Eis. Abenteuer. Einsamkeit

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AUFBRUCH ZUM STARTPUNKT

Gegen 10 Uhr am Vormittag stehe ich bei –20 °C mit meinem Rad sowie dem ganzen Gepäck vor dem Häuserblock meiner Unterkunft und warte auf das von Michail organisierte Sammeltaxi. Es dauert eine Weile, anderthalb Stunden vergehen, bis der Fahrer endlich aufkreuzt – sibirische Pünktlichkeit. Aber dann geht alles ganz schnell. Rad und Gepäck werden in wenigen Minuten auf dem Dach verzurrt, ich übergebe die erste Hälfte des vereinbarten Fahrpreises, und schon sausen wir los. Zunächst quer durch die Stadt, um die übrigen Fahrgäste einzusammeln, dann an einem Ausrüstungsladen vorbei, in dem ich mir für den Notfall noch eine Gaskartusche hole. Schließlich verlassen wir Jakutsk und fahren über das Eis der gefrorenen Lena. Die freigeschobene Schneise wirkt wie eine normale Hauptverkehrsstraße in einer weißen weiten Ebene. Doch links und rechts des Weges ragen aufgeschobene Eisschollen aus dem Schnee und erinnern daran, dass unter uns das Wasser des größten Stroms Sibiriens dahinfließt. Am anderen Ufer gelangen wir auf die berüchtigte Kolyma-Trasse, die einst unter der Herrschaft Stalins von Gulag-Häftlingen unter unmenschlichen Bedingungen erbaut wurde und aufgrund der vielen Todesopfer auch »Straße der Knochen« genannt wird. Bis heute ist sie die einzige ganzjährig befahrbare Straße, auf der man in die unermesslichen Weiten des Fernen Osten Russlands vordringen kann. In der dünn besiedelten Bergwildnis rund um den namensgebenden Fluss Kolyma führt sie vorbei an ehemaligen Gulags, devastierten Siedlungen und Goldgräbercamps, um nach 2.000 Kilometern am Pazifik, in der Hafenstadt Magadan, ihr Ende zu finden. Etwa auf halber Strecke liegt Ust’-Nera, das Ziel meiner Fahrgemeinschaft. Sieben Leute teilen sich die Fahrt, den Letzten sammeln wir in Nizhnyj Bestjach ein. Wir durchqueren die jakutische Tiefebene mit ihren weiten Waldgebieten und passieren etliche kleinere Dörfer. Hölzerne Blockhütten mit rauchenden Schornsteinen und im Schnee grasende Kleinpferde prägen das Landidyll. Man hat den Eindruck, in eine vergessene Welt abzutauchen, unvergleichbar mit dem städtischen Leben in Jakutsk.

Als wir einen etwas größeren Ort durchqueren, pausieren wir in einem Straßencafé und stärken uns mit einer Portion Kantinenfutter. Das Angebot der Küche ist einfach, aber deftig, genau nach meinem Geschmack. Zu trinken gibt es wie so oft in Russland Mors, ein Beerensaftgetränk mit Preiselbeeren. Während wir uns die Bäuche vollschlagen, verdichten sich am Himmel die Wolken – ein leichter Flockenwirbel setzt ein. Seit unserem Start in Jakutsk sind auch die Temperaturen spürbar gestiegen und liegen nun im einstelligen Minusbereich. Ein Tiefdruckgebiet scheint milde Luftmassen vom Ochotskischen Meer ins Landesinnere zu verfrachten. Etwas, das in diesem hochkontinentalen Klima nur sehr selten vorkommt, da mehrere Gebirgszüge am Übergang zum Pazifik eine natürliche Barriere bilden und einen maritimen Wettereinfluss im jakutischen Inland kaum zulassen. Nun scheint aber mal Bewegung in die sonst still daliegende Kaltluftzone zu kommen.

Wir fahren weiter nach Osten. Kurz vor dem Ort Chandyga erreichen wir in der Abenddämmerung den Aldan, ein weiterer Strom, der irgendwann in die Lena mündet und wie jeder Fluss hier im Winter komplett gefriert. Die Überfahrt auf dem Eis ist diesmal etwas holprig, nur auf der abgesackten Eisfläche der Flussmitte fährt es sich ganz gut. Im Sommer kommt man wie an der Lena nur mithilfe einer Fähre auf die andere Flussseite. Als ich hier bei meiner ersten Jakutien-Reise im Herbst 2007 mit dem Rad ans Ufer rollte, drängelten sich bereits mehrere Fahrzeuge um den Anleger. Warum, wurde schnell klar, denn die Fähre querte den Fluss nur zweimal am Tag – einmal morgens und einmal abends. Entsprechend groß war das Gerangel, um sich einen Platz für die Überfahrt zu sichern. Dass es jetzt im Winter eine Straße über das Eis gibt, macht die Lage natürlich viel entspannter.

In Chandyga kehren wir noch einmal ein. Ich nutze die Gelegenheit, ein letztes Mal mit meiner Freundin Ania zu telefonieren. Später würde es kein Netz mehr geben, wahrscheinlich auf den gesamten 900 Kilometern der ersten Etappe, also etwa drei Wochen lang. In dieser Zeit können wir nur über meinen Satellitenmessenger, ein DeLorme InReach, kommunizieren. Textnachrichten via Satellit sind möglich, Gespräche jedoch nicht. Sie hat Vertrauen in mein Vorhaben und macht sich zum Glück keine unnötigen Sorgen. Allerdings ist sie nicht gerade erfreut, dass ich schon wieder für so lange Zeit aus dem gemeinsamen Leben ausbreche, war ich doch erst im vergangenen Sommer für drei Monate in der nordsibirischen Wildnis unterwegs. Eine Auszeit von einem Monat fände sie noch in Ordnung, aber sieben Wochen oder gar zwei, drei Monate? Ich verstehe ihre Perspektive, ihren Wunsch nach mehr Beständigkeit, doch mich zieht es immer wieder hinaus, um etwas Unbekanntes auf eigene Faust zu entdecken, etwas Neues mit allen Sinnen zu erleben – da reicht ein einzelner Monat oft nicht aus, vor allem, wenn es in so abgelegene Gebiete geht wie jetzt.

Nach neun Stunden Fahrt erreichen wir endlich den Abzweig, an dem ich meine Radtour starten möchte. Es ist bereits stockduster, im Lichtkegel der Scheinwerfer erkenne ich nur das Schild, das auf die Orte nördlich der Trasse verweist, daneben schemenhaft die Umrisse der tief verschneiten Lärchentaiga. Ich sage dem Fahrer, dass er mich hier absetzen kann, ich würde mich schon zurechtfinden. Das erscheint ihm offenbar etwas zu suspekt, und so steuert er kurzerhand auf eine Einsiedlerhütte zu, die es vor zehn Jahren an dieser Stelle noch nicht gab. Es wird gehupt, bis ein Mann vor die Tür tritt. Schließlich kommen sie ins Gespräch und handeln irgendwas aus. So wie es scheint, soll ich die Nacht in der Hütte verbringen und nicht irgendwo im Wald. Ich füge mich den Umständen, verabschiede mich von meiner Fahrgemeinschaft und deponiere meinen ganzen Krempel an der Hauswand.



Mit einem Sammeltaxi lasse ich mich an den Rand des Werchojansker Gebirges bringen.


Abendliche Ankunft an Valodias Haus, das früher ein Truckercafé war.

Wortkarg und mit ernstem Blick bittet mich mein überrumpelter Gastgeber in die warme Unterkunft. Valodia ist sein Name, er wohnt hier allein mit drei Hunden und einer Katze. Erbaut wurde die Hütte als Café für durchkommende Trucker, ein paar Jahre hat er damit seinen Unterhalt verdient. Doch irgendwann nach 2015 rentierte sich das Geschäft nicht mehr, und er machte den Laden dicht. Seither scheint ihn die Jagd über Wasser zu halten. Mehr gibt es nicht zu erzählen. Auch von mir will er nichts weiter wissen. Bei einer Scheibe Brot und Tee schauen wir schweigend auf den flackernden Flachbildfernseher, der neben Mikrowelle und Kühlschrank an der Decke befestigt ist. Ein schwaches kaltes Licht sorgt für etwas Helligkeit im Raum. Müdigkeit überkommt mich, deshalb frage ich ihn bald, wo ich die Nacht verbringen kann. Er führt mich in einen gut isolierten Nebenraum mit einem Bett und einer Holzpritsche am Boden. Letztere ist für mich, und so haue ich mich ohne Umschweife aufs Ohr. Der Raum ist vollkommen überhitzt – unerträglich, kaum auszuhalten. Ich bleibe wach, liege ohne Decke, am Fußende die Katze. Nach einer Weile wage ich es, das Fenster aufzureißen, nur einen Spalt, in der Hoffnung, dass es Valodia nicht bemerkt. Erst dann gelingt es mir einzuschlafen.

Ich bleibe wach, liege ohne Decke, am Fußende die Katze. Nach einer Weile wage ich es, das Fenster aufzureißen, nur einen Spalt, in der Hoffnung, dass es Valodia nicht bemerkt. Erst dann gelingt es mir einzuschlafen.


Zwischenstopp in einer jakutischen Siedlung.

2
ABZWEIG INS UNGEWISSE
TAG 1, KILOMETER 0

Als die Morgensonne über die weißen Berggipfel des Werchojansker Gebirges emporsteigt, stehe ich an dem Abzweig und blicke auf das Schild, das mir den Weg in eine mir noch unbekannte Richtung weist. Ich könnte sofort einbiegen, doch etwas hält mich. Zu bedeutsam erscheint mir der Ort, als dass ich in der Lage wäre, einfach an ihm vorüberzufahren. Mitte September 2007 stand ich schon einmal an dieser Stelle. Goldgelb leuchteten damals die Lärchen und boten einen schönen Kontrast zum Grau des Himmels, der den nahenden Winter mit bald aufkommenden Schneefällen ankündigte. Mysteriös kam mir dieser Abzweig vor, zeigte doch das damalige Schild gleich drei Orte, die ich auf meiner Übersichtskarte nicht finden konnte – weit im Norden, irgendwo im Nirgendwo: Batagaj 900 km, Ust’-Kujga 1.295 km, Deputatskij 1.519 km. Dass man diese Siedlungen ausschilderte, wunderte mich, denn auf meinen Karten waren keinerlei Wege zu finden, die über den ersten, ebenfalls genannten Ort Topolinoe in 189 Kilometer Entfernung hinausreichten. Was sind das für Orte, wenn dort keine Wege hinführen? Oder was sind das für Wege, wenn sie auch in der aktuellsten Karte nicht verzeichnet sind?


An diesem Abzweig beginne ich meine Radtour in den arktischen Norden.

 

Erst als ich wieder zu Hause war, fand ich die Antwort darauf: in einem kleinen russischen Straßenatlas, der auch große Teile des nördlichen Sibiriens abbildet. Hier sind sie verzeichnet, die mysteriösen Wege, dargestellt als ein paar unscheinbare Linien, die von der Kolyma-Trasse in die unendlichen Weiten des fast menschenleeren Nordens reichen – gekennzeichnet mit dem Begriff »автозимник« (avtozimnik), kurz auch »зимник« (zimnik). Was übersetzt heißt: Winterstraße für Autos, abgeleitet von »zima«, dem russischen Wort für »Winter«. Es stellte sich heraus, dass auch vom Dorf Topolinoe ein Zimnik weiter nach Norden führt – nach Batagaj und Ust’-Kujga, zu ebenjenen Orten, die auch auf dem Schild verzeichnet waren. Dieser Abzweig ist also ein offizieller Einstieg in das temporäre Winterstraßennetz des jakutischen Nordens. Nur im Winter, wenn Flüsse, Seen und Sümpfe gefroren sind, ist es möglich, diese unfassbar weit entfernten Orte auf dem Landweg zu erreichen. Eine faszinierende Vorstellung, die mich nicht mehr loslassen wollte.

Ich begann zu recherchieren, wollte mehr über diese Winterwege erfahren – welche der im Atlas verzeichneten Zimniks tatsächlich existieren, wo genau sie entlangführen und in welchem Zustand sie sind. Über Jahre hinweg filterte ich immer wieder das Internet nach allen erdenklichen Infos und Andeutungen, sichtete Berichte, Fotos und Videos von diversen russischen, osteuropäischen und internationalen Autoexpeditionen, teils auch von lokalen Fernfahrern, notierte, skizzierte und speicherte mir alles ab, was irgendwie von Bedeutung sein könnte. So vervollständigte sich das Bild mehr und mehr, insbesondere in den letzten Jahren, da bei den Suchergebnissen einige Geländewagenexpeditionen hinzukamen, die ihre gefahrenen Tracks in guter Auflösung für jedermann verfügbar machten. Schließlich wurde die Informationslage so detailliert, dass ich begann, alles Wissen in mehreren Übersichtskarten anschaulich zu bündeln, ergänzt durch eine flächendeckende Analyse der Google-Maps-Satellitenbilder, um mir einen umfassenden Überblick zu den aktuell vorhandenen Winterwegen des russischen Nordens zu verschaffen.

Ich war sichtlich überrascht, wie viele autotaugliche, regelmäßig vom Schnee befreite Winterwege es allein im Norden Jakutiens gibt, wie diese zum Teil miteinander verbunden sind und wie weit einige in die polaren Gebiete vordringen – bis hin zu den letzten Siedlungen in der arktischen Tundra –, ein Wegenetz von Abertausenden Kilometern! Und irgendwie hatte jede Variante ihren Reiz. Doch im Vergleich untereinander wurde schnell klar, dass der Zimnik über Batagaj und Ust’-Kujga der mit Abstand reizvollste sein muss, denn dieser geht nicht nur durch eine abwechslungsreiche Gebirgslandschaft, sondern führt auch auf mehreren Hundert Kilometern über das Eis gefrorener Flüsse und auf seiner Verlängerung zur Polarhafenstadt Tiksi sogar noch gute 200 Kilometer über die Eisdecke des Arktischen Ozeans. Wo hat man so etwas sonst noch auf der Welt? Tatsächlich nirgendwo!

Der Zimnik nach Tiksi sollte also mein unangefochtener Favorit bleiben – diesen und keinen anderen möchte ich fahren! Hier werde ich bis zum Schluss Neues entdecken können, bis zum Schluss immer etwas vor mir haben, das meine Motivation weckt, weiterzumachen und nicht aufzugeben. Denn ich habe eins gelernt in den vergangenen Reisejahren: Um die Moral bis zum Schluss aufrechtzuerhalten, muss ich sie regelmäßig mit etwas Neuem füttern, um auch unter widrigen Umständen nicht einfach das Handtuch zu werfen oder den Sinn des Ganzen zu hinterfragen. Solange ich etwas vor mir habe, das mich begeistert und das ich unbedingt noch sehen möchte, ergibt es für mich auch Sinn, ein Ziel aus eigener Kraft zu erreichen – nicht der Kilometer wegen, sondern des Erlebnisses wegen! Und das gefrorene Polarmeer als Finaletappe ist definitiv etwas, das ich mir auf keinen Fall entgehen lassen möchte.

Der Zimnik nach Tiksi sollte also mein unangefochtener Favorit bleiben – diesen und keinen anderen möchte ich fahren! Hier werde ich bis zum Schluss Neues entdecken können, bis zum Schluss immer etwas vor mir haben, das meine Motivation weckt, weiterzumachen und nicht aufzugeben.

Noch immer stehe ich an dem Abzweig, doch beschwingt von dem letzten Gedanken trete ich nun endlich in die Pedale und mache mich auf den Weg. Der Startschuss ist gefallen, es geht los! Die ersten 190 Kilometer bis zum Dorf Topolinoe sind noch eine normale Schotterpiste, jetzt natürlich schneebedeckt, die auch im Sommer mit dem Auto befahren werden kann. Der nächste größere Ort danach: Batagaj in 900 Kilometer Entfernung. Es ist die längste Etappe zwischen zwei Versorgungspunkten, und so bringt mein bepacktes Rad ein noch nie da gewesenes Gesamtgewicht von gut 110 Kilogramm auf die Waage. Allein den Anteil des Proviants schätze ich auf rund 20 Kilogramm. Zudem habe ich zwei Thermoskannen mit Tee dabei, drei Liter Benzin, zwei Benzinkocher, einen Gaskocher, ein Beil, eine Handkettensäge, ein Solarpaneel, Werkzeug, Ersatzteile, Unmengen an Klamotten und natürlich eine umfangreiche Fotoausrüstung, bestehend aus einer Pentax-Spiegelreflexkamera mit drei Objektiven, einer Sony-Kompaktkamera, einer Go-Pro-Actioncam und einem Stativ, dazu etliche Akkus, Ladegeräte und so weiter. Viel zu viel, könnte man meinen, doch hier draußen, fern jeder Zivilisation, schleppe ich lieber etwas mehr mit mir herum als zu wenig. Sicher ist sicher, denn ich möchte einerseits vollkommen autark bleiben, um auch in schwierigen Situationen nicht auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, andererseits auch nicht auf den Luxus verzichten, ein gutes Foto schießen zu können.

Mit dabei ist auch eine Rollpulka – ein leichtes Kunststoffteil, das nur 400 Gramm wiegt, sich einrollen lässt und im Gepäck um das Zelt gewickelt quasi keinen zusätzlichen Platz wegnimmt. Aber ausgerollt kann ich sie wie einen Schlitten hinter meinem Rad herziehen und einen Teil meines Gepäcks auf sie auslagern. Eigentlich war der Plan, sie erst dort einzusetzen, wo ich eventuell auf Schneemobilpisten ausweichen muss, also dort, wo eine Verteilung der Gepäcklast auf eine größere Fläche von Vorteil wäre, um nicht zu tief in den Schnee einzusinken. Das ist auch der Grund, warum ich mich für das Surly Pugsley entschieden habe, ein Fatbike mit vier Zoll beziehungsweise zehn Zentimeter breiten Reifen. Doch schon jetzt stehe ich vor dem Problem, wie ich diese Unmengen an Gepäck am Fahrrad transportieren soll. Ich müsste alles noch einmal umpacken, aber darauf habe ich im Moment keine Lust. Also entscheide ich mich kurzerhand dafür, die Rollpulka gleich hier ans Rad zu binden und mit einer großen Tasche zu beladen. Vor zwei Jahren hatte ich dieses Konzept schon einmal getestet. Es funktioniert, nur bergab kann es passieren, dass mich der Schlitten überholt und die Zugleinen sich um das rotierende Hinterrad wickeln …

VON HÜTTE ZU HÜTTE

Es ist unglaublich mild: 0 °C zeigt mein Thermometer! Normal ist das nicht, hatte ich doch um diese Zeit eher mit –50 in der Nacht und –30 °C am Tag gerechnet. Bis Mitte März kann es im Werchojansker Gebirge noch vereinzelt solche Werte geben. Mental hatte ich mich darauf eingestellt, dass die ersten Tage hart werden würden. Doch nun das völlige Gegenteil – eine regelrechte Hitzewelle! Ich fahre nur mit langärmeligem Unterhemd und T-Shirt, zeitweise auch ohne Mütze. Es geht auf und ab, vor allem an den Anstiegen komme ich mächtig ins Schwitzen. Ich bin noch vollkommen untrainiert und muss mir erst einmal etwas Kondition erarbeiten. Fast schon aussichtslos erscheint mir das Vorhaben, mit solch einer Gepäckmasse noch 1.800 Kilometer bewältigen zu wollen, als könne ich dieser enormen Belastung nicht standhalten. Aber ich weiß: Das kommt noch. Die erste Reisewoche ist meine Trainingswoche. Ruhig angehen und dann durchstarten, das ist meine Devise. Zumal ich jetzt am Anfang ohnehin meinen Fokus auf die Eingewöhnung an die winterlichen Umstände und die alltägliche Routine richten muss. Da kommt es mir natürlich entgegen, dass ausgerechnet jetzt so milde Temperaturen herrschen, das erleichtert den Einstieg ungemein.

Ich genieße es, endlich auf eigene Faust unterwegs zu sein, dieses Land in seinem Winterkleid hautnah mit allen Sinnen und viel Zeit erleben zu können. Immer, wenn ich eine Freifläche oder eine Anhöhe passiere, schweift mein Blick in die Weite, um jedes Detail dieser faszinierenden Welt einzusaugen. Rechts die blendend weißen Gipfel der über 2.000 Meter hohen Gebirgskette, links die unendlich wirkende Lärchentaiga der jakutischen Tiefebene. Das alles in das strahlende Licht der wärmenden Märzsonne getaucht. Als jene am Abend als glühend roter Ball über der weiten Waldebene untergeht, spüre ich, wie mich meine Kräfte verlassen. Ich könnte auf der Stelle umfallen und einschlafen, doch ich will noch ein Stück weiter. Valodia hatte mir von einer Hütte erzählt, direkt am Weg, in etwa 40 Kilometer Entfernung. Wenn ich sie erreiche, kann ich mir den Zeltaufbau ersparen und hätte zudem einen wirksam schützenden Unterschlupf.

Auch wenn es im Moment noch nicht danach aussieht, dass es nachts kälter als –15 °C werden könnte, will ich auf dieser Reise von Beginn an jede sich bietende Möglichkeit nutzen, nicht im Freien zu übernachten, um meine körpereigenen Energiereserven zu schonen. Nur so glaube ich, sechs Wochen ohne erholende Pausentage durchstehen zu können. Mein Erfahrungsrepertoire geht zurück auf drei längere Winterradreisen, die mich in der Vergangenheit durch Skandinavien und das nördliche Russland führten. Jede dieser Expeditionen dauerte rund drei Wochen, und jedes Mal fühlte ich am Ende, dass die Luft raus war, dass ich bei einer Verlängerung keinen Spaß mehr haben würde, mich physisch und psychisch vollkommen verausgaben müsste. Diesen Zustand muss ich diesmal unbedingt so weit wie möglich hinausschieben, um bis zum Schluss bei Kräften zu bleiben. Und so fange ich heute schon an, eher aus Prinzip als aus Notwendigkeit, und fahre weiter in die Nacht hinein, fest entschlossen, diese Hütte als ersten Lagerplatz zu erreichen.


Fantastischer Weitblick: auf der einen Seite das Werchojansker Gebirge, auf der anderen die jakutische Tiefebene.



Als das letzte Licht des Tages dahinschwindet, funkeln immer mehr Sterne am Firmament auf. Richtig dunkel wird es aber nicht, denn der zunehmende Halbmond steht in dieser Phase schon hoch am Abendhimmel und beleuchtet mit seinem fahlen Schein die winterliche Szenerie. Durch den hell reflektierenden Schnee ist alles gut zu erkennen, sodass ich ohne Kunstlicht in die Nacht fahren kann. Ein tolles Gefühl, bei solch stimmungsvollen Umständen durch dieses menschenleere Land zu streifen. Und so vergesse ich für eine Weile, dass ich eigentlich schon umfallen wollte.

Dann, nach 43 Kilometern, taucht sie endlich auf: eine kleine hölzerne Blockhütte am rechten Wegesrand. Erleichtert stelle ich mein Rad an die Außenwand und checke die Lage. Anscheinend war schon lange niemand mehr hier, denn es gibt keinerlei Spuren, und die Eingangstür ist von einem Schneewall blockiert. Mit einem Brett, das neben der Tür an der Hüttenwand lehnt, schiebe ich den Schnee zur Seite und trete hinein. Im Schein meiner Kopflampe erkenne ich einen kleinen Tisch, eine breite Bank, einen Ofen, davor ein paar Holzscheite. Alles macht einen gepflegten Eindruck, sogar die Fenster scheinen alle gut abgedichtet – mit einer transparenten, offenbar sehr robusten Plastikfolie. Flugs quartiere ich mich ein, taue noch etwas Schnee für neuen Tee und eine Nudelsuppe auf und lege mich ohne Umschweife in den Schlafsack.

Ich bin völlig am Ende. Dieser erste Tag hat mir eine Menge abverlangt. So viele Eindrücke, die Eingewöhnung an eine neue Routine, an den Winter, ans ständige Draußensein, dazu noch vollkommen untrainiert Leistung bringend. Ich spüre Erschöpfung, aber auch Erfüllung, wiege mich in Gedanken und Erinnerungen. Unzählige Bilder huschen vor meinem geistigen Auge dahin – Gesehenes, Erlebtes, Erdachtes … Immer noch in die Pedale tretend, gleite ich hinüber ins Reich der Träume. Sechs Wochen werde ich nun in dieser Winterwelt unterwegs sein, mit all ihren Herausforderungen. Tag für Tag, Kilometer um Kilometer. Rastlos, atemlos, erbarmungslos. Bei Kälte, bei Schnee, bei Sturm. Den Naturgewalten ausgeliefert, in endloser menschenleerer Weite, so ziehe ich dahin. Unbeirrt, unermüdlich, unaufhaltsam …

 

Rums! Ein lautes Krachen reißt mich aus dem unruhigen Schlaf, zurück an den behüteten Ort, der mir Schutz bietet vor all dem gedanklichen Unbill des sibirischen Winters. Benommen richte ich mich auf, versuche mich zu orientieren. Doch dann trifft mich ein greller Lichtschein, drei schemenhafte Gestalten nähern sich, murmeln etwas in einer mir fremden Sprache. »Zdorovo!« – »Hallo« –, donnert es mir entgegen, und mit einem Schlag ist mein Bewusstsein wieder im Hier und Jetzt. »Hallo«, antworte ich und schaue kurz auf meinen Radcomputer – es ist zehn vor vier. Wer kommt mitten in der Nacht auf die Idee, in eine abgelegene Blockhütte zu schauen, die seit Wochen von niemandem betreten wurde – ausgerechnet jetzt? Wie sich herausstellt, handelt es sich um eine kleine Fahrgemeinschaft aus Topolinoe. Nikolaj, der mit seiner Frau und deren Mutter nach Chandyga fahren will, hatte über seinen Bruder von mir erfahren. Gestern gegen 8 Uhr abends sei er mit mir zusammengetroffen. Ich erinnere mich an etwa ein Dutzend Fahrzeuge, die mir im Laufe des Tages begegnet sind, und das letzte war tatsächlich eines, das aus Topolinoe kam. Mit dem Fahrer hielt ich ein kurzes Schwätzchen. Dabei erzählte ich ihm offenbar auch, dass ich noch bis zur besagten Hütte fahren will, um dort zu übernachten. Wie leichtfertig! Nur deswegen habe ich jetzt Besuch. Aber gut, irgendwie auch nett, dass man kurz anhält, um mich kennenzulernen, auch wenn es mitten in der Nacht ist.

Natürlich wird der Zwischenstopp gleich mit einem kleinen Imbiss kombiniert. Nikolaj wirft ein paar der herumliegenden Holzscheite in den Ofen und entfacht ein wärmendes Feuer, während die Frauen ihr mitgebrachtes Essen auf dem Tisch ausbreiten. Ich bin aufgefordert, mich zu bedienen, und greife mir die eine oder andere hausgemachte Leckerei. Es herrscht eine freundliche familiäre Atmosphäre, als wäre ich ein alter Bekannter, zu Gast an einem vertrauten Ort. In dieser Abgeschiedenheit ist sich niemand fremd, hier gehen alle aufeinander zu und erkundigen sich nach dem Wohl des anderen. Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu geben, das mir schon auf früheren Russlandreisen vor Augen geführt wurde: je abgeschiedener ein Gebiet, desto größer die Hilfsbereitschaft der dort lebenden Menschen. Und so kommt es, dass ich mich hier draußen, weitab jeglicher Zivilisation, zuweilen sicherer fühl, als in den infrastrukturell gut erschlossenen Gegenden Europas. Sicherheit ist ohnehin nur ein Gefühl, ein Gegenspieler der Angst. Vertrauen hilft. Und hier sind es die Menschen, denen ich vorbehaltlos vertraue.

Nach einer guten halben Stunde packen sie wieder ein und machen sich auf den Weg, weiter in Richtung Chandyga. Das, was vom Imbiss übrig geblieben ist, überlassen sie mir: eine Pirogge, drei Eier, einen Apfel, eine Birne, Mandarinen. Über jeden Bonus bin ich dankbar! Die Hüttentemperatur ist inzwischen von –8 auf +10 °C angestiegen – viel zu warm! Ich lasse die Tür ein wenig offen, um im dicken Winterschlafsack keinen Hitzekoller zu erleiden. Die klare Frostluft … Ja, sie hat auch etwas Angenehmes. Die große Kälte soll ruhig kommen. Ich spüre, ich bin bereit! Und schon sind sie wieder da, die Bilder von den winterlichen Szenen – mit mir, allein, ausgesetzt, den Naturgewalten trotzend. Unbeirrt, unermüdlich, unaufhaltsam schleiche ich mich wieder hinüber in eine schläfrige Gedankenwelt. Eine, die mich mental auf all das vorzubereiten scheint, was mir in der realen Welt tatsächlich noch widerfahren könnte.

Als ich mich am nächsten Tag aufs Rad schwinge, hat die Sonne ihren höchsten Stand schon hinter sich. Den Schlitten habe ich wieder eingepackt, ich muss ihn schonen, denn er hat bereits ein Loch. Auf der Piste ragen einfach zu viele Steine durch den festgefahrenen Schneepanzer. Nun bin ich gezwungen, die gesamten 80 bis 90 Kilogramm Gepäck direkt am Rad zu befestigen. Es gelingt, auch wenn das Gefährt jetzt aussieht wie ein Eselskarren. Ich rolle weiter am Gebirgsrand entlang, auf und ab, diesmal jedoch mit weniger Ausblicken. Es ist immer noch unglaublich mild: +2 °C zeigt das Thermometer. Aber der Wind hat aufgefrischt, lässt die Wipfel der kahlen Lärchenwälder schwanken. Stürmische Böen fegen die Wegschneise hinab, wirbeln Pulverschnee über die Piste. Erst am Abend kommt wieder Ruhe in die Atmosphäre, und die Temperatur sackt ruckzuck auf unter –10 °C. Sobald die Sonne an Kraft einbüßt und der Wind einschläft, kühlt es sich bodennah schnell ab. In der Höhe jedoch bleibt die Luft noch länger mild und deckelt die darunterliegende Kaltluft regelrecht ab – eine thermale Inversion entsteht. Als die Sonne untergeht, bekomme ich die Grenzschicht der unterschiedlich temperierten Luftmassen zu sehen. Sie wirkt wie ein Spiegel und lässt die Sonne in jenem Moment wieder aufgehen, als sie gerade dabei ist, am Horizont zu verschwinden. Ein skurriles Schauspiel, das etwa zehn Minuten andauert, ehe sich auch das Spiegelbild der untergegangenen Sonne verabschiedet.




Die erste Nacht verbringe ich in einer leer stehenden Blockhütte, doch dann bekomme ich nächtlichen Besuch …


Zu Gast bei den Jägern Pavel und Semjon.

Ich fahre weiter in die vom Mond erhellte Nacht. Bis etwa 8 Uhr versuche ich Strecke zu machen, den Tag so gut es geht auszunutzen. Erst dann will ich mich nach einem Schlafplatz umschauen. Laut Karte liegt wieder eine Hütte in Reichweite, die Izbuschka Menkjule am gleichnamigen Fluss. Als ich die Stelle erreiche, eröffnet sich mir ein idyllischer Ort in einem stimmungsvollen Licht. Die Hütte scheint gut in Schuss, aber auch bewohnt zu sein. Als ich auf sie zugehe, um einen Blick hineinzuwerfen, bemerke ich im letzten Moment einen schwachen Lichtschein aus einem der Fenster. Hmm, mag ja sein, dass die Einheimischen keine Hemmungen haben, mitten in der Nacht einen Fremden zu begrüßen, aber mir widerstrebt es, mich um diese Zeit selbst einzuladen. Ich hab ja keine Not, also lasse ich die Leute einfach in Ruhe und suche mir einen Platz unter dem schönen Sternenhimmel. Aber ein Foto muss noch sein von dieser rustikalen Szenerie, die wie aus einer anderen Zeit erscheint. Und so schraube ich kurzerhand meine Pentax aufs Stativ, um mit einer Langzeitbelichtung die Hütte im Mondlicht auf meine Speicherkarte zu bannen. Just in dem Moment geht die Tür auf und zwei Männer treten ins Freie. Sie haben mich bemerkt, als ich kurz meine Kopflampe aufleuchten ließ, und rufen nun irgendwas in meine Richtung. Also gut, dann machen wir uns doch noch bekannt. »Bist du der Radfahrer, von dem alle erzählen?« – »Ja, der bin ich.« – »Komm rein und sei unser Gast!« So schnell, so einfach kann es gehen. Und ich weiß, dass solche Einladungen, einmal ausgesprochen, immer ernst gemeint sind, sie auszuschlagen sogar unhöflich wäre.

Semjon und Pavel sind vom kleinen indigenen Volk der Ewenen, einer halbnomadisch lebenden Minderheit, die auch heute noch in großem Stil mit Rentieren umherzieht. Pavel aber ist wie Semjon Trassenarbeiter und Jäger, er hat zwei Söhne, einer lebt in Moskau, der andere in Novosibirsk. In Europa war er auch schon einmal, hat Berlin gesehen und den Eifelturm von Paris. Aber eigentlich träumt er wie Semjon von einer Safari in Afrika, die Jagd sei ihr Adrenalin. Was sie hier jagen? Oleny – Hirsche, offenbar auch wilde Rentiere. Und so gibt es zum Abendessen gebratenes Rentierfleisch und als Vorspeise rohes Gehirn – eine ewenische Delikatesse … Aus Höflichkeit probiere ich ein bisschen, doch was daran so delikat sein soll, will sich mir nicht erschließen. Das fettige Fleisch hingegen schmeckt vorzüglich und liefert die nötige Energie, ohne die man in diesem Land zu dieser Jahreszeit nicht überleben könnte. Dann zeigen mir die beiden ihr Schlaflager. Ein Bett ist noch frei, allerdings ohne Decke. Doch die braucht man hier sowieso nicht, der Raum ist mal wieder vollkommen überhitzt. So wie ich bin, lege ich mich auf die Seite und wälze mich mehr schlecht als recht in den Schlaf. Gegen 2 Uhr nachts kommt der nächste Besuch. Das scheint hier gang und gäbe zu sein, denn auch dieser wird ganz selbstverständlich willkommen geheißen und mit dem restlichen Rentierfleisch beköstigt. Offenbar ist diese Hütte eine Art Raststätte für durchkommende Fernfahrer. Das erklärt die vielen Betten und die unkomplizierte Bewirtung nächtlicher Besucher.

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