Blindlings ins Glück

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„Bitte?“, fragte im nächsten Moment eine kratzige Frauenstimme mittleren Alters. „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“

Johnny stammelte drauflos und schaffte es irgendwie, der Dame am Tresen zu erklären, weshalb er dort war. Er berichtete von bunten Blitzen, die durch sein Sichtfeld zuckten, von stechenden Kopfschmerzen und dem Wunsch, das Patienten-WC aufzusuchen. Gern in Begleitung, weil er es allein leider nicht finden würde.

Die Rezeptionistin schien etwas überfordert zu sein. Sie gab ein paar undefinierbare, genuschelte Wörter von sich und tippte dann wild auf den Tasten eines Telefons herum, bevor sie mit eindringlicher Stimme eine Stationsschwester herbeirief. Dann ging auf einmal alles ganz schnell: Menschen kamen, fragten Johnny aus, zerrten an ihm herum und ließen ihn wieder allein. „Guten Tag, ich bin Herr Doktor Soundso.“ „Hallo, ziehen Sie sich bitte aus und legen Sie sich hin.“ „Wir machen noch eine Computertomografie, könnten Sie die Uhr ablegen?“ …

Johnnys Kopf schwirrte und er wusste nicht, ob es am Kater lag oder an den Eindrücken, die er kaum zu fassen bekam, weil er in der riesigen Klinik und dem Gewirr aus fremden Stimmen inzwischen jegliche Orientierung verloren hatte. Gut zwei Stunden und etliche Untersuchungen später – er lag in einem Krankenbett und man hatte ihm inzwischen eine Infusion gelegt – fragte ihn jemand, der sich noch nicht einmal richtig vorgestellt hatte, schlicht: „Was haben Sie in den letzten achtundvierzig Stunden gemacht?“

Johnny klopfte mit zitternden Fingern auf die Tischplatte in dem Einzelzimmer, das man ihm kurzerhand zugewiesen hatte. „Wie ich bereits Ihrem Kollegen und dessen Kollegin gesagt habe, bin ich von einer Geschäftsreise zurückgekommen.“

„Wo arbeiten Sie?“

„Im Personalmanagement. Bei Sanacur, einem Pharmaunternehmen.“

„Die Reise war innerhalb Europas?“

„Spanien.“

Sein Gegenüber schien zu überlegen. „Und haben Sie am letzten Abend etwas getrunken?“

Johnny nickte beiläufig.

„Was genau?“

Er seufzte ungeduldig. „Meine Güte, ein paar Drinks eben. Als ob ich mich an jeden einzeln erinnern würde. Wir waren in einer Bar, also … erst Bier, dann ein paar Mojitos oder Caipirinhas und so weiter …“

„Vielleicht auch etwas Selbstgebranntes?“

Johnny schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht, nur das Bier und die Cocktails.“ Angestrengt versuchte er, den letzten Abend noch einmal in Gedanken Revue passieren zu lassen. „Außer –“ Er hielt inne und spürte, wie Wirbel für Wirbel ein eiskalter Schauer seinen Rücken hinunterlief. „Ich war später noch mit einer Frau auf meinem Hotelzimmer, die hatte eine Flasche dabei. Aber fragen Sie mich nicht, was das für ein Zeug war. Korn oder so was.“

Es folgte eine schwere, unheilvolle Stille, die nur von dem Geräusch durchbrochen wurde, das Johnnys nervös trippelnde Finger auf der billigen Pressspanplatte des Tisches verursachten. Es machte ihn wahnsinnig, dass der Arzt schwieg und er ihm nicht einmal ins Gesicht sehen konnte. „Jetzt sagen Sie doch was: Ist das irgendwie wichtig? Und wann bekomme ich endlich die Kopfschmerztablette, die mir die Schwester schon vor einer halben Stunde bringen wollte? Sonst lassen Sie mich wenigstens wieder nach Hause.“

Statt einer Antwort hörte Johnny leise Pieptöne, dann sprach der gesichtslose Arzt eilige Worte – größtenteils unverständlichen Fachjargon – in ein Telefon. „Herr Baumann“, begann er kurz darauf. „Bleiben Sie jetzt bitte ruhig und hören Sie mir gut zu.“

Schlagartig war Johnny hellwach. Er ballte die Finger zur Faust und versuchte sich ganz auf die Worte des anderen Mannes zu konzentrieren. Die Zeit schien für einen kurzen Augenblick stillzustehen. Er konnte seinen eigenen Herzschlag hören und spürte, wie das Blut durch seine Adern rauschte.

„Es ist denkbar, dass Sie eine Methanolvergiftung haben. Wir müssen noch auf einige Testergebnisse warten, aber ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen.“

Johnny begann, unmerklich zu zittern. Er konnte nicht sagen, ob es an den Kopfschmerzen, an der Erschöpfung oder am Schock lag. Und bevor er eine Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, fuhr der Arzt erbarmungslos fort.

„Wenn Sie vor über achtundvierzig Stunden gepanschten Schnaps getrunken haben, sind die Schäden eventuell nicht mehr reversibel. Ihr Sehnerv ist womöglich geschädigt und es kann sein, dass Sie Ihr Augenlicht selbst bei sofortigem Therapiebeginn nicht zurückgewinnen. Mit Glück haben Ihre Nieren keinen Schaden davongetragen, das werden die Blutwerte zeigen. Wir verlegen Sie gleich in die Klinik für innere Medizin IV, die auf Nierenleiden spezialisiert ist. Dort kann der zuständige Nephrologe über das weitere Vorgehen entscheiden, aber wahrscheinlich ist eine Blutwäsche nötig, um weitere Spätfolgen zu vermeiden.“

Das Zittern wurde stärker und Johnny verbarg sein Gesicht in einer Handfläche. Er spürte, dass der Mann ihm sacht seine Finger auf die Schulter legte, aber die Berührung war so kalt wie das nach Sterilium und Linoleum stinkende Zimmer. „Ein Glas mehr von dem Schnaps und Sie wären jetzt vielleicht nicht mehr hier.“

Johnnys Brustkorb schnürte sich zu. Gleichzeitig schoss das Adrenalin schwindelerregend durch seinen Körper. Er schnappte nach Luft und schüttelte fassungslos den Kopf. Sein bisheriges Leben war zu Ende. Alles rauschte in einem irrsinnigen Kopfkino an ihm vorbei: der Erfolg, das Geld, die Frauen. Ja, er konnte sogar bildhaft vor sich sehen, wie seine Mutter entsetzt die Hände vor das Gesicht schlug und ihre effektvollen Krokodilstränen schluchzte. Ihr Junge, ihr einziges Kind, war ein Krüppel.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgeworfen, Jemand kam eilig herein, vermutlich eine Schwester, und nestelte an seinem Infusionsständer herum.

„Herr Baumann, ich bringe Sie zur Hämodialyse auf die nephrologische Station“, sagte sie.

Johnny setzte sich halb auf. „Kann ich danach wieder nach Hause?“

Die Schwester drückte ihn sanft zurück ins Kissen.

„Vorerst müssen wir Sie stationär aufnehmen“, entgegnete der Arzt. „Es kann einige Tage dauern, bis alle Behandlungen abgeschlossen sind.“

Johnny schnaubte spöttisch und spürte, wie ihm gleichzeitig Tränen in die Augen stiegen. Es dauerte einen Moment, bis er sich gefasst hatte. „Machen Sie von mir aus diese Dialyse oder was auch immer. Und dann will ich einfach nur noch schlafen.“

Die Verlegung und alle folgenden Prozeduren ließ Johnny mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Er spürte den kalten Nebel auf seiner Haut und eine übelkeiterregende Alkoholwolke stieg ihm in die Nase, als die Schwester ihm Hals und Brustkorb desinfizierte. Der Nephrologe erklärte ihm, dass man eine örtliche Betäubung für einen zentralen Venenkatheter setzen müsste, um sein Blut möglichst schnell von den schädlichen Stoffen zu reinigen. Johnny nickte stumm. Er fragte nichts mehr und widersprach auch nicht. Er wollte endlich allein sein, um irgendwie zu begreifen, was geschehen war. Einen Schritt nach dem anderen, sagte er sich, obwohl dieser Gedanke ihn kaum beruhigen konnte. Du musst die Zwischenziele im Blick haben – wie beim Projektmanagement. Stell dir vor, es ginge um Geld und nicht etwa um dein eigenes Leben. Er stieß ein höhnisches Lachen aus.

Die Stunden zogen an ihm vorbei, ohne dass er genau verstand, was passierte. Johnny konzentrierte sich nur darauf, ein- und wieder auszuatmen und dabei möglichst nicht nachzudenken.

Nach der Blutwäsche fühlte er sich unendlich müde. Der Arzt fragte ihn, ob er irgendjemanden für ihn anrufen sollte, und Johnny verneinte vehement. Als der Arzt gegangen war, kam der Schlaf endlich tief und erlösend über ihn.

Am nächsten Morgen fragte eine Schwester wieder, ob er jemanden anrufen wolle. Johnny rieb sich stöhnend die Schläfen, ohne die Augen zu öffnen. „In meinem Portemonnaie – ich glaube, es liegt auf dem Nachttisch – sind Visitenkarten. Können Sie bitte meinen Arbeitgeber, Sanacur, benachrichtigen und ihm mitteilen, wie lange ich hier noch bleiben muss?“

„Natürlich.“ Er hörte, wie die Schwester an seiner Geldbörse herumnestelte. „Gibt es … keine Angehörigen, die ich informieren soll?“, fragte sie.

Johnny schüttelte den Kopf. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. „Doch: Rufen Sie meine Mutter an. Sie muss den Kater füttern. Die Katze ist alleine in meiner Wohnung.“

„Haben Sie die Nummer für mich?“

Johnny überlegte. „0 … 7 … 61 … “ Er schluckte schwer. Verdammter Mist! Konnte es sein, dass er sich nicht einmal an die Nummer seiner Mutter erinnerte, die sich seit Jahrzehnten nicht geändert hatte und nur aus vier Ziffern bestand? „Sehen Sie in meinem Handy nach. Der Code ist mein Geburtsdatum.“ Zumindest das wusste er noch, auch wenn ihm die genaue Zahlenfolge nicht einfallen wollte.

Keine halbe Stunde später stand seine Mutter im Zimmer. Sie trug schon seit über dreißig Jahren das gleiche Parfum – Opium von Yves Saint Laurent –, sodass er instinktiv aus seinem Dämmerschlaf hochschreckte, sobald sie durch die Tür trat. Sie stellte etwas auf dem Boden ab, vermutlich hatte sie ihm Kleidung mitgebracht, dann umfasste sie sein Gesicht mit beiden Händen und sagte mit leiser, zitternder Stimme: „Oh, mein Junge. Du siehst schrecklich aus. Was hast du nur angestellt?“

Eine Weile saß sie stumm neben seinem Bett und er erkannte nur an ihrem verhaltenen Schluchzen und der aufdringlichen Duftwolke, dass sie noch da war. Seine Zunge fühlte sich plötzlich klebrig und trocken an und der aufdringlich-süße Duft verstärkte das Gefühl noch. Johnny wusste, dass auf dem Nachtschrank ein Wasserglas stand, aber er wollte sich nicht die Blöße geben, sich vor seiner Mutter zu bekleckern. Es war schon demütigend genug, dass sie jetzt hier war und ihn bemitleidete wie ein kleines Kind. Außerdem hatte man ihn wieder an eine Infusion gehängt, sodass sein Körper so oder so mit der nötigen Flüssigkeit versorgt wurde.

 

„Ich werde jetzt deinen Vater anrufen“, durchbrach Violetta plötzlich das Schweigen, dann hörte er, wie sie in ihrer Handtasche kramte.

Johnny erstarrte. Er hatte fast genauso lange nicht mit seinem Vater gesprochen wie sie. Waren es fünf Jahre oder schon zehn? Ganz sicher wollte er nicht, dass er ihn so sehen konnte. „Das wirst du nicht“, erwiderte er kühl.

Sie schnalzte mit der Zunge. „Junge, sei nicht albern! Er muss doch Bescheid wissen. Bis er von München hier ist, dauert es eine Weile.“

„Ich will ihn nicht sehen.“ Johnny sprach die Worte so hart und entschlossen aus, wie er konnte. Falls sie widersprach, müsste er sich die Infusionsnadel aus dem Arm reißen, aufstehen und sie persönlich aus dem Zimmer begleiten.

Violetta schluchzte leise. „Aber Junge …“

Er schloss die Augen. „Wenn du das nicht akzeptieren kannst, dann geh bitte.“

Seine Mutter erwiderte nichts, aber er hörte, dass sie den Reißverschluss ihrer Tasche wieder zuzog. Dann breitete sich die Stille erdrückend zwischen ihnen aus.

Nach einer Weile räusperte er sich. „Hast du den Kater gefüttert?“

Seine Mutter brauchte einen Moment, bis sie sich gefangen hatte. „Ja, ja … das mache ich nachher gleich. Das mache ich gleich als Erstes.“

Johnny biss die Zähne zusammen. Auf einmal drohte all die Wut, die sich in den letzten Stunden in ihm aufgestaut hatte, über ihm zusammenzubrechen. Wut über die Ungerechtigkeit, dass ausgerechnet ihm so etwas Schreckliches zugestoßen war, Wut über die Ärzte, in deren fremde Hände er sein Leben legen musste, ob er wollte oder nicht. Wut über seine ganze, sinnlose Existenz. Und jetzt auch noch darüber, dass sein Kater, dieses unschuldige Tier, das nichts für Johnnys Dummheit konnte, darunter leiden musste. Er wollte all das am liebsten herausschreien, aber derbe Flüche und zornige Vorwürfe hatten Violetta noch nie beeindruckt. Also tat er, was er schon früher, als Kind, stets getan hatte, wenn sie nicht seiner Meinung gewesen war: Er schluckte die Wut herunter, ignorierte das Gefühl, als sich schmerzhaft sein Magen verkrampfte, und atmete tief ein und wieder aus. Dann sagte er so gefasst wie möglich: „Du musst ihn mit zu dir nehmen. Er frisst nur sein gewohntes Futter, aber im Vorratsschrank in der Küche sollten genügend Dosen sein.“ Es würde mehr als nur ein Bad brauchen, um den Gestank nach Nikotin und teurem Parfum wieder aus dem Fell seines geliebten Tieres zu bekommen – dabei war der Kater wasserscheu.

Violetta seufzte schwer. „Ach, Junge. Die ganzen Katzenhaare überall … du weißt doch, dass ich da manchmal ein bisschen allergisch reagiere.“

„Bitte“, fügte Johnny in flehendem Ton hinzu und deutete ihr Schweigen als Zustimmung. Zu seiner Erleichterung stellte seine Mutter auch keine Fragen mehr. Er war sicher, dass die Ärzte ihr bereits alles gesagt hatten, was es zu wissen gab. Nach einer Weile stand Violetta auf, nahm den Wohnungsschlüssel vom Nachttisch – Johnny konnte hören, wie das Metall auf dem Plastik klirrte – und verabschiedete sich, indem sie unerwartet sanft über seine Wange strich.

Obwohl die Kopfschmerzen allmählich besser wurden und auch die Übelkeit nachließ, verbrachte Johnny den Rest des Morgens wie im Delirium und auch den Nachmittag und den Abend.

Aus den Stunden wurden Tage, in denen seine Gedanken immer wieder um dieselben Dinge kreisten: Er dachte an die Papierberge auf seinem Schreibtisch, die sich inzwischen wohl kaum noch bewältigen ließen, und an die Stellen im Außendienst, die erst einmal unbesetzt bleiben würden. Er dachte an seine Kollegen, die mit einer sonderbaren Mischung aus Sensationslust und Entsetzen über ihn sprechen und für Blumen samt Genesungskarte sammeln würden. Vielleicht waren sie sogar so geistesgegenwärtig, einen duftenden Strauß zu nehmen. Und er dachte an den Kater, der jetzt ein ebenso trostloses Dasein in einer Wohnung im achten Stock eines heruntergekommenen Plattenbaus in Haslach-Weingarten fristete.

Nur selten erlaubte sich Johnny, sich seine Zukunft auszumalen; sich vorzustellen, wie sein Alltag als Blinder überhaupt aussehen würde. Diese Überlegungen drohten ihn jedes Mal zu überwältigen und endeten nicht selten damit, dass er um Luft ringend, panisch und völlig aufgelöst nach der Schwester klingelte. Die gab ihm meist eine Beruhigungsspritze, mit der sich die quälenden Gedanken in einem weißen Nebel auflösten. Manchmal dachte Johnny auch an die dunkelhaarige Frau, die an diesem verhängnisvollen Abend vor zwei – oder drei? – Wochen sein schreckliches Schicksal geteilt hatte, ohne es zu wissen. Dann fragte er sich, ob Chiara, oder Camila, jetzt auch blind war. Aber er glaubte, sich dunkel daran zu erinnern, dass sie im Gegensatz zu ihm selbst nur wenig von dem Schnaps getrunken hatte.

Einmal, als die Sonne durch das geschlossene Fenster in sein Krankenzimmer fiel und kribbelnd seine Haut wärmte, ertappte sich Johnny sogar dabei, an Franzi zu denken und sich zu fragen, was sie sagen würde, wenn sie ihn jetzt so sehen könnte. Je klarer sein Verstand wurde und je besser es ihm nach Meinung der Ärzte ging, desto pathetischer fühlte er sich. Dann endlich, nach schier endlosen Wochen, war der Tag seiner Entlassung gekommen.

„Ich hatte Ihnen ja schon angeboten, dass Sie ein Sozialarbeiter aus unserer Klinik besuchen kann, um die weiteren Anträge zu stellen“, begann der Oberarzt. „Wollen Sie sich das vielleicht noch einmal überlegen?“

Johnny schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich vage an das Gespräch. „Danke, aber meine Sekretärin wird sich um den ganzen Papierkram kümmern.“

Der Arzt schwieg einen Moment lang. „Gut. Aber bitte melden Sie sich noch diese Woche bei Ihrem Hausarzt. Die Nachsorgetermine sollten Sie ernst nehmen. Und er wird Sie auch zu den Angeboten beraten, die Sie in Anspruch nehmen können: spezielle Rehabilitationsangebote bei Späterblindung zum Beispiel und natürlich auch psychologische Betreuung.“

Johnny machte eine abweisende Handbewegung. „Ich brauche keinen Psychologen.“ Er stand mit wackeligen Schritten auf. In den letzten Wochen hatte er sein Bett nur für ein paar kurze Spaziergänge im Park des Klinikums verlassen, stets in Begleitung einer Schwester natürlich.

„Die Entlassungspapiere schicken wir direkt an Ihren Hausarzt. Sollen wir jemandem Bescheid geben, der Sie abholen kann?“

„Ich kann meine Mutter selbst anrufen, danke.“

„Möchten Sie, dass eine Schwester Sie ins Foyer bringt?“

Johnny wollte widersprechen. Aber der Wunsch, wieder nach Hause zu kommen, war größer als das bisschen Stolz, das ihm noch geblieben war – und allein würde er sich zweifellos im Irrgarten der Klinikflure verlaufen. Er nickte stumm. Der Arzt drückte auf den Rufknopf und verabschiedete sich.

Als er wieder allein war, zog Johnny sein Handy aus der Hosentasche. „Siri, ruft Violetta an.“ Am Telefon fasste er sich so kurz wie möglich und legte auf, bevor seine Mutter ihn mit neuen Fragen überhäufen konnte. Gleich darauf kam die Schwester herein und begrüßte Johnny freundlich. Für einen Moment atmete er auf.

Schließlich stand er mit der Sporttasche in der Hand im Krankenhausfoyer. Er überlegte, ob er nicht lieber ein Taxi hätte rufen sollen, aber das wäre nur wieder ein Fremder gewesen, der ihn angestarrt hätte; selbst wenn er die brennenden Blicke nicht sehen, sondern nur spüren konnte.

Johnny lauschte auf die automatische Eingangstür, die bei jedem Öffnen und Schließen ein disharmonisches Surren von sich gab. Vermutlich standen hier auch die Aschenbecher, denn eine Nikotinwolke drang zu ihm herüber und er konnte hören, dass sich in ein paar Metern Entfernung jemand unterhielt. Am liebsten wäre er hingegangen, um nach einer Zigarette zu fragen. Das hätte sein miserables Leben wenigstens für einen Moment erträglicher gemacht. „Verdammte Scheiße“, fluchte er leise, aber mit jeder Sekunde wuchs die Gleichgültigkeit, die ihn betäubend umhüllte. Er war Ende dreißig und wartete wie ein Schuljunge, der etwas ausgeheckt hatte, darauf, dass seine Mutter ihn abholte. Es war entwürdigend – und es machte ihm nicht einmal etwas aus.

BEA

Endlich war es so weit: Der ältere Mann hielt inne, zumindest für einen Augenblick. Kurz zuvor hatte er sich von dem Eichenpult erhoben – die ausgeblichene schwarze Robe spannte dabei nicht sehr würdevoll an seinem Oberkörper –, um zu verkünden: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Die Angeklagte wird für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 20 Euro verurteilt.“

Tabea unterdrückte den Drang, sich eine Haarsträhne aus der feuchten Stirn zu streichen. Jetzt war ihr Einsatz. Auch wenn sie jedes Mal Panik überkam, liebte sie den Augenblick. Die Stille, die nur einen Herzschlag lang andauerte, kurz bevor man das erste Mal zu seinem Publikum sprach. Es war der gleiche vertraute Adrenalinrausch, der sie immer dann durchströmte, wenn sie hinter dem Vorhang hervortrat, auf die Bretter trat, die die Welt bedeuteten. Dabei dachte sie immer nur an den ersten Satz oder das erste Wort. Wenn man einmal angefangen hatte, lief es von allein. Auch wenn das hier eigentlich keine Bühne war.

Sie sah dem Richter in die Augen. Er hatte schon den kleinen Hammer erhoben und der hölzerne Kopf zitterte in der Luft, als sie den Mund öffnete, um zu sprechen. „Ich beantrage, eine Ersatzfreiheitsstrafe anzutreten.“

Aus dem Augenwinkel sah Tabea, dass eine blonde Frau im Publikum zusammenzuckte: ihre Mitbewohnerin Doro. Trotzdem fuhr sie fort: „Auch wenn ich gegen das Gesetz verstoßen habe, bereue ich nichts. Die letzte Wiese auf dem Campus zuzupflastern, war eine Fehlentscheidung. Die Ausbetonierung der begrünten Fläche hat dafür gesorgt, dass die Temperatur in der Innenstadt um circa zwei Grad angestiegen ist und noch weiter ansteigen wird. Aber noch bedenklicher ist die Tatsache, dass die freigelegten Grundmauern der alten Synagoge einfach wieder zugeschüttet werden sollen. Dabei wäre es ein wichtiges Zeichen der Solidarität, dieses Mahnmal der Reichskristallnacht zu würdigen, indem man beispielsweise –“

An diesem Punkt wurde sie von dem weißhaarigen Mann unterbrochen. Er hatte die buschigen Augenbrauen zornig zusammengezogen. „Frau Bach, eine Ersatzfreiheitsstrafe kommt nur bei Zahlungsunfähigkeit infrage. Ihr Anwalt wird Sie dazu beraten. Und die Beweggründe für Ihre … Aktion haben Sie bereits zur Genüge erläutert. Das Urteil ist hiermit verkündet.“ Er schlug seinen Hammer jetzt umso kräftiger auf das Pult. „Ich erkläre die Verhandlung für geschlossen.“

Es hätte schlimmer kommen können. Tabea hatte erwartet, deutlich mehr Spott aus den Worten des Richters herauszuhören. Immerhin hatte sie nicht einfach friedlich mit einem Plakat demonstriert, sondern sich an einen Bagger gekettet, um die Arbeiten auf der Baustelle zu behindern. Insgeheim hoffte sie immer noch, dass ihr Fall vielleicht genügend mediale Aufmerksamkeit bekommen würde, um die Umgestaltung des Campus in letzter Sekunde zu verhindern. Auch wenn ihre Aktion manchen Mitbürgern etwas übertrieben vorkommen musste, ging es für sie um mehr als ein paar hundert Quadratmeter Granit. Sie wollte, dass die Gräueltaten der Nationalsozialisten niemals in Vergessenheit gerieten – und somit auch nicht die Erinnerung an ihren Großvater, den sie nur aus Erzählungen kannte.

Tabea starrte dem Richter trotzig in die Augen und blieb stehen, bis ihr Verteidiger Platz genommen hatte und beharrlich am Ärmel ihres Blazers zupfte. Widerwillig gab sie nach und setzte sich wieder. Ihr Anwalt schob seine Unterlagen zusammen. „Das Urteil war zu erwarten, Frau Bach. Wir besprechen alles Weitere nachher in meinem Büro. Gehen Sie doch erst mal etwas essen.“

Tabea nickte, schüttelte kurz seine Hand und beeilte sich, nach draußen zu kommen. An ein Mittagessen war allerdings nicht zu denken, denn in zwanzig Minuten musste sie im Sprechzimmer von Professor Kohlmeis sein und sie wusste nur zu gut, wie sehr er Unpünktlichkeit verabscheute.

Aber bevor sie durch das Eingangsportal des Amtsgerichts eilen konnte, legte ihr jemand eine Hand auf die Schulter. „Bea!“, zischte eine vertraute Frauenstimme. Im nächsten Moment wurde Tabea in eine ruhige Ecke des Flurs gezogen. „Bist du eigentlich völlig verrückt geworden?“ Doro sah sie eindringlich an. Ihre blauen Augen funkelten wütend. „Du willst wegen ein paar alter Steine in den Knast gehen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“

Tabea versuchte erfolglos, sich aus dem Griff ihrer Freundin zu wenden. „Du weißt, wie wichtig mir das ist.“

 

Doro verengte skeptisch die Augen. „Ich kann es einfach nicht fassen! Wenn du wenigstens den Schlüssel nicht ins Gebüsch geworfen hättest, wäre die Feuerwehr nicht gerufen worden, um dich loszuschneiden, und es wäre bestimmt auch nicht zur Anklage gekommen.“

„Doro, das bringt doch jetzt nichts. Können wir das später in Ruhe besprechen? Ich muss gleich zur Kohlmeise.“

Ihre Mitbewohnerin ließ sie los und schüttelte nur stumm den Kopf.

In diesem Moment rief jemand vom Saal her ihre Namen: „Bea, Doro!“ Die hohe Stimme des jungen Mannes war Tabea nur zu vertraut. Flüchtig kam ihr der Gedanke, einfach so zu tun, als hätte sie nichts gehört. Aber dann drehte sie sich um und zwang sich, zu lächeln. „Justus! Was machst du denn hier?“

Doro warf Tabea einen bedeutsamen Blick zu, so, als wollte sie sagen: Ist doch offensichtlich, was der hier macht – dasselbe wie in den letzten zwei Monaten. So lange war es her, dass Tabea ihm unter dem Einfluss von einer Menge Alkohol und noch viel mehr Idiotie Hoffnungen gemacht hatte, dass sie jemals mehr sein könnten als Freunde. Und selbst das war schon zu viel gesagt, denn das Einzige, was sie verband, war ihre Leidenschaft für das Studententheater. Später, formte Doro tonlos mit den Lippen, dann drehte sie sich um und eilte über die Vordertreppe aus dem Gebäude. Tabea war sich ziemlich sicher, dass ihre Freundin sie bestrafen wollte, indem sie sie jetzt mit Justus allein ließ. Mit einem Seufzen wandte sie sich wieder zu ihm.

Justus lächelte. „Ich musste doch zu deiner Verhandlung kommen! Du hast dich tapfer geschlagen. Mann, ich glaube, ich habe dich noch nie im Kostüm gesehen …“

Tabea sah an sich herunter. Auch sie hatte sich noch nicht an diesen Anblick gewöhnt. Aber wie hatte ihre Oma immer gesagt? Kleider machen Leute. Und zumindest heute wollte sie einen seriösen Eindruck hinterlassen.

„Jedenfalls finde ich das Strafmaß in deinem Fall völlig überzogen.“ Der Student strich eine blassblonde Locke beiseite, die ihm in die Stirn gefallen war. „Wenn du möchtest, spreche ich mit meinem Vater. Bei der nächsten Kreistagssitzung könnte er vielleicht –“

Tabea holte tief Luft. Die Christdemokraten waren zwar von vorneherein gegen den Umbau des Platzes gewesen, allerdings nur aus finanziellen Gründen. Und auch wenn sie damit Aufmerksamkeit für ihr Anliegen gewinnen könnte, wollte sie sich nur ungern zum Werbeträger in der Wahlkampfkampagne von Justus’ Vater machen lassen, zumal sie bestimmt keine konservative Wählerin war. „Danke für das Angebot, Justus, aber ich habe einen guten Anwalt. Und ich muss jetzt leider los, gleich ist Sprechstunde bei meinem Professor.“

„Verstehe.“ Sein Lächeln verblasste. „Dann wünsche ich dir viel Erfolg. Sehen wir uns Freitag bei der Probe?“

Nachdenklich zog Tabea die Augenbrauen zusammen. „Ich glaube, diese Woche proben wir am Samstag. Lisa ist doch auf einer Exkursion.“

Justus rieb sich demonstrativ das Kinn. „Stimmt, du hast recht. Sollen wir dann vielleicht einen Kaffee trinken oder so? Wir können ja auch noch mal den Text durchgehen –“

„Tut mir leid“, unterbrach sie ihn, „aber ich kann nicht.“

„Die Abschlussarbeit?“ Justus ließ die Schultern hängen.

„Genau.“ Sie lächelte entschuldigend, stammelte eine Verabschiedung und nahm gleich zwei Treppenstufen auf einmal. Die Abschlussarbeit. Und die Tatsache, dass es eine dämliche Idee gewesen war, sich von Lisa dazu überreden zu lassen, das Gretchen zu spielen – obwohl Justus die Rolle des Faust übernahm. Zumindest in der Theorie, denn eigentlich war ihre Version der Tragödie eine recht moderne Adaption. Gedankenverloren eilte sie über den Bürgersteig und schüttelte den Kopf über sich selbst. Wenigstens konnte ihr Tag unmöglich noch schlimmer werden.

Aber diese Ansicht musste Tabea revidieren, als sie vollkommen abgehetzt und fünf Minuten zu spät im Büro ihres Professors stand, der zu ihrer Verwunderung überaus gut gelaunt zu sein schien.

„Ah, Frau Bach, kommen Sie doch herein. Sie sind ja fast pünktlich heute“, stichelte er.

Dass er zu Späßen aufgelegt war, konnte nichts Gutes heißen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch trat Tabea in das stickige Zimmer, nahm auf dem ihr angebotenen Stuhl Platz und musterte den schon recht betagten Professor. Er hatte seine Hände über dem dunkelroten Pullunder gefaltet, unter dem sich ein Wohlstandsbauch wölbte, und lehnte sich jetzt erwartungsvoll in seinen Freischwinger zurück.

„Leadership 4.0 – Beziehungsarbeit zwischen Führungspersonen und ihren Mitarbeitern im digitalen Zeitalter“, las er den Titel ihres Exposés vor, das samt dem ersten Kapitel vor ihm auf dem Glastisch lag.

Tabea nickte verhalten.

„Wie würden Sie denn selbst die Konzeption Ihrer Arbeit einschätzen, Frau Bach?“

Tabea räusperte sich. Sie hasste solche Fangfragen. „Na ja, ich denke … in Anbetracht dessen, dass es bis zur Abgabe noch fast fünf Wochen sind, komme ich mit meiner Studie gut voran. Mein Praktikumsbericht aus dem letzten Jahr war eine hilfreiche Grundlage, um das Verhalten der führenden Mitarbeiter bei Sanacur wissenschaftlich zu analysieren.“ Zwar hatte sie hauptsächlich Kaffee gekocht und Akten sortiert, aber erstens musste Kohlmeis das nicht wissen und zweitens waren das tatsächlich ideale Voraussetzungen gewesen, um die Mitarbeiter der Firma, allen voran den unausstehlichen Leiter der Personalabteilung, genau zu beobachten.

„Schön und gut“, sagte Kohlmeis kühl. „Es ist auch ein aktuelles Thema, darüber hatten wir ja schon gesprochen. Die Bibliografie scheint mir recht ordentlich zu sein …“ Er blätterte durch die Unterlagen. „Aber jetzt kommen wir mal auf den Punkt: Ich sehe hier keine Eigenleistung.“

Tabea blinzelte und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr gerade das Herz in die Hose gerutscht war. „Ich verstehe nicht ganz –“

Kohlmeis begutachtete sie von oben bis unten und schenkte ihr dann ein Lächeln, das irgendwie väterlich wirkte. „Frau Bach, ich mag Sie ja gern. Sie sind immer so fleißig. Und Ihr Engagement für … für …“ Er stockte, zog seine Brille von der Nase und putzte sie am Pullunder ab. „Ihr generelles Engagement in allen Ehren, aber Sie haben nicht mehr allzu viel Zeit bis zum Abgabetermin und wenn Sie bis dahin nicht mehr vorzuweisen haben, muss ich Ihnen leider sagen, dass das nicht genügen wird.“

Tabea spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. War sie hier im falschen Film? Sie hatte ungefähr jede deutsch- und englischsprachige Publikation gewälzt, die es auf dem Gebiet gab, nicht wenige davon sogar zweimal. Was hatte Kohlmeis, der olle Vogel, bloß für ein Problem?

„Wir hatten Ihre Fragestellung besprochen“, sagte er jetzt etwas energischer. „Sie sollten eine Korrelation zwischen den konkreten Führungsstrategien des leitenden Personals und der Motivation und Arbeitsleistung der Mitarbeiter herstellen.“

„Genau das habe ich ja vor“, warf Tabea ein.

„Nein.“ Der Professor nahm die Brille ab, legte sie auf den Tisch und massierte seine buschigen Augenbrauen. „Sie sind da leider auf dem Holzweg.“

Tabea schüttelte wie in Trance den Kopf und holte Luft, um etwas zu erwidern, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, was da gerade passierte. Aber in diesem Moment hob Kohlmeis mahnend eine Hand.

„Die persönliche Komponente fehlt gänzlich. Dass die Psychologie eine Wissenschaft ist, die sich mit dem Seelenleben des Menschen befasst, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären. Dieser Herr …“ Er blätterte hektisch durch die Unterlagen. „Dieser Herr …“