Buch lesen: «Der Steinheimer Torturm»
Rita Renate Schönig
Der Steinheimer Torturm
Regionalkrimi
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Steinheimer Torturm
Inhalt:
Impressum
Montag – 16. Sep. 2019 / 06:45 Uhr
Dienstag – 17. Sept. / 03:45 Uhr
Mittwoch – 18. Sept. 2021 / 08:14 Uhr
Donnerstag – 19. Sept. 2019 / 08:30 Uhr
Geschichte zum Steinheimer Torturm
Autoren Vita:
Danken möchte ich
Impressum neobooks
Der Steinheimer Torturm
7. Fall aus der Reihe
Seligenstädter Krimi
Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Teile des gesprochenen Textes sind im Seligenstädter Dialekt verfasst und daher, die Grammatik betreffend, nicht regelkonform.
Inhalt:
Auf einem Grundstück im Gewerbegebiet wird ein Toter gefunden. Der Schuss mitten in die Stirn entspricht der gleichen Vorgehensweise wie bei den Morden an zwei osteuropäischen Männern, deren Identität noch nicht geklärt werden konnte.
Die Recherchen des Teams um Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener ergeben, der Waffendiebstahl im MEK (Mobiles Einsatzkommando) und die Ermordungen, hängen zusammen.
In den Fokus der Ermittlungen rücken sowohl die Inhaber der Import/Exportfirma Petrow wie auch Viktoria Graf, ein Model, wohnhaft in Seligenstadt mit eigener Agentur in Litauen und Verbindungen zu den reichsten Männern im Ostblock.
Impressum
Texte © Copyright by
Rita Renate Schönig
Bildmaterialien © Copyright by
Rita Renate Schönig
Postfach 1126
63487 Seligenstadt
Mailadresse: buch@rita-schoenig.de
Homepage: www.rita-schoenig.de
ISBN: 9783754917800
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert, in einem Abrufsystem gespeichert, in irgendeiner Form elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.
Ermittlerteam – Präsidium Offenbach K11
Nicole Wegener, Erste Kriminalhauptkommissarin
Harald Weinert, Kriminalhauptkommissar
Lars Hansen, Kriminalhauptkommissar
Dietmar Schönherr, Kriminaloberkommissar
Andreas Dillinger, Kriminaloberkommissar und Lebenspartner von Nicole
Staatsanwaltschaft:
Falk von Lindenstein und Felix Heller
Gerichtsmedizin:
Dr. Martin Lindner (Doc) und Viktor Laskovic
Seligenstädter Polizeistation:
Josef Maier, Polizeihauptkommissar/ Dienststellenleiter
Hans Lehmann, Polizeioberkommissar
Berthold Bachmann, Polizeikommissar
Hobby-Soko – Seligenstadt:
Helene Wagner, ehemalige Vermieterin und
mütterliche Freundin von Nicole Wegener
Herbert Walter, Lebensgefährte von Helene
Ferdinand und Bettina Roth, Freunde von Helene und Herbert
Gundula (Gundel) Krämer, Nachbarin
Georg (Schorsch) Lenz, ehemaliger Nachbar
Brigitte (Britschitt) Diaz,Freundin von Schorsch
Hessische Ausdrücke
de Bibbs hole – eine Erkältung bekommen
wutzeferkelisch – schweinig
Montag – 16. Sep. 2019 / 06:45 Uhr
Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener wälzte sich seit etwa einer Stunde in ihrem Bett von rechts nach links, immer darauf bedacht Andy ihren Lebenspartner nicht zu wecken. In der Sekunde, in der sie entschied aufzustehen, klingelte ihr Handy. Das Display zeigte den Namen ihres Kollegen Weinert. Hastig schnellte ihr Arm unter der Decke hervor und gleichzeitig berührten ihre Füße den weichen Teppichboden.
Kaum hatte sie die Schlafzimmertür hinter sich zu-gezogen, sagte sie: „Harald, was gibts?“
„Guten Morgen, Nicole. Wir haben eine Leiche, im Gewerbegebiet Nord in Seligenstadt. Die Kollegen des KDD informierten mich gerade. Ich dachte, ich sage dir Bescheid, bevor du im Büro bist und wieder retour musst.“
Nicole schmunzelte. Manchmal hatte der 41-Jährige eine etwas antike Ausdrucksweise.
„Ich informiere Lars und fahre dann auch gleich los. Dietmar bleibt im Büro und wartet auf unsere Infos, damit er mit den Recherchen beginnen kann. Du wirst vermutlich eher vor Ort sein.“
„Nur, wenn du mir sagst wohin genau.“
„Ach ja. Nordring, Firma Petrow Import – Export. Josef und sein Team sind schon dort und sorgen für die Absperrung. Bis gleich.“
Kriminalhauptkommissar Weinert legte auf und hinter Nicole schlich Andy an die Kaffeemaschine, gähnte und fuhr mit einer Hand durch seine kurzen strubbeligen, nach allen Seiten abstehenden braunen Haare.
„Normal oder Espresso?“
„Normal mit Milch. Wird heute nicht mein Letzter sein“, antwortete Nicole und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Sorry, dass ich dich geweckt habe.“
„Hast du nicht. Ich habe seit Stunden nur noch geduselt.“
Weshalb er selbst ein Schlafproblem hatte, lag nicht an Nicoles ruhelosem hin - und herwälzen, sondern, weil er mit einem Konflikt zu kämpfen hatte und nicht wusste, wie damit umgehen.
Durch ihre gleichartige Tätigkeit war der gedankliche Austausch zu den akuten Fällen im heimischen Wohnzimmer zur Gewohnheit geworden und führte fast immer zum gewünschten Erfolg für beide Seiten.
Im Widerspruch dazu stand derzeit die Information, die Andy von einem Kollegen des MEK erhalten hatte, dem ein Verfahren drohte, er aber steif und fest behauptete unschuldig zu sein. Dass der Vorgang mit Nicoles noch immer nicht identifizierten Leichen und der Razzia in einem Offenbacher Wohnhaus in Verbindung stand, machte die Situation für den Kriminaloberkommissar nahezu un-erträglich; hatte er doch seinem Bekannten gegenüber Stillschweigen zugesagt.
Er stellte zwei Kaffeebecher unter den Automaten, holte die Milchtüte aus dem Kühlschrank und fragte: „Was ist passiert?“
„Eine Leiche im Gewerbegebiet Nord. Mehr weiß ich auch noch nicht. Harald und Lars sind unterwegs und Josef mit seinen Kollegen bereits vor Ort“, setzte Nicole ihn in Kenntnis und verschwand im Bad.
„Ich fahr dich“, rief Andy ihr hinterher.
„Ich denke, du wolltest dich um den Garten kümmern?“
„Mach ich ja auch. Kann aber sein, dass ich noch zur Gärtnerei muss und den Wagen brauche.“
Seit etwa neun Monaten war Kriminalhauptkommissar Andreas Dillinger beim Kriminaldauerdienst. Zuvor hatte er einige Jahre in den Katakomben, wie das Archiv des Polizeipräsidiums unter Kollegen allgemein genannt wurde, verbracht.
Dies resultierte nicht aus einer Strafversetzung heraus, sondern weil er – nach einem Polizeieinsatz, bei dem er physisch wie auch psychisch Schaden genommen hatte – sich selbst dorthin zurückgezogen hatte. Doch, seit er und Nicole ein Paar waren und er wieder direkten Draht zur Polizeiarbeit erlebte, hatte er immer öfter gespürt, dass ihm etwas fehlte.
Das Bedürfnis, in den aktiven Dienst zurückzukehren, veranlasste ihn schließlich sich zu bewerben.
Der Job im KDD war zwar nicht die erste Wahl, aber die bestmögliche Gelegenheit. Nur gingen seine Arbeitszeiten nicht mit denen Nicoles konform und wurde, mit nur einem Fahrzeug, für sie beide eine Herausforderung.
Gedanklich lag die Anschaffung eines Zweitwagens schon lange in der Luft, bloß hatten sie bisher keinen gemeinsamen Termin in den Autohäusern zustande-gebracht.
Wie sich jetzt wieder zeigte, gab es dafür dringenden Handlungsbedarf.
Nach einer kurzen Dusche und Zähneputzen, rannte Nicole ins Schlafzimmer, zog sich an und holte ihre Heckler und Koch P30 aus dem Safe. „Wir brauchen unbedingt ein zweites Auto!“
„Ja, besser wäre das“, stimmte Andy zu.
Montag / 07:15 Uhr
Nicole und Andy erreichten ihren Zielort. Blinkende querstehende Polizeifahrzeuge und Kollegen der Schutzpolizei verhinderten, dass Unbefugte das Gelände der Firma Petrow betraten oder verließen.
„Guten Morgen verehrte Kollegin. Oh, heute mit Privatchauffeur, chic. Hallo Andy.“ Polizeihauptkommissar Josef Maier, Chef der Seligenstädter Polizeidienststelle, reichte beiden die Hand.
„Wer kann, der kann“, ging Nicole schmunzelnd auf die Bemerkung ein.
„Ich will unseren Garten winterfest machen und brauche vielleicht den Wagen, um noch einige Dinge zu besorgen“, erklärte Andy.
„Tja, so ein Haus macht Arbeit. Davon kann euer Kollege bestimmt auch ein Lied singen.“ Maier nickte in die Richtung des ankommenden Fahrzeugs, dem kurz darauf Kriminalhauptkommissar Harald Weinert entstieg.
Seit vier Monaten bewohnten er, seine Lebensgefährtin Dr. Marion Haus und Emma, ihre mittlerweile 2-jährige Tochter, eine stilvolle Stadtvilla in Offenbach nur einige Straßen vom Polizeipräsidium entfernt. Ein wahrer Glücksfall für die kleine Familie.
Vor Emmas Geburt war Marion leitende Ärztin der psychiatrischen Abteilung in einer Einrichtung für >Betreutes Wohnen< in Bad Nauheim und deshalb die ideale Nachfolgerin eines in den Ruhestand gehenden Psychologen und Psychiaters in Offenbach. Nach nur einem kurzen Gespräch und einer Besichtigung der Praxisräume kauften Marion und Harald das noble Stadthaus; nicht ahnend, welche Arbeit sie sich mit dem großzügigen Anwesen aufhalsten.
„Wo ist die Leiche? Wer hat sie gemeldet?“, wollte Nicole wissen.
„Da vorne.“ Josef Maier zeigte zu einer Stelle, um die gerade ein Absperrband angebracht wurde. „Gefunden wurde der Tote von dem Mann dort. Er war mit seinem Hund Gassi und ...“
„Bitte, nicht schon wieder.“ Panisch schaute die Kriminalbeamtin zu dem Hundebesitzer, atmete aber erleichtert auf, nachdem sie weder den Zeugen noch seinen kleinen strubbeligen hellbraunen Vierbeiner erkannte.
„Nein, diesmal nicht. Wäre auch ein bisschen zu weit weg von seiner Wohnung im Klosterhof“, erwiderte Josef Maier. Er verkniff sich ein Grinsen.
Der Umstand, dass Ferdinand Roth und sein Hund in den letzten zwei Jahren Tote gefunden hatten, verursachte der Leiterin des K11 der Offenbacher Kriminalpolizei offenbar noch immer einige Bauchschmerzen.
Maier konnte das gut verstehen. Die selbst ernannte Senioren-Soko, der die Roths angehörten und Helene Wagner, Nicoles frühere Vermieterin und mütterliche Freundin sowie deren Lebensgefährte Herbert Walter, federführend vorstanden, stellten stets ihre eigenen Ermittlungen ein der Polizei ein und hatten sich dadurch auch schon mal in lebensbedrohliche Schwierigkeiten gebracht.
Gleichzeitig wunderte sich Maier, dankte aber Gott dafür, dass die betagten Sonderermittler nach dem Auffinden des toten Lehrers vor 10 Tagen sich einen Kurzurlaub gönnten.
„Wir sind zeitgleich mit den Kollegen vom KDD eingetroffen und konnten uns die Leiche schon mal ansehen“, sagte er.
„Einschussloch mitten in die Stirn“, teilte Polizei-kommissar Berthold Bachmann mit und näherte sich der Gruppe.
Hinter dem Absperrband lag der Getötete auf dem Rücken; seine offenen Augen leblos in den bewölkten Himmel gerichtet, aus dem die Sonne versuchte, die Oberhand zu gewinnen.
Kriminalhauptkommissar Harald Weinert reckte den Kopf und meinte: „Genau wie bei den anderen Opfern. Sieht erneut nach einer Hinrichtung aus.“
„Wissen wir wenigsten bei diesem Toten, um wen es sich handelt?“, fragte Nicole.
Josef Maier verneinte; dagegen eine Kollegin der Spurensicherung mit unverständlichem Gesichtsausdruck den Kopf schüttelte.
„Ich sehe hier kein Auto. Wie kam der Mann hierher?“, stellte Nicole unbeeindruckt ihre nächste Frage.
„Wundert uns auch“, erwiderte Maier. „Wir haben auf dem Gelände weder einen Wagen noch ein Motorrad oder Fahrrad gesehen, schauen uns aber gleich noch auf den benachbarten Grundstücken um, soweit sie nicht eingezäunt sind. Die Eingangstür ist abgeschlossen und Aktivitäten im Innenraum der Firma konnten wir bis jetzt keine feststellen“, fügte er an und bewegte sich auf seine Mitarbeiter zu, die gegenwärtig an ihre Fahrzeuge gelehnt standen.
Der Polizeihauptkommissar sah dieses legere Verhalten im Dienst nicht gerne und scheuchte sie mit entsprechend passenden Worten und Anweisungen auf die Suche nach einem fahrbaren Untersatz des Toten.
„Definitiv wurde er nicht hier erschossen“, sagte die Frau im weißen Arbeitsoverall. „Wenn es so wäre, müsste sehr viel mehr Blut um den Kopfbereich zu finden sein. Er wurde hier lediglich abgelegt.“
„Dachte ich mir auch schon“, antwortete Nicole mit einem bemühten Lächeln.
Harald sah auf seine Armbanduhr. „Kurz vor halb acht. Bei normalem Arbeitsbeginn sollte sich eigentlich mal jemand blicken lassen.“
„Der Zusammenhang, die Tötungsart betreffend, ist unverkennbar“, äußerte Andy. Auch er hatte sich den Toten angesehen. „Ebenfalls, dass die Opfer nicht am Fundort erschossen wurden. Nur wurden die beiden anderen im weiteren Umkreis von Offenbach gefunden. Der eine am Mainufer und der andere in einem Waldstück von Neu-Isenburg. Die zwei, von euch Festgenommenen haben wohl noch immer keine Aussagen gemacht?“
„Nein.“ Kriminalhauptkommissar Lars Hansen hatte sich unbemerkt genähert.
Er murmelte ein „Moin“ und biss gleichzeitig in ein Croissant.
Nach einem Schluck Kaffee aus einem Pappbecher, mit dem er den Happen runtergespült hatte, sagte er: „Den einen mussten wir nach 48 Stunden wieder laufen lassen. Die Indizien waren, was die aufgefundenen illegalen Waffen betrifft, nicht stichhaltig genug. Eine Verbindung zu den Morden konnten wir ihm sowieso nicht nachweisen.
Der andere gab die Beteiligung am Waffenschmuggel zu. Da waren die Spuren aber auch eindeutig und es half kein Leugnen – ansonsten, großes Schweigen. Nach Feststellung der Personalien setzten wir auch ihn auf freien Fuß, bis zum Prozessbeginn. Wir sind also noch keinen Schritt weiter.“
„Wo kommst du so plötzlich her? Und wo ist dein Wagen?“ Nicole schaute sich suchend um.
„Liegt an dem Elektroauto“, erklärte Lars schmunzelnd zwischen zwei Bissen und mit vollem Mund.
„Eine Neuanschaffung für unser Fitnessstudio. Wurde am Freitag geliefert.“
Alle sahen zu dem silbergrauen Wagen mit der seitlichen Aufschrift: Sport und Fun.
„Eure Muckibude scheint gut zu laufen“, erwiderte Andy und fügte hinzu: „Wir müssen uns auch mal wieder bei euch sehen lassen.“
„Soll das heißen, ich habe es nötig?“ Pikiert warf Nicole ihrem Lebenspartner einen strafenden Blick zu; erinnerte sich aber im selben Moment an die unschönen Pölsterchen, die ihr heute Morgen, trotz der Hektik, aufgefallen waren.
„Wir bieten jetzt auch Yoga-Kurse an – zum Runterkommen“, sprang Lars sofort auf den Zug auf und grinste.
„Das könnte bedeuten, dass ihr es hier mit Größerem zu tun habt“, lenkte Andy schnell ab und versuchte die Situation unter Kontrolle zu bringen.
„Damit meinst du aber jetzt nicht, dass die Russenmafia dahintersteckt?“ Lars verschluckte sich und hustete.
„Möglich. Aber ... nun ja ... es gibt eine Menge verschiedener Interessengruppen. Waffenhandel betrifft nicht nur die Privatwirtschaft.“
„Sprich nicht in Rätseln. Was willst du sagen?“ Zwischen Nicoles Augenbrauen bildete sich eine steile Falte.
Ihr Lebensgefährte verhielt sich in den letzten Tagen mehr als merkwürdig – war wortkarg und stets mit seinen Gedanken im Nirgendwo. Sie witterte, dass er irgendetwas vor ihr verheimlichte, fragte aber nicht nach. Selbst war sie mit dem Toten an der Schule beschäftigt und deshalb angespannt.
„Ich erkläre euch, was ich meine“, sagte Andy im Flüsterton und schaute sich um.
„Im März 2015 wurde von unserer Bundesregierung die Ausfuhrgenehmigungspolitik bei Lieferungen von kleinen und leichten Waffen in Drittländer ergänzt mit der ausdrücklichen Zusicherung, diese weder an andere Länder noch innerhalb des Empfängerlandes, ohne Zustimmung der deutschen Regierung weiterzugeben. Dazu gehörten auch Estland, Lettland und Litauen. Infolge dessen sind den Partnerländern die Hände gebunden, was den Aufbau neuer Fertigungslinien im eigenen Land betrifft. Aber wie wir alle wissen, ist Papier geduldig und Schlupflöcher sowieso allgegenwärtig.“
„Und wie soll dein politischer Gesichtsunterricht uns jetzt weiterhelfen?“, erkundigte sich Lars, sichtlich genervt.
„Nun ja. Ich habe erfahren, dass seit einigen Monaten beim MEK Waffen und Munition verschwinden. Obwohl der gesamte Komplex mit Kameras überwacht wird, konnten die Täter bis dato nicht ermittelt werden, weil, immer zur Tatzeit, die Überwachungsgeräte ausgeschaltet waren. Was darauf schließen lässt, dass ein Insider beteiligt sein muss.“
„Und daraus schließt du, dass wir es mit einer Waffenmafia zu tun haben und mit einem Maulwurf beim MEK“, warf Harald ein.
Andy nickte. „Einer von der Truppe ist nun in den Fokus der internen Ermittlungen geraten, behauptet aber steif und fest, nichts damit zu tun zu haben.“
„Lass mich raten, du kennst ihn und glaubst ihm und er hat dich um Hilfe gebeten.“
„Du hast nicht umsonst Psychologie studiert.“ Andy schmunzele und fuhr ernst fort. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mich anlügt.“
„Und schon gar nicht, dass er auf die dunkle Seite der Macht geraten ist“, warf Lars dazwischen.
„Richtig.“
„Du willst damit sagen, der Diebstahl beim MEK und die beiden anderen Toten – das hängt alles zusammen?“ Nicoles Stirnfalte vertiefte sich.
„Könnte doch möglich sein. Es wird gemunkelt, dass die vermissten Waffen in Litauen und Lettland aufgetaucht sind“, warf Andy den Kollegen den nächsten Schnipsel zu. „Aber, wie gesagt: Was Genaues weiß niemand und handfeste Beweise fehlen; weshalb offiziell noch keine Untersuchung eingeleitet wurde – nur eine interne. Mein Bekannter oder Informant – wie immer ihr ihn nennen wollt – vermutet sogar, dass unsere Regierung in der Sache mit drinhängen könnte. Welche Wellen das in der Öffentlichkeit schlagen würde, brauche ich euch nicht zu erzählen.“
„Sorry, das klingt für mich nach Verschwörungstheorie.“ Lars rollte mit den Augen, trank den letzten Schluck des mittlerweile kalten Kaffees und sah sich nach einem Entsorgungsbehälter um.
„Wieso rückst du erst jetzt damit raus?“, fragte Nicole mit scharfem Unterton. Für sie machte die Theorie Sinn.
„Du weißt, dass mir die Staatsanwaltschaft im Nacken sitzt und wir nicht den kleinsten Anhaltspunkt haben wie und wo wir ansetzen können.“
„Euer Fall mit dem Lehrer war noch nicht abgeschlossen und ich hatte es ...“
„Entscheidest du jetzt, wie viele Straftaten wir gleichzeitig bearbeiten dürfen und können?“, zischte Nicole leise aber giftig.
„Ich hatte versprochen nicht darüber zu reden, bis ...“
„Und jetzt hast du die Freigabe, oder was?“
„Nicht wirklich. Aber ich setze mich mit dem Kollegen in Verbindung und rate ihm, mit euch in Kontakt zu treten.“
„Wenn du schon mit deinem Informanten redest“, erwiderte Nicole bissig, „dann frag ihn doch gleich mal, ob er bei der Identifizierung unserer Leichen behilflich sein kann. In POLAS waren die Männer nicht erfasst und Fotos, die wir der Presse hatten zukommen lassen, ergaben keinen Treffer. Der Doc hatte sich aber in der Art geäußert, dass es sich um Osteuropäer handeln könnte.“
„Er kennt sie nicht“, entgegnete Andy. „Hab schon gefragt. Aber vielleicht ihn.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung des Toten.
„Kann ich ein Foto des neuen Opfers meinem Kollegen zuschicken? Einen Versuch ist es jedenfalls wert.“
„Ja“, knurrte die Kriminalhauptkommissarin. „Dein Kontakt soll sich auf jeden Fall im Laufe des Tages bei uns melden; egal ob er unser Opfer kennt oder nicht. Ansonsten lernt er mich kennen.“
„Ich versuche mein Bestes.“ Andy drückte Nicole einen Kuss auf die Wange.
Die brummte irgendetwas Unverständliches.
„Bis heute Abend ist sie wieder ganz die Alte.“ Harald schlug seinem Freund auf die Schulter. „Wenn alles nichts nutzt, besorgen wir Croissants mit ordentlich Schoko-sahne.“
„Das habe ich gehört!“, rief Nicole und schmunzelte.
Montag / 07:35 Uhr
An der Ausfahrt vom Firmengelände wurde Andy von einem schwarzen Wagen der Nobelklasse geschnitten.
Der Fahrer sah ihn einen Moment verärgert an, bevor er in rasantem Tempo weiterfuhr und vor dem Gebäude der Firma Petrow stoppte. Aus dem Fahrzeug sprang ein circa Mitte 40-jähriger Mann mit dunkelblonden kurzen Haaren. Er eilte direkt zur Absperrung und auf die Kriminal-techniker zu.
„Was ist hier los? Was suchen Sie auf meinem Grund und Boden?“
„Und wer sind Sie?“ Lars versperrte mit seinen 1,95 Meter den weiteren Weg.
Einen Moment schien es, als ob der zehn Zentimeter kleinere muskulöse Mann gleich aus der Haut fahren würde, hatte sich aber schnell wieder unter Kontrolle.
„Mein Name ist Darius Petrow. Ich bin der Inhaber dieser Firma.“ Er bewegte den Kopf zu dem Schild über dem Eingang. „Also, was geht hier vor? Weshalb wimmelt es hier von Polizei?“
„Wenn Sie mal schauen möchten?“ Nicole steuerte mit dem Mann zur Absperrung. „Kennen Sie den Toten?“
Petrow beugte sich über das Band, verharrte ein paar Sekunden und antwortete mit versteinerter Miene: „Ja. Das ist einer der Männer, die ab und an für uns arbeiten, aber nicht heute. Was tut er hier? Wie kommt er hierher?“
„Das wüssten wir auch gerne – und einiges mehr. Mein Name ist Wegener und das sind die Kollegen Weinert und Hansen – Kriminalpolizei Offenbach.“
Die Beamten hielten Herrn Petrow ihre Ausweise entgegen. Er schaute scheinbar nur bedingt interessiert. Zeitgleich wurde er durch einen zügig heranfahrenden schwarzen Sportwagen abgelenkt, der ebenfalls vor dem Gebäude parkte.
Eine auffallend hübsche, circa 1,70 Meter große und schlanke blonde Frau mit modischem Kurzhaarschnitt glitt aus dem Cabrio. Soweit der enge Rock ihres zartrosa Kostüms und die High Heels im gleichen Farbton das zuließen, kam sie angerannt.
„Ist etwas passiert?“, richtete sie ihre Frage direkt an Darius Petrow, bevor ihr Blick auf den Toten fiel. „Oh Gott, ist das ...?“
„Du musst dir das nicht ansehen.“ Er nahm ihren Arm und zog sie ein Stück zur Seite.
„Und Sie sind?“, fragte Harald. Er und Nicole drängten sich an Lars vorbei, der die junge Frau wie paralysiert anstarrte.
„Das ist Christina Graf“, antwortete Petrow schnell.
„Wir hätten ein paar Fragen an Sie beide. Können wir in Ihrem Büro reden?“ Nicoles Tonfall ließ kein Nein zu und der Firmeninhaber deutete den Beamten an, ihm zu folgen.
„Lars, wir benötigen schnellstmöglich Informationen von unseren Kollegen der KTU. Kümmere dich bitte darum und gib sie an Dietmar weiter. Und hör auf zu sabbern! Das ist peinlich.“
„Denk dran, du bist so gut wie verlobt“, setzte Harald mit einem Grinsen nach.
„Chris, kannst du einen starken Kaffee machen?“, bat Darius Petrow, kaum dass er die Tür zu seinem Büro aufgeschlossen hatte. „Ich denke, den können wir jetzt vertragen.“ Er zeigte zu einer hellen Ledercouch. „Bitte, setzen Sie sich“, wandte er sich den Kriminalbeamten zu.
Der Raum insgesamt machte eher den Eindruck eines luxuriösen Lofts als dem eines Arbeitszimmers. Die Wände, obwohl nur verputzt, waren in einem zarten Fliederton gestrichen und der Fußboden mit Industrielack in einem dunkleren Lila überzogen. Ein Großteil wurde von einem hellgrauen Teppich verdeckt. Die wenigen zeitgenössischen und farbenfrohen Grafiken wirkten hochpreisig.
Harald Weinert hatte den Eindruck, dass die Geschäfte bestens liefen. „Womit genau beschäftigen Sie sich, beziehungsweise Ihre Firma?“, stellte er deshalb sofort die Frage. „Import – Export klingt etwas vage, wenn ich das mal so formulieren darf.“
„Das geht den meisten Leuten so.“ Darius Petrow hatte auf einem Sessel gegenüber den Beamten Platz genommen. „Genau wie die Bezeichnung schon aussagt, betreiben wir Handel. Wir importieren verschiedene Wirtschaftsgüter aus Litauen und Lettland nach Deutschland und ebenso exportieren wir Produkte von Deutschland dorthin und in andere Länder. Wenn es Sie interessiert, führe ich Sie gerne durch die Lagerhalle; dann können Sie sich selbst ein Bild davon machten – was unsere Firma so treibt.“ Er lächelte. „Wir haben nichts zu verbergen. Bei uns ist alles so, wie es sein soll. Weder Probleme mit dem Finanzamt noch mit der Zollbehörde.“
„Das Angebot nehmen wir gerne an – später“, erwiderte Nicole. „Zuerst geht es um den Toten auf Ihrem Gelände. Wie heißt der Mann? Sie sagten, er arbeitet ab und zu für Sie?“
„Ja. Alexander Vogt. Er ist bei der Spedition angestellt, mit der wir zusammenarbeiten, wie weitere vier bis fünf Leute. Es ist so“, fuhr Petrow fort, als er das Stirnrunzeln auf den Gesichtern der Kriminalbeamten sah. „Mein Bruder, ich und Christina kümmern uns um die kaufmännischen Tätigkeiten wie Organisation, Buch-haltung und so weiter. Für das Verpacken und das Be- und Entladen unserer Waren benötigen wir Hilfe. Deswegen arbeiten wir mit einer Spedition zusammen, die uns sowohl ihre Leute zur Verfügung stellt, als auch die Transporte übernimmt. Natürlich läuft auch das alles im gesetzlichen Rahmen ab und zu vernünftigen Löhnen. Sie können gerne unsere Unterlagen einsehen. Die nächste Lieferung ist für die kommende Woche vorgesehen. Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen, was Herr Vogt hier ...?“
Für einen Augenblick verlor sich sein Blick im Nirgendwo. Dann fragte er: „Sollten wir nicht die Spedition benachrichtigen, in der Herr Vogt arbeitet ... eh, gearbeitet hat?“
„Das übernehmen wir“, schaltete Harald sich ein. „Wenn Sie uns Anschrift und Telefonnummer geben und einen Ansprechpartner nennen?“
„Ich drucke die Daten für Sie aus“, bot Christina Graf an. Sie hatte die ganze Zeit still vor dem Fenster gestanden und den Kriminaltechnikern draußen zugesehen.
„Danke, meine Liebe.“ Darius Petrow küsste sie auf die Wange. „Wir sind verlobt und werden demnächst heiraten“, setzte er die verwundert schauenden Kriminalbeamten in Kenntnis.
Im nächsten Augenblick wedelte er hektisch mit beiden Armen. „Ach herrje. Das hätte ich fast vergessen. Wir erwarten einen Geschäftsfreund. Chris, wann hat sich Herr Kudirka angesagt?“ Er umrundete seinen Schreibtisch, schloss eine Schublade auf und holte ein Notizbuch hervor.
Noch bevor er seinen Terminkalender aufgeschlagen hatte, antwortete sie: „Um 11 Uhr.“
„Meinen Sie, Ihre Leute sind mit der Arbeit fertig und die Leiche ... eh ... der Verstorbene ist abtransportiert, bis unser Geschäftspartner hier eintrifft?“ Darius Petrow sah die Beamten fast um Entschuldigung bittend an.
„Verstehen Sie mich nicht falsch. Aber was soll Herr Kudirka denken? Ein Toter auf unserem Grundstück ... bei seinem ersten Besuch hier. Mein Bruder Janis hat dieses aufstrebende Start-up-Unternehmen entdeckt, das sich auf elektronische Produkte spezialisierte und diese importieren möchte. Er war es auch, der den Termin vereinbarte.
Wissen Sie – die meisten Waren, die Lettland, Estland und Litauen aus dem Ausland beziehen, kommen aus Russland. Computer, Handys, Laptops und so weiter hingegen fast durchweg aus China. Aber die Bevölkerung schielt schon mal gerne in den Westen. USA liegt da ganz vorne.“
Darius Petrow machte eine kleine Pause. Dann sagte er: „Ich war zuerst nicht begeistert, doch dann dachte ich – warum nicht? Bis vor einiger Zeit lieferten wir hauptsächlich Maschinen und Zubehör für die Holz- und Metallverarbeitung. Es ist nicht schlecht, noch einen weiteren Geschäftszweig ...“
Die Darstellung der Geschäftsbeziehungen wurde durch ein zügig heranfahrendes Fahrzeug unterbrochen. Darius Petrow sprang auf und eilte zum Fenster.
„Oh! Das wird er doch nicht schon sein? Ach, Gott sei Dank, es ist Janis, mein Bruder.“
Eine schwarze Luxuslimousine parkte genau neben der des Unternehmers und ein Ende 30-jähriger, 1,80 Meter großer und athletischer Mann mit dunklen Haaren, an den Seiten extrem gekürzt zu einem sogenannten Buzz-Cut, hechtete aus dem Wagen.
Erschrocken warf er einen Blick zu den Kriminaltechnikern in ihren weißen Schutzanzügen und eilte dann mit langen Schritten auf den Eingang zu.
„Darius? Christina?“
„Wir sind hier. Mit uns ist alles in Ordnung, Janis.“
Der Jüngere der Petrow-Brüder stöhnte erleichtert auf. „Was ist da draußen los? Ich dachte schon ...“
Jetzt erst bemerkte er die Anwesenheit zwei weiterer Personen und stoppte seinen Redefluss.
„Das sind Frau Wegener und Herr Weinert“, erklärte Darius Petrow seinem Bruder. „Die Herrschaften sind von der Kriminalpolizei. Auf unserem Grundstück wurde ein Toter gefunden. Ich befürchte, es ist Alexander Vogt, einer der Männer, die ab und an für uns arbeiten“, setzte er nach.
„Alexander ist tot? Wie ...?“
„Er wurde erschossen“, teilte ihm Harald Weinert mit.
Janis Petrow nahm die Tasse von Christina entgegen, stellte sie aber auf dem kleinen Tisch neben der Sitzgruppe direkt wieder ab. Dann kramte er in seiner Jackettasche und holte eine Schachtel Zigaretten heraus.
„Entschuldigen Sie bitte, die brauche ich jetzt.“
Schon auf dem Weg nach draußen flammte das Feuerzeug auf.
Harald folgte ihm.
Janis Petrow rauchte hastig, ließ die Zigarette fallen, trat sie aus und bewegte sich zur Absperrung.