußerte den Verdacht, dass das Opfer nicht von selbst das Gleichgewicht verloren haben könnte.“
„Nannte er Ihnen denn einen Grund für seinen Verdacht?“
„Nein.“
„Und haben Sie eine Erklärung für das von Ihnen beobachtete ‚Aufblitzen‘?“
„Nun, die Sonne stand mir im Rücken. Ich nehme an, dass irgendein Gegenstand ihr Licht reflektierte.“
„Und das quasi im Moment des Sturzes!“, sagte der Inspektor bedeutungsschwer. „Wenn es sich tatsächlich um einen Mord handelt, könnte das sogar den Täter überführen, meinen Sie nicht auch, Professor?“
„Sie denken, er wurde gestoßen und in dieser Bewegung spiegelte vielleicht das Glas einer Armbanduhr oder irgendein anderer Gegenstand, den der Täter an oder bei sich trug, die Sonnenstrahlen?“
„Möglicherweise.“
„Sind das denn alle – ‚Fakten‘?“
„Mehr oder weniger“, antwortete der Inspektor und blickte zu Boden. Er war sichtlich enttäuscht und hatte wohl Stablefords zynischen Unterton bemerkt. Aber hatte er tatsächlich geglaubt, dass sich allein aus diesen dürftigen Beobachtungen ein Tathergang rekonstruieren ließe?
„Der Tote ist ein gewisser George Cunningham“, fuhr Wallace nach einer kurzen Pause fort. „Er war Anfang dreißig und gehörte wie der Rest der Reisegruppe zum Büropersonal von ‚Wolsey & Wolsey‘, einer Käserei aus der Nähe von Exeter.“
„Dann handelt es sich um einen von dieser Firma organisierten Ausflug?“
Der Inspektor nickte.
„Haben Sie denn bereits mit den Befragungen begonnen?“
„Nein. Wir haben lediglich die Personalien aufgenommen. Sir Perceval bestand darauf, auf Sie zu warten.“
„Sehr gut. Dann möchte ich – falls Sie nichts dagegen haben, Inspektor - vorschlagen, den Ablauf ein wenig zu ändern und nicht in den Schankraum hinüberzugehen. Vielmehr sollten wir die Personen hier, in diesem Zimmer, einzeln befragen. Und beginnen sollten wir, denke ich, mit dem jungen Mann, der das Foto machen wollte. Wenn es sich um einen Mord handelt, ist er als Täter wohl auszuschließen. Würden Sie ihn hereinrufen, Holmes?“
„Sicher.“
* * *
„Was wissen Sie bereits über ihn?“, fragte Stableford an den Inspektor gewandt, während er begann seine kurze Bulldog-Pfeife zu stopfen.
„Sein Name ist Thomas Miller. Er ist achtzehn und arbeitet seit zweieinhalb Jahren als Botenjunge bei Wolsey & Wolsey. Er ist ein entfernter Verwandter von Walter Wolsey, dem Firmenbesitzer, der übrigens auch mit von der Partie ist.“
„Genau wie sein Sohn!“
Die scharfe Stimme kam von der Tür her und gehörte Thomas Miller, einem jungenhaften, schlanken Burschen mit blassem Teint und roten Haaren, der nahezu unmerklich mit Holmes eingetreten war und sich nun fast ängstlich im Zimmer umsah. Er wirkt wir ein frisch in die Falle gegangenes Tier, dachte Stableford. Er hatte Mitleid mit dem jungen Mann und wunderte sich zugleich über den offen anklagenden Ton seiner ersten Bemerkung.
Inspektor Wallace blätterte derweil in seinem Notizbüchlein. „Sie meinen Michael Wolsey?“
„Sicher. Der Chef hat ja nur einen Sohn! Und der stand genau hinter Georg, als es geschah!“
„Sie kannten das Opfer gut?“, fragte Stableford freundlich.
„Er war mein Freund!“
„Ihr Verlust tut mir leid, Mr Miller. Wir würden Ihnen dennoch gerne ein paar Fragen stellen.“
„Fragen Sie! Aber nennen Sie mich Tommy! Alle tun es. Und bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Sir“, fuhr er an den Inspektor gewandt fort, „ich will Michael Wolsey nicht beschuldigen, aber er und George mochten sich nicht und ...“, er schien nach einer passenden Formulierung zu suchen, „... und George verlor nicht einfach nur das Gleichgewicht!“
Der kostenlose Auszug ist beendet.