Buch lesen: «Ein Schloss für Mara»

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Ein Schloss für Mara

Roman

von

Rita Lamm

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

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Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Verwertung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright: Rita Lamm 2016

www.ritalamm.de

Cover: Copyright Gregory Flegler

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Danksagung

Literaturhinweis

Prolog

„Jaja, die Liebe“ säuselte Sonja und nahm einen Schluck von ihrem Campari-Orange.

Mara, barfuß und in einem knappen Sommerkleid, ging mit der blechernen Gießkanne, die sie auf einem Flohmarkt erstanden hatte, von Blumenkasten zu Blumenkasten. Sie zupfte die trockenen Blüten der Ringelblumen ab und goss. Es war drückend und schwül an diesem Abend. Die Luft stand förmlich. Schwere Wolken türmten sich über dem nahen Schlossberg.

„Ich finde ja den Zustand des Verliebtseins das Schönste, was es gibt. Manchmal bin ich richtig süchtig danach“ sagte Sonja und schaute Mara bei ihrem Rundgang zu.

„Es ist total spannend, die Fühler auszustrecken und zu flirten. Die ersten Wochen in einer Beziehung finde ich immer die besten. Deshalb muss ich, glaub´ ich, auch die Männer so oft wechseln.“

Sonja nahm noch einen Schluck und leckte sich die Lippen.

„Und Sex? Für mich ist Sex absolut wichtig. Wenn ich mir vorstelle, dass manche jahrelang ohne Sex leben - nicht auszudenken.“

Mara war mit dem Gießen fertig. Sie stellte die Kanne in die Ecke und legte sich in den Liegestuhl.

„Also mich beeindruckt es immer sehr, wenn Beziehungen lange halten und man nach Jahren noch sagen kann, dass man immer noch glücklich ist, ja, dass man sich immer wieder neu in den gleichen Menschen verliebt.“

Mara legte den linken Arm unter ihren Kopf und schaute in die dunklen Wolken.

„Ich bin eine romantische Vertreterin der großen Liebe.“

„Kennst Du jemanden, der ein Leben lang glücklich ist?“ fragte Sonja.

1. Kapitel

"Welcome" sagte Mara Köster zu der Reisegruppe und lächelte einmal reihum. Ihr Lächeln wurde dreißigfach erwidert.

Freundlich und höflich, so wie man sie kennt, die Japaner. Aber das half ihr jetzt auch nicht weiter. Mara hätte weiß Gott was dafür gegeben, „Good bye“ sagen zu dürfen.

Sie nahm ihre Sonnenbrille aus dem schwarzen, langen Haar, setzte sie auf, schlug den Kragen ihrer hellbraunen Lederjacke hoch und ging vorne weg am stark befahrenen Schlossbergring entlang in Richtung Schwabentor. Die Autos stauten sich vor der Einfahrt zum Parkhaus. Es roch penetrant nach Abgasen. Jemand hupte. Mara blieb auf dem Bürgersteig stehen und schaute ungeduldig zurück. Die Gruppe folgte ihr nur zögerlich. Sie beschloss, bis zum Schwabentor weiterzugehen und dort zu warten. Als sich die Japaner endlich in Hörweite um sie drängten, fing sie an zu referieren. Sie zeigte den Touristen den heiligen Georg, der mit dem Drachen kämpfte und erzählte die Geschichte vom reichen Schwaben, der vor vielen Jahren die verschuldete Stadt kaufen wollte und dessen Vorhaben von seiner klugen Frau vereitelt wurde. Er hatte statt Gold Holz auf seinem Wagen geladen, als er durch das Schwabentor in die Stadt einreiste. Kaum hatte Mara zu Ende gesprochen, machte sie einige Schritte nach hinten, heraus aus der Gruppe. Der Reiseleiter übersetzte und Mara wartete. Jemand stellte eine Frage. Der Reiseführer wandte sich ihr zu: „Wer sind die Schwaben?"

„Sie leben etwas weiter östlich von hier. Es gab schon immer Streit zwischen den hier lebenden Badenern und ihren Nachbarn" erläuterte sie und wischte ihre inzwischen feuchtkalten Hände an ihrer Jeans ab. Mara atmete tief durch und warf einen prüfenden Blick auf die Gesichter der Reisenden. Sie schienen mit ihrer Antwort zufrieden. Nun bog Mara nicht, wie es all ihre Kollegen getan hätten, nach rechts in den sehenswerten Stadtkern ab, sondern ging an der Straße, die um das Zentrum herumführte weiter und die ruhige Wallstraße hinunter. Sie ging schnell, viel zu schnell und führte die Japaner in Richtung ihres Arbeitsplatzes, an dem sie tätig war wenn sie keine Stadtführungen hatte, dem Museum für Neue Kunst. Gleich um die Ecke war das Adelhauser Kloster. Der gepflasterte Platz vor der in kräftigem orange gestrichenen Klosterkirche lag friedlich da und war menschenleer. Unter den blühenden Kastanienbäumen erläuterte Mara die Bedeutung der Klöster für die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung der Stadt in den letzten Jahrhunderten.

„Sie können gerne hineingehen und sich alles anschauen." Mit einer einladenden Handbewegung öffnete sie die schwere Holztür und ließ die Gruppe passieren. Kaum hatte der Letzte das Gotteshaus betreten und die Tür hinter sich geschlossen, zündete sie sich eine Zigarette an und lehnte sich erschöpft an den Stamm des Baumes. Sie inhalierte tief und blies beim Ausatmen den Rauch in die hohe Krone. Am liebsten wäre sie einfach weggegangen, nach Hause. Sie rauchte schnell. Ihr wurde schwindelig.

Einige der Gruppe und der Reiseleiter kamen aus der Kirche und stellten sich zu ihr.

„Wie lange sind Sie auf Reisen?" fragte Mara den Reiseführer.

„Zehn Tage."

„Und was schauen Sie sich an?"

„Alles" antwortete er und lächelte.

„Heidelberg, Paris, Rom."

Und dazwischen gibt es eine Chaostour durch Freiburg, ergänzte Mara in Gedanken. Als sich alle versammelt hatten, fragte der Reiseleiter: "Gehen wir zum Münster?"

Nervös lächelte sie ihn an.

„Sie müssen sich noch etwas gedulden", sagte sie und drehte sich von ihm weg. Krampfhaft überlegte sie, suchte nach Sehenswürdigkeiten oder Attraktionen, mit denen sie die Neugier der Reisenden befriedigen konnte. Fast wäre sie gestolpert. Stimmt, da waren ja noch die Bächlein. Aber über die wollte sie jetzt nicht reden. Sie wollte weiter, schnell weiter. In der Gerberau, einer breiteren, normalerweise nicht mit Menschen überfüllten Gasse, entdeckte sie einen Pantomimen. Er trug einen grünen Anzug und eine Mütze wie Till Eulenspiegel. Sein Gesicht war weiß geschminkt. In regloser Pose stand er mit offenen zum Himmel gerichteten Armen auf einer Kiste. Aus den Boxen eines CD-Players schallte ein Wiener Walzer. Mara ging zu ihm hin und warf ihm eine Münze in den Korb. Sogleich änderte er in geschmeidigen Bewegungen seine Haltung und beugte sich weit nach vorne. Die Wimpel seiner Mütze flogen durch die Luft. Die Japaner folgten Maras Beispiel. Der Till Eulenspiegel bewegte sich wie die Puppe auf einer Drehorgel und die Touristen amüsierten sich, tuschelten mit hohen Stimmen und freuten sich wie Kinder. Plötzlich sprang er von seiner Kiste und bat Mara um einen Tanz. Sie ließ sich nur einmal auffordern und tanzte schwungvoll mit ihm einen Walzer über das Kopfsteinpflaster. Passanten blieben stehen. Die Japaner applaudierten begeistert. Dieser erste warme Tag im Frühling hatte etwas Harmloses; der blaue Himmel, der freundliche Künstler, die sich freuenden Japaner. Mara strich sich eine Strähne hinters Ohr und schaute auf ihre Armbanduhr. Sie waren erst eine knappe halbe Stunde unterwegs. Es war zu früh, um die Tour zu beenden. Sie hob die Hand. Der Reiseführer trat an sie heran und schaute sie erwartungsvoll an. Sie spürte, wie sehr er sich wünschte, das berühmte Münster gezeigt zu bekommen.

„Wir werden nun einen Abstecher in die Fischerau machen".

Der Straßenkünstler zwinkerte ihr kumpelhaft zu. Mara winkte und eilte weiter. In der Fischerau stellte sie sich auf eine kleine Brücke, die über den Kanal führte und erzählte aus der Zeit der Zünfte. Der Reiseführer übersetzte. Abwartend lauschte Mara seiner Stimme mit den fremd klingenden Lauten. Dabei schaute sie nach unten. Auf dem Grund des Baches lag ein Fahrrad. Das Wasser umspülte das verdrehte Vorderrad und das Schutzblech. Es bildeten sich Wirbel. Endlich hörte der Reiseleiter auf zu sprechen. Es kamen keine Fragen. Gut, dann auf zum Grande Finale und dann tschüss, dachte Mara.

„Hier ist das Martinstor.“ Mara deutete nach oben.

„Es ist das zweite der vier Stadttore. Wenn Sie durch dieses Tor gehen, sind Sie in unserer Einkaufsmeile. Sie können noch etwas Bummeln und dann rechts zum Münster und auf den Markt gehen und von dort ist es nicht mehr weit zu Ihrem Reisebus.“ Ihre Stimme überschlug sich. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und eine gute Reise. Good bye." Sie lächelte gequält. Die Japaner klatschten und nickten ihr höflich zu. Der Reiseleiter schaute sie, wie es ihr schien, für einen Moment kritisch an. Mara reichte ihm die Hand so, als wolle sie das Ende der Tour besiegeln und ging davon. Er wird sich schon nicht beim Kulturamt beschweren und wenn, dann konnte sie es auch nicht ändern. Als sie zurückschaute, sah sie, wie alle aufgeregt und neugierig durch das Tor drängten. Allein schon bei der Vorstellung in die Massen von Menschen eintauchen zu müssen, spürte sie panische Angst in sich aufsteigen. Fluchtartig machte sie sich auf den Nachhauseweg.

Mara fuhr mit ihrem Fahrrad stadtauswärts. Sie radelte über die schmale Holzbrücke, die über den Kanal führte und im Winter oft völlig vereist war. Immer noch, obwohl es schon fast Samstagmittag war, kamen ihr Leute entgegen, die auf dem Weg in die Stadt waren. Sie fuhr ein kurzes Stück die Kartäuserstraße hoch und bog dann in die Oberaustraße, die am Fluss entlang führte, ab. Es tat ihr gut, an der Dreisam, an ihrem Fluss, zu sein. Hier konnte sie frei durchatmen. Die Luft roch mild nach Frühling. Die Äste der Trauerweide hingen weit bis zum Wasser hinab. Enten ließen sich von der Strömung flussabwärts treiben. Sie fuhr über eine weitere Brücke und hatte jetzt den Fluss zu ihrer Linken. Spaziergänger schlenderten am Ufer entlang oder saßen auf einer Bank, um sich von den Strahlen der Sonne wärmen zu lassen. Mara kam dem Wasserfall näher und hörte sein Rauschen. Auf dem Mäuerchen gegenüber lag eine Frau und las. Oft hielten sich dort Liebespaare auf, die sich geschützt durch das Rauschen des Wassers in ihren Liebesträumen verloren. Mara wich geschickt einem Mann mit einem Kinderwagen aus und überholte zwei Joggerinnen, die nebeneinander im Gleichschritt liefen.

Plötzlich rannte ein großer, schwarzer Hund direkt in ihr Vorderrad. Sie hörte ihn jaulen, versuchte zu bremsen. Ihr Rad geriet ins Schlingern. Nur mit Mühe gelang es ihr, nicht zu stürzen.

„Mephisto, Mephisto!“ Der herbeigeeilte Besitzer kniete neben seinem Hund und suchte ihn nach Verletzungen ab.

„Können Sie nicht aufpassen?“

Mara schwieg betroffen.

„Müssen Sie denn so schnell hier vorbeirasen?“

Mara lehnte ihr Fahrrad an einen Baum und ging zu den beiden hin.

„Sie könnten Ihren Hund aber auch an die Leine nehmen.

Ich wäre fast hingefallen!“

„He, mein Guter.“

„Ist er okay?“ Mephisto schien sehr okay: er legte sich, kaum, dass Mara neben ihm war, auf den Rücken und ließ sich von ihr kraulen. Der Hund schleckte ihr die Hand ab und schaute sie mit treuen, bernsteinfarbenen Augen an.

„Wie es aussieht, scheint er ja in Ordnung“ stellte Mara fest und betrachtete den Besitzer, der auf Augenhöhe neben ihr kniete. Mit seinen blonden Haaren, der hohen Stirn und einem eigentlich sympathischen Gesicht, erinnerte er sie an einen Clown aus einem Zirkus, nur attraktiver. Viel attraktiver, dachte Mara.

„Hoffen wir` s mal“ brummte der Hundehalter. Mephisto stand auf und schüttelte sich. Als er im Fluss eine Ente sah, schien der Unfall vergessen. Er rannte die Böschung hinunter zum Wasser.

Wenig später bog Mara in ihren Hof ein. Als sie ins Haus ging, schaute sie in den Briefkasten. Außer stapelweise Werbung keine Post, stellte sie fest- von wem auch. Sie schloss die hölzerne Wohnungstür mit den Milchglasscheiben auf. Mara mochte die Wohnung mit den knarrenden Dielenböden, hohen Decken und großen Fenstern sehr. Sie hatte bei der Gestaltung der zwei Zimmer darauf geachtet, nicht alles voll zustellen. Sie schlief im größeren, auf einem kniehohen Podest unter Palmen. Wenn es auch nur Yucca Palmen waren. Den anderen Raum nutzte sie als Wohnzimmer. Dort hatte sie mit schwarzem Ledersofa und Glastisch eine gemütliche Sitzecke eingerichtet. An den Wänden standen Regale voller Bücher und Bildbände über Kunst. Zwischen die langen Buchreihen hatte sie kleine Kunstwerke, Figuren aus Speckstein, Metall oder Holz, gestellt. Mittlerweile besaß sie eine recht ansehnliche Sammlung, auf die sie sehr stolz war.

Es war kühl in der Wohnung. Sie ging durch das kleinere Zimmer und schloss die Balkontür. In der Küche kochte sie sich mit der italienischen Kaffeemaschine einen doppelten Espresso, den sie mit viel warmer Milch verdünnte. Erleichtert, zu Hause und in Sicherheit zu sein, bezog sie ihren Aussichtsposten am Tisch und zündete sich eine Zigarette an. Rauchend schaute sie aus dem Fenster in den Hof. Mit jedem Zug ließ die Anspannung in ihr nach und sie wurde ruhiger.

Drüben auf dem flachen Dach des Backsteinhauses spazierten zwei Tauben turtelnd umher. Ihr grauweißes Gefieder glänzte in der Sonne. Mara dachte an Carl Spitzweg. Auf seinen Gemälden bedeuteten Tauben die Boten der Liebe. Turteltauben. Ihr Religionslehrer hatte ihr in der Grundschule erzählt, dass vor allem oder gerade Tauben die Vögel waren, die sich bei einem Streit grausam verletzen konnten.

In der Schreinerei, die sich im hinteren Teil des Hofes befand, arbeitete heute niemand. Die hohen Tore waren geschlossen. Unter der Woche hörte Mara von dort das schrille Kreischen der Sägen.

Frau Meier, die im Backsteinhaus wohnte, öffnete die grün gestrichene Haustür und fegte die wenigen Treppenstufen aus Sandstein zum Hof. Sie war, wie Mara fand, unglücklich verheiratet. Oft schon hatte Mara die Streitereien mitbekommen, wenn Herr Meier betrunken nach Hause kam. Frau Meier klopfte den Türvorleger am Geländer aus und legte ihn wieder auf den untersten Treppenabsatz. Jetzt nahm sie den Besen, ging die Treppe hoch und schloss die Tür hinter sich. In diesem Moment fuhr ein großer, weißer Möbeltransporter in den Hof. Eine junge Frau öffnete die Wagentür und sprang aus dem Auto. Sie trug einen bunten, kurzen Rock über einer Jeans, ein verwaschenes T-Shirt und hatte eine blaue Strähne in den kurzen, hellblonden Haaren. Ihr folgte ein Mädchen. Mit ihrer zierlichen Statur und den strohblonden Haaren hätte sie eine Zwillingsschwester von Michel aus Lönneberga sein können. Mara schätzte die Kleine auf acht Jahre. Waren das etwa ihre neuen Nachbarn, eine Frau mit Kind?

Sie hatte vergangene Woche mitbekommen, wie Otmar Kapp, der Polizist von nebenan, ausgezogen war. Nach zwei Jahren spärlichem Kontakt, der darin bestand, dass man sich im Treppenhaus aneinander vorbeischob und grüßte, hatte er seine Kisten gepackt und war davon gefahren. Nach Stuttgart, hatte er ihr beim Hinunterschleppen der Umzugskisten erzählt. Das Gute an Otmar war, dass er sie in Ruhe gelassen hatte. Ein Umstand, den sie vor allem im vergangenen Winter als sehr angenehm empfunden hatte.

Mit dem weißen Transporter waren noch zwei Autos in den Hof gefahren. Männer schleppten eine alte Kommode aus dunklem Holz, einen wuchtigen Schrank, Matratzen ins Haus. Es wurden kaum Pflanzen ausgeladen, aber dafür ein großer Fernseher und Unmengen von Kartons. Die ganze Zeit stand die Frau mit dem blauen Band im Haar im Hof und koordinierte den Umzug. Dabei kaute sie nervös an ihren Fingernägeln oder rauchte hektisch.

Nach einiger Zeit hörte Mara von nebenan lautes Hämmern und Poltern. Kurz darauf klingelte es. Vor der Tür stand die Frau mit dem Kind.

„Wir sind die neuen Nachbarn. Ich heiße Sonja und das ist“, zu dem Kind hingewandt, „stell Dich vor.“

„Annalisa.“

Das Mädchen turnte auf der Treppe herum und begutachtete Mara mit wachen, blauen Augen.

„Hallo“ antwortete Mara. Sie hatte die Tür zu ihrer Wohnung nur einen schmalen Spalt weit geöffnet.

„Ich wollte fragen, ob Sie einen achtzehner Schraubenschlüssel haben?“

„Einen achtzehner Schraubenschlüssel?“ wiederholte Mara.

„Da müsste ich mal schauen. Moment.“ Mara kniete sich im Flur vor das Schränkchen, auf dem das Telefon stand und durchwühlte den Werkzeugkasten. Von nebenan hörte sie, wie eine Männerstimme rief: „Frag noch nach einer Bohrmaschine!“

Gleich darauf stand Sonja neben ihr in der Wohnung.

„Haben Sie auch eine Bohrmaschine?“ Mara suchte weiter.

„Da ist eine ganze Sammlung von Schlüsseln, wollen Sie die mal mitnehmen?“, antwortete Mara und richtete sich auf. Dabei sah sie gerade noch, wie sich Sonja in der Wohnung umschaute. Auch das Kind stand inzwischen im Flur.

„Bohrmaschine hab ich keine, tut mir leid.“ Mara ging zur Tür und öffnete sie weit, so, als wolle sie die ungebetenen Gäste auf schnellstem Wege wieder nach draußen geleiten.

„Wohnen Sie alleine hier?“ fragte das Mädchen.

„Ja, ganz alleine.“

„Danke, erst mal.“ Sonja schob ihre Tochter nach draußen ins Treppenhaus. Mara schloss die Tür. Es dauerte keine halbe Stunde, bis Sonja wieder an der Tür stand.

„Entschuldigung, dass ich schon wieder störe. Aber wir haben keinen Strom. Können Sie mir sagen, wo der Sicherungskasten ist?“

„Der ist im Keller“ sagte Mara kurz angebunden und nahm ihren Schlüsselbund. Gefolgt von Sonja ging sie nach unten. Mara öffnete die Kellertür. Gemeinsam standen sie vor einem rostigen Metallkasten.

„Hier, schauen wir mal. Zweites OG, Wohnung links, das ist meine und rechts das ist Ihre.“ Mara betätigte den kleinen, schwarzen Hebel.

„So, jetzt müsste es klappen.“

„Vielen Dank!“

„Haben Sie keinen Kellerschlüssel?“

„Doch, irgendwo muss der sein. Aber in diesem Chaos finde ich überhaupt nichts mehr.“ Gemeinsam stiegen sie wieder die Treppen nach oben.

„Also, wenn noch was ist: Sie wissen ja, wo ich bin. Ich bin hier zwar nicht der Hausmeister und ich hab´ auch keine Bohrmaschine. Aber ich kenn' mich zumindest etwas aus hier im Haus.“

„Danke!“ sagte Sonja noch mal und nickte. Mara schloss die Tür zu ihrer Wohnung.

Später am Nachmittag saß Mara in einem mit weichen Polstern ausgelegten Rattanstuhl im Wintergarten ihrer Tante Paula und schaute hinaus in den Garten. Narzissen säumten die Wege, Primeln blühten lila und rosa, Maiglöckchen standen vornehm im Halbschatten unter dem blühenden Forsythienstrauch. In wenigen Wochen wird der Garten wieder zu einem botanischen Bollwerk, einem Meer aus Blüten und wachstumsfreudigem, biologisch gedüngtem Gemüse mutiert sein, dachte Mara. Aber Tante Paulas große Leidenschaft waren Heilkräuter, die sie zu Tees und Salben verarbeitete.

„Was gibt es Neues?“ Tante Paula kam aus der Küche und stellte einen selbstgebackenen Aprikosenkuchen, auf den Tisch.

„Nichts, doch, neue Nachbarn. Hoffentlich lassen die mich in Ruhe.“

Ihre Tante schnitt den Kuchen mit dem großen Messer auf, das sie schon bereitgelegt hatte. Natürlich war er mit Vollkornmehl gebacken.

„So schlimm wird es nicht werden.“

„Naja, sie waren nicht mal eine halbe Stunde im Haus und standen schon bei mir vor der Tür.“

Mara nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino.

Tante Paula schlug ihren grünblauen Umhang aus grober Wolle um ihre zierlichen Schultern, nahm das Gefäß aus Messing, das Mara an eine Blumenvase erinnerte und zog schlürfend an dem Rohr, das an der Seite herausragte. Seit ihre Tante viel auf Reisen war, trank sie ausschließlich Matetee. Sein strenger Duft breitete sich im Wintergarten aus.

Wenn sie jetzt noch eine Feder in ihrem kinnlangen, grauen Haar gehabt hätte, hätte sie genauso gut in einem indianischen Dorf im Kreise ihrer Freundinnen, alter, weiser Frauen vom Stamm der Navajos, sitzen können. Tante Paula saugte an ihrem Rohr und betrachtete ihre Nichte.

„Die Setzlinge aus dem Baumarkt stehen hinten im Garten. Du kannst sie ja nachher mitnehmen. Aber ich sage Dir, das war das letzte Mal, dass ich Dir so einen Gefallen getan habe.“

„Ist ja gut! Du wärst ja sowieso hingefahren, oder?“

„Das tut nichts zur Sache. Du kannst Dich nicht immer nur zurückziehen!“

„Mach ich ja gar nicht“ verteidigte sich Mara und stieß ihre Kuchengabel in den mit Streuseln bedeckten Rücken einer Aprikose.

„Also was ich so mitbekomme, ist, dass Du Dich nur noch durchmogelst. Ich weiß gar nicht, wie Du deine Arbeit im Museum überhaupt schaffst. Da bist Du doch ständig mit Menschen zusammen.“

„Lass das mal nur meine Sorge sein“, antwortete Mara.

„Das geht jetzt schon seit Monaten so und ich habe nicht das Gefühl, dass es über den Winter besser geworden ist.“

Im Flur klingelte das Telefon.

„Das Leben ist viel zu kurz, um es mit so viel Angst zu verbringen, wie Du das im Moment tust. Findest Du nicht?“

Tante Paula warf ihr einen strengen Blick zu und ging nach draußen.

Mara stand auf.

Sie wollte sich nicht drängen lassen. Natürlich wusste sie selbst, dass es so nicht weiter gehen konnte, dass sie nicht ein Leben lang allem, was ihr Angst bereitete, ausweichen konnte.

Sie ging hinüber ins Wohnzimmer. Die schweren, afghanischen Teppiche dämpften ihre Schritte. Die Wände hingen voller Kult- und Schmuckgegenstände. Sie betrachtete einen mit imposanten Adlerfedern geschmückten Traumfänger. Darunter hingen ein kleiner Lederbeutel und daneben eine Kalebasse aus getrocknetem Kürbis. Den Lederbeutel hätte sie gerne geöffnet. Nur um zu sehen, was darin war. Weiter drüben hing eine ganze Serie von Pfeifen in verschiedenen Größen. Waren es Friedenspfeifen? Vor dem schwarzen Bücherschrank mit den Glastüren, einem Erbstück der Familie, blieb Mara stehen. Hier hatte Tante Paula ihre Schmuckstücke ausgelegt: gebleichte Muscheln, lilafarbene Amethysten, grün schimmernde Jade, gläserne Bergkristalle und allerlei Fossilien. Wegen seiner hellen Farbe fiel Mara ein Bernstein in der Größe eines kleineren Hühnereis auf. Sie öffnete das Glastürchen und nahm ihn in ihre Hand. Überraschenderweise fühlte er sich fast warm an. Seine kuppelartige Oberfläche war glatt und glänzend. Die Unterseite war nur grob bearbeitet. Sie hielt den Stein gegen das Licht. Er leuchtete honigfarben. Deutlich erkannte sie eine Fliege, ihre dünnen Beinchen, die Flügel und den Kopf. Vor Jahrhunderten vom Harz eines Baumes überflutet, war das Insekt eingeschlossen und für immer begraben, eingehüllt und abgekapselt. So sah sich Mara selbst. Vom Strom des Lebens eingeschlossen und isoliert.

Tante Paula, die nach dem langen Telefonat ins Wohnzimmer zurückkam, rieb sich das rechte Ohr. „Also Luise ist auch nicht einfach“ sagte sie und schüttelte den Kopf.

„Hast Du den neu?“ fragte Mara und hielt Tante Paula den Stein hin.

„Ich hab ihn vor ein paar Tagen bei einer Haushaltsauflösung hier in der Nachbarschaft gefunden. Gefällt er Dir?“

„Ja, sehr.“

„Weißt Du was, ich schenk ihn Dir.“

„Nein.“

„Doch. Nimm ihn mit“, sagte Tante Paula, „Du kannst ihn gebrauchen. Bernstein ist ein heilsamer Stein. Er bringt Licht ins Gemüt.“

Mara fuhr mit den Balkonpflanzen auf dem Gepäckträger und dem Bernstein in ihrer Hosentasche heimwärts. Aber statt den direkten Weg nach Hause zu nehmen, fuhr sie zum Fluss, setzte sich auf eine Bank und rauchte eine Zigarette. Es war still. Nur das Rauschen des Wassers war zu hören. Niemand kam vorbei. Doch zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass jemand fehlte. Sie drückte die halb zu Ende gerauchte Zigarette aus und schob ihr Fahrrad nach Hause.

Dort legte sie den Stein mit der eingeschlossenen Fliege neben ihr Bett zum Wecker. So konnte sie ihn immer sehen. Gleich morgens wenn sie aufwachte und abends, wenn sie das Licht löschte.

In der Nacht lag Mara wach. Sie dachte an Felix und mit ihm an den siebten Geburtstag im Garten mit den Obstbäumen und der Wiese. Überall hingen bunte Girlanden und Luftballons. All ihre Freundinnen waren eingeladen und Papa war früher aus der Uni gekommen, was sehr selten vorkam. Wolfgang und Thomas wollten bei allen Spielen mitmachen. Dabei waren sie einfach noch zu klein. Beim Sackhüpfen waren sie viel zu langsam und beim Eierlaufen fiel Thomas gleich am Anfang das Ei vom Löffel und die ganze Mannschaft verlor. Dann gab es Apfelsaft und Schokoladenkuchen. Nach dem Kuchenessen verband ihre Mutter ihr die Augen. Alle waren ganz leise. Nur ein kurzes Lachen hörte sie von Sandra, ihrer besten Freundin. Jemand nahm ihre rechte Hand. Es war Papas Hand, die sie führte. Seine andere legte er auf ihre Schulter. Sie wurde um etwas herumgeführt. War es der Tisch? Dann ging es über den Rasen. Sie spürte die Unebenheiten unter ihren Füßen und die Grashalme, die sie kitzelten. Nach einigen Schritten verstärkte sich der Druck der Hand auf ihrer Schulter, anscheinend sollte sie anhalten. Ihr wurde das Tuch von den Augen genommen. Und da war er: In einem Stall mit einer Trinkflasche auf der einen Seite und einem Holztürchen auf der anderen Seite saß auf Stroh ein hellbrauner Hase. Mara kniete sich vor den Stall und griff in die kleinen Löcher im Draht. Er kam angehoppelt. Sanft berührte er mit seiner Nase ihre Fingerspitzen und schnupperte daran. Ihr Vater öffnete das Türchen und Mara nahm den Hasen auf den Arm. Ängstlich legte er seine Ohren an. Durch sein weiches Fell spürte sie sein Herz schnell schlagen. Ihre Mutter fotografierte sie. Vorsichtig setzte sie ihn in seinen Stall zurück. Am Abend, nachdem alle Kinder weg waren, brachte sie ihm Futter und eine Möhre. Sie blieb lange bei ihm und streichelte ihn und hätte am liebsten die ganze Nacht bei ihm verbracht.

Sie hatte Felix sehr gern. Sie mochte sein weiches, flauschiges Fell, wenn sie ihn streichelte, wenn sie ihr Gesicht darin vergrub. Sie fütterte ihn morgens und abends und oft saß sie bis es dunkel wurde bei ihm vor dem Stall und erzählte ihm alles Mögliche, bis ihr Vater kam und sie ins Haus holte. Felix schien sie zu verstehen. Einmal nach einem solchen langen Abend bei Felix wollte sie ihn am nächsten Morgen gleich vor der Schule noch besuchen. Als sie zu ihm kam, lag er reglos im Stall. Er kam nicht zu ihr hingehoppelt. Sein Fell sah wirr und unordentlich aus. Seine Augen waren stumpf. Sein Mund war halb offen. Sie sah seine Zähne. Felix war tot.

Mara weinte, schluchzte laut. Sie nahm den Bernstein in ihre Hand. Allmählich tröstete sie die Tatsache, dass sie in ihrer Wohnung, in ihrem Bett war und nicht mehr das verlassene Mädchen von damals.

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