Buch lesen: «Ganz da»
RICHARD ROHR
GANZ DA
EINFACH
UND
KONTEMPLATIV
LEBEN
Aus dem Amerikanischen von Andreas Ebert
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Just This
Copyright © Richard Rohr
CAC Publishing, Center for Action and Contemplation
PO Box 12464, Albuquerque, New Mexico 87195, USA, cac.org
Copyright © Claudius Verlag, München 2018
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München
unter Verwendung eines Bildes von © shutterstock.com/iulias
Layout: Mario Moths, Marl
Gesetzt aus der Univers und Stempel Garamond
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-532-60034-4
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Geleitwort: Ein ganz besonderes Buch
Einleitung: STAUNEN UND HINGABE
Den Balken entfernen
Nicht anhaften: Des-Identifikation
Leidenschaften und Praxis
Achtsamkeit und Interpretation
Eins: EIN AUGENBLICK DER EHRFURCHT
Der Göttliche Hinterhalt
Ein langer liebender Blick
Unersetzliche „Diesheit“
Das Sakrament des gegenwärtigen Augenblicks
Pure Präsenz
Den Spiegel putzen
Gedanken gegen Bewusstheit
Das Ganze ist in seinen Teilen
Gott der Unterbrechungen
Der Sinn Christi
Kein Problem zu lösen
Die Pfade von Liebe und Leiden
Der Mariengeist
Was du nicht zulässt, hält dich fest
Weder klammern noch abwehren
Gott durchleben
Leben als Partizipation
Leid tragen
Endlich frei
Zwei: AUFWACHSEN UND AUFWACHEN
Zwei Stadien der Erleuchtung
Raum schaffen für mehr
Verwundbarkeit und Macht
Strombett der Barmherzigkeit
Der große Fluss
Ein gegenseitiger liebevoller Blick
Den Geist leeren, das Herz füllen
Gedanken fallen lassen
Was verborgen ist
Gott von Herz zu Herz kennen
Ganz intim und ganz umfassend
Die erste Bibel
Vom Ego-Bewusstsein zur Bewusstheit der Seele
Die wirbelnde Spitze
Ein Spiegeluniversum
Alles was ist
Training in Machtlosigkeit
Das Gerümpel entsorgen
Drei: LEID TRAGEN
Verwandeln oder weitergeben
Ein fröhlicher Abstieg
Das universelle Muster
Versöhnung statt Versühnung
Gott ist kein Mathematiker
Alles Recyceln
Notwendiges Leid
Hoffnung und Leid
Wissen und Nichtwissen
In die Fülle fallen
Am Weinstock bleiben
Das wahre Selbst erleben
Sterben, bevor wir sterben
Vier: ANSTÖSSE UND ANLEITUNGEN
1. Sehen
2. Die Achtsamkeit des Herzens pflegen
3. Die Furien wahrnehmen
4. Auf den Atem achten
5. Nach „Schadprogrammen“ scannen
6. Schweigen
7. Wachsam sein
8. Das Willkommensgebet
9. Achtsamkeit üben
10. Boote, die flussabwärts gleiten, und das Gebet der Sammlung
11. Freiwillige Des-Identifikation
12. Seitenwechsel
Anmerkungen
Geleitwort
EIN GANZ
BESONDERES BUCH
Richard Rohr hat in den letzten Jahren unendlich viele Bücher geschrieben, die meisten davon sind auch auf Deutsch erschienen. Aber nie hat er so prägnant und kompakt auf den Punkt gebracht, was sein Herzensanliegen ist, das sich wie ein roter Faden durch alle seine mündlichen wie schriftlichen Veröffentlichungen zieht.
Heute ist viel von „Kontemplation“ oder „kontemplativem Gebet“ die Rede. Aber es gibt nicht viele Autoren, die so verständlich, einfühlsam und bündig erklären können, was damit gemeint ist, und die uns gleichsam an die Hand nehmen und uns ganz praktisch in diese uralte Weise des Betens einführen. Es gibt sie in allen Religionen, und auch im Christentum wird sie seit den Tagen der frühen Wüstenväter und -mütter geübt, wenn auch lange Zeit nur von wenigen. In den letzten Jahrzehnten hat der spirituelle Hunger auch bei uns zugenommen, aber in den Kirchen gibt es wenig kompetente Lehrerinnen und Lehrer, die ihn zu stillen vermögen. Das ist einer der Gründe, warum viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen anderswo, sei es in der Esoterik, sei es in fernöstlichen Meditationsformen, Orientierung und Anleitung suchen.
Richard Rohrs Begriff von Kontemplation umfasst nicht nur Meditation und Gebet, auch wenn sie ein wesentlicher Faktor dieser Spiritualität sind. Es geht ihm vielmehr um eine bestimmte und umfassende Weise des Da-Seins, die das gesamte Leben nährt und prägt. Sie unterscheidet sich von traditioneller Religiosität und ihren Formen, auch wenn sie auch in ihnen viel Wertvolles entdeckt und neu und tiefer versteht.
Gott offenbart sich am Berg Horeb Mose mit dem Namen „Ich bin da!“. Und diese Begegnung ruft den Flüchtling und Totschläger ebenfalls ins „Da-Sein“, in eine neue Art von Präsenz, aus der heraus der Lebenssinn und die spezifische Berufung und Lebensaufgabe dieses Mannes klar wird.
Richard Rohr ruft auch uns, seine Leserinnen und Leser, zum Da-Sein. Er tut dies in drei Schritten. In der ausführlichen Einleitung dieses Buches klärt er, was Kontemplation bedeutet. In den Kapiteln 1 bis 3 beleuchtet er einzelne Aspekte dieses spirituellen Weges. Und im 4. Kapitel bietet er zwölf praktische Übungen für den Alltag an, die dazu beitragen können, dass das alles kein interessantes geistiges Konzept bleibt, sondern den Weg vom Kopf ins Herz, in den Körper und hinaus in die Welt findet.
Es empfiehlt sich, die Einleitung relativ zügig zu lesen, um eine Vorstellung zu bekommen, worum es insgesamt geht.
Die 50 kurzen Abschnitte der Kapitel 1 bis 3 hingegen eignen sich hervorragend für tägliche Meditationen. Es erscheint mir sinnvoll, diese Texte nicht zu verschlingen wie einen Roman, sondern jeden Tag nur einen Abschnitt mehrmals, langsam und „kontemplativ“ zu lesen und einsinken zu lassen. Schon Martin Luther, der täglich zwei Stunden lang die Bibel meditierte, sagt: „Viele Bücher machen nicht gelehrt, viel lesen auch nicht, sondern gute Dinge und oft lesen, wie wenig es auch ist, das macht gelehrt in der Schrift und fromm dazu.“
Die zwölf Übungsanleitungen in Kapitel 4 wiederum können die Lektüre unterstützen und mit Leben füllen, indem man zum Beispiel jede Woche eine dieser Übungen täglich „ausprobiert“. Das alles kann man alleine tun oder noch besser gemeinsam, etwa in einem Hauskreis oder zusammen mit anderen, die ebenfalls lernen wollen, kontemplativ zu beten und zu leben – auch wenn kein versierter Anleiter und keine weise Lehrerin zur Verfügung stehen.
Dieses kleine Buch hat es in sich. Ich bin überzeugt, dass es Menschen nachhaltig inspirieren und verändern kann. Die einzigen Bedingungen dafür sind die Sehnsucht nach einer vertieften Spiritualität und etwas Disziplin, um täglich tatsächlich 15 bis 20 Minuten zu üben. Wer damit beginnt, wird diese Zeit schon bald nicht mehr missen wollen. Ich wünsche diesem Buch und allen, die es lesen und durchleben, Freude und himmlischen Segen.
Andreas Ebert
Einleitung
STAUNEN UND HINGABE
Ich lasse mich suchen von denen, die nicht nach mir forschen; ich lasse mich finden von denen, die nicht nach mir suchen. Ich sage: „Hier bin ich! Hier bin ich!“, zu Menschen, die nicht einmal meinen Namen anrufen.
(Jesaja 65,1)
Ganz da ist in erster Linie ein Buch über das Sehen, allerdings eine Art des Sehens, die viel mehr ist als bloßes Hinschauen, weil es zugleich Erkennen und im Gefolge davon Wertschätzung beinhaltet. Dies ist die Art des Sehens, die wir in der Kontemplation üben, dem Herzstück jedes authentischen inneren Dialogs. Der kontemplative Geist zeigt uns nicht, was wir sehen sollen, sondern lehrt uns, wie wir das sehen können, was wir vor Augen haben.
Kontemplation erlaubt uns, die Wahrheit der Dinge in ihrer Ganzheit zu schauen. Es handelt sich um einen geistigen Übungsweg und ein Geschenk, das uns – sogar neurologisch – von der Abhängigkeit von unserer fixierten Denkweise befreit, von unserer linken Gehirnhälfte, die denkt, sie hätte alles im Griff. Wir hören auf, unserem winzigen, binären Verstand zu glauben, der alles auf zwei Wahlmöglichkeiten reduziert und sich dann in der Regel mit einer davon identifiziert, und wir beginnen, die Unzulänglichkeit dieser beschränkten Art und Weise, die Wirklichkeit wahrzunehmen, zu erkennen. In der Tat ist ein binärer Verstand ein Garant für Oberflächlichkeit, wenn nicht gar Dummheit. Nur kontemplative oder zutiefst intuitive Menschen können beginnen, sich in wesentlich weitere und ergebnisoffenere Gefilde vorzuwagen. Dies ist vermutlich der Grund, weshalb Einstein sagte, Imagination sei wichtiger als Wissen: „Wissen ist begrenzt. Imagination umfasst die ganze Welt.“1
Aber wie erlernen wir diesen kontemplativen Geist, diese tiefe, geheimnisvolle und lebensspendende Weise, die Wirklichkeit zu sehen und in ihr zu sein? Warum fällt uns das nicht ganz einfach in den Schoß? Er zeigt sich tatsächlich in kurzen Momenten, in Augenblicken großer Liebe und großen Leidens; aber solch Sehen mit weit geöffneten Augen hält normalerweise nicht lange an. Wir kehren schnell zu dualistischer Analyse zurück und benutzen unser Urteilsvermögen, um wieder die Kontrolle zu gewinnen. Eine Gebetspraxis – Kontemplation – besteht einfach darin, sich die Frucht großer Liebe und großen Leidens lange und in unterschiedlichen Situationen zu bewahren. Und dies erfordert eine Menge Übung – ja, unser ganzes Leben wird so zu einem kontinuierlichen Übungsweg.
Um mit neuen Augen zu sehen, müssen wir unsere gewohnte Weise, jedem Augenblick zu begegnen, beobachten und uns davon demütigen lassen. Diese Erfahrung ist demütigend, weil wir feststellen werden, dass wir nur einige wenige vorhersagbare Reaktionsweisen eingeübt haben. Wenige unserer Reaktionen sind originell, spontan oder von natürlicher Wertschätzung getragen für das, was uns entgegenkommt. Die gängigen Reaktionen auf neue Situationen sind Misstrauen, Zynismus, Furcht, reflexartige Resonanz, Ablehnung oder ein überzogener Richtgeist. Es ist ernüchternd, wenn wir den Mut haben, endlich zu sehen, dass dies die gängigen Methoden sind, mit denen das Ego versucht, Informationen zu kontrollieren, anstatt dem Augenblick zu erlauben, eine gewisse Kontrolle über uns zu erlangen – und uns Neues zu lehren!
Damit uns der Augenblick etwas lehren kann, müssen wir zulassen, dass wir uns zumindest ein wenig von ihm überraschen lassen, bis er uns erst in seinen Bann und schließlich gleichsam nach oben zieht zu einer subtilen Erfahrung der Verwunderung. Normalerweise genügt ein einziger Moment fraglosen Staunens, um die eigene Trägheit zu überwinden – und solche Momente sind die einzig solide Grundlage jeder religiösen Intuition und Suchbewegung. Man betrachte beispielsweise die jüdisch-christliche Exodusgeschichte: Alles beginnt mit einem Mörder (Mose), der vor dem Arm des Gesetzes flüchtet und dabei auf einen paradoxen Dornbusch stößt, „der brennt, ohne verzehrt zu werden“. Von Ehrfurcht ergriffen, zieht Mose die Schuhe aus, und die Erde unter seinen Füßen wird zu „heiligem Boden“ (Exodus 3,2–6), weil er dem „Ich bin da“, dem „Sein an sich“ begegnet ist (Exodus 3,14). Diese Erzählung offenbart das klassische Muster, das sich in unterschiedlichen Variationen und Sprachgestalten bei allen Mystikern der Welt wiederholt.
Der spirituelle Weg ist ein ständiges Zusammenspiel von Momenten des Staunens, auf die in der Regel ein Prozess der Hingabe an solch einen Moment folgt. Wir müssen zunächst zulassen, dass wir von der Güte, Wahrheit oder Schönheit einer Realität gefesselt werden, die jenseits und außerhalb unserer selbst liegt. Ausgehend von diesem wunderbaren Augenblick schließen wir dann auf die Güte, Wahrheit und Schönheit der gesamten Wirklichkeit – bis unsere Wahrnehmung schließlich zurückwirkt und uns selbst einschließt! Dies ist der großartige innere Dialog, den wir Gebet nennen. Doch wir Menschen haben Widerstände sowohl gegenüber dem Staunen als auch und noch stärker gegenüber der Hingabe. Das Ego stellt sich dem Staunen in den Weg, während der Wille der Hingabe widerstrebt. Aber beide gemeinsam sind notwendig und lebenswichtig.
Der Weg zu jedweder universalen Idee beginnt mit einer konkreten Begegnung. Es gibt viele verschiedene Arten, eben dies auszudrücken: Das Eine ist der Weg zum Vielen; das Besondere ist der Weg in das Umfassende; das Jetzt ist der Weg zum Immer; das Hier ist der Weg zum Überall; die Materie ist der Weg zum Geist; das Sichtbare ist der Weg zum Unsichtbaren. Wenn wir kontemplativ sehen, wissen wir, dass wir in einem durch und durch sakramentalen Universum leben, wo alles ein Hinweis und eine Offenbarung ist.
Walter Brueggemann, mein Favorit unter den Fachgelehrten der hebräischen heiligen Schriften, nennt dieses Prinzip des Weges vom Konkreten zum Universalen den „Skandal des Partikulären“ und weist nach, dass dies das Grundmuster der gesamten biblischen Geschichte ist. Misslich ist, dass sich die meisten in der Diskussion auf irgendwelche konkreten Einzelphänomene fixieren (das genaue Gegenteil des Staunens!) und niemals die wundersame Reise zum Universalen, zum Immer und zum Überall antreten. Absolute Wahrheit wird hier durch relative Wahrheit ersetzt – und das in einem Ausmaß, dass unsere postmoderne Welt die Existenz jeder absoluten Wahrheiten per se leugnet. Wir neigen dazu, den Vermittler einer Botschaft anzuhimmeln, anstatt der Botschaft selbst zu folgen; wir verehren den Finger, der auf den Mond deutet, anstatt selbst in fassungslosem Schweigen den Mond zu betrachten. Während Wissenschaftler einen Hang zum Universalen haben und Dichter das Besondere lieben, sind es die Mystiker, die uns lehren, beides zu verbinden.
Den Balken entfernen
Sollte meine Beschreibung des grundlegenden Prozesses von Staunen und Hingabe zutreffen, dann muss ich wiederholen, dass wir für gewöhnlich beidem gegenüber blockiert sind, ebenso wie wir uns in der Regel gegenüber großer Liebe und großem Leid verschließen. Spiritualität in ihrer Frühphase hat weitgehend damit zu tun, diese Blockaden zu benennen und sich von ihnen zu lösen, indem wir anerkennen, welchen unbewussten Speicher an Erwartungen, Prämissen und Glaubensinhalten wir zutiefst verinnerlicht haben. Wenn wir nicht sehen, was unser eigenes Reservoir beinhaltet, werden wir alles, was neu ist, ins altbekannte Schema einordnen – und niemals wird irgendetwas Neues geschehen. Eine neue Idee, die vom alten Selbst benutzt wird, ist deshalb niemals eine wirklich neue Idee, während sogar eine alte Idee, die von einem neuen Selbst aufgegriffen wird, schon bald frisch und erfrischend werden wird. Kontemplation füllt unser Reservoir mit klarem, reinem Wasser, das uns erlaubt, Erfahrungen frei von eingefahrenen Mustern zu begegnen.
Bei unseren Begegnungen mit der Realität – seien sie positiv oder negativ – machen wir folgenden Fehler: Wir begreifen nicht, dass es nicht die Personen oder Ereignisse unmittelbar vor uns sind, die uns ärgern oder Angst machen beziehungsweise animieren oder begeistern. Das ist bestenfalls zum Teil wahr. Wenn du zulässt, dass dich der wunderschöne Ballon am Himmel beglückt, dann ist das so, weil du bereits für das Glück empfänglich bist. Der heiße Ballon in der Luft war nur der Auslöser – und fast alles andere hätte dieselbe Reaktion bewirken können. Wie wir sehen, bestimmt weitgehend das, was wir sehen und ob es uns erfreuen kann oder ob wir eher mit unseren Emotionen knausern und uns naserümpfend abwenden. Ohne eine objektive äußere Realität an und für sich leugnen zu wollen, ist das, was wir in der Außenwelt sehen und wofür wir empfänglich sind, ein Spiegelreflex unserer inneren Welt und unseres Bewusstseinszustandes zu diesem Zeitpunkt. Meistens sehen wir gar nichts, sondern operieren per Autopilot.
Jesus meint natürlich genau dieses Phänomen in seiner berühmten Aussage, dass wir den Splitter im Auge eines anderen aufspüren ohne wahrzunehmen, dass tatsächlich ein Balken unseren eigenen Blick blockiert (Matthäus 7,1–3). Er lehrte das mit großem Nachdruck: „Du Heuchler, entferne erst einmal den Balken aus deinem Auge, denn erst dann kannst du klar genug sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Mitmenschen zu entfernen!“ (Lukas 6,42). Unsere buddhistischen Freunde haben den Prozess der Balkenentfernung „Linsenputzen“ genannt. Und ich vermute, genau das war es, worauf sich Jesus bezogen hat, wenn er uns zuruft: „Ändert euch!“ (Matthäus 4,17; Markus 1,15).
Mir scheint, wir Menschen sind doppelseitige Spiegel, die sowohl die Innen- als auch die Außenwelt reflektieren. Wir projizieren uns selbst auf Dinge im Außen, die uns ihrerseits unsere eigene sich entfaltende Identität zurückspiegeln. Spiegelung ist die Weise, wie Kontemplative sehen, Subjekt zu Subjekt anstatt Subjekt zu Objekt. Diese Technik ist ein wesentlicher Teil moderner Psychologie und Lebensberatung, und das Muster offenbart sich oft eher in Literatur, Kulturstudien und Anthropologie als in den meisten religiösen Praktiken.
Wir selbst erschaffen einen substantiellen Teil der Bilder und der Bedeutung dessen, was wir sehen – unter Verwendung unserer eigenen Erwartungen, Bedürfnisse, Verletzungen, Zwänge, Vorlieben, Begehrlichkeiten und Prioritätenlisten. Die Psychologie nennt solche verblendenden und fixierenden Muster manchmal „Projektionen“ oder „Reaktionsformate“; in ihrer extremsten Form werden sie sogar als „Selbsttäuschungen“, „Wahn“ oder „Obsession“ bezeichnet. Ohne eine gewisse Wahrnehmung dieser persönlichen Art des Projizierens werden die meisten unserer Beziehungen nicht von Dauer sein, sondern zu einer Anreihung von illusorischen Verblendungen werden. Oder sie werden in völlig unnötigen Feindschaften enden. Ohne reifes Sehen werden wir den Anderen niemals begegnen oder sie wirklich sehen – nämlich als Andere! –, sondern aus unseren jeweiligen inneren Zuständen heraus agieren, wieder und wieder, wie der Hund, der dem eigenen Schwanz nachjagt. Genau dies ist das Endstadium des Narzissmus und die Instabilität jeder Kultur oder Person, die sich nicht selbst reflektiert. Wir müssen uns bewusst sein – geradezu Stunde um Stunde – was unser eigener Speicher enthält, oder wir werden nie das Bedürfnis verspüren, ihn mit einer neuen Art von positivem Fluss zu füllen – geschweige denn jene brackigen oder gar giftigen Quellen zu erkennen, aus denen wir trinken.
Jesus spricht denselben Gedanken an, wenn er sagt: „Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über“ (Lukas 6,45) oder „das Auge ist das Licht des Leibes“ (Lukas 11,33–36). Wie wir sehen ist, was wir sehen – das ist die ziemlich eindeutige Botschaft Jesu und Buddhas, aber die meisten von uns hatten nie jene reife Wahrnehmung, die psychischen und sogar atomphysikalischen Einsichten, um jene Aussage tatsächlich zu verstehen. Jetzt tun wir es.
Der kostenlose Auszug ist beendet.