Buch lesen: «Verschlüsselt»
Res Strehle
Verschlüsselt
Der Fall Hans Bühler
Impressum
Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr.
Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten. Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
© 1994 Werd Verlag, Zürich
© 2020 Werd & Weber Verlag AG, Thun/Gwatt
Lektorat: Christina Sieg
Gestaltung: Albin Koller, Berikon
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
E-Book ISBN 978-3-03922-048-9
Der Verlag Werd & Weber wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 – 2020 unterstützt.
Inhalt
Vorwort zur neuen Auflage
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
Dokumentarischer Anhang
Die Person
Die Technik
Die Firma
Die Gefangenschaft
Die Rückkehr
Nachwort von Hans Bühler
Über den Autor
Vorwort zur neuen Auflage
Im vergangenen Jahr erhielt der Kölner Journalist und Dokumentarfilmer Peter F. Müller Geheimdokumente aus den USA und Deutschland. Sie bestätigen nach einem Vierteljahrhundert, dass sich der Schweizer Verkaufsingenieur Hans Bühler in eine sehr gefährliche Situation begab, als er im März 1992 nichtsahnend in den Iran aufbrach. Was er nicht wusste: Seine Firma Crypto war im Gemeinschaftsbesitz von CIA und BND. Die nach ihren Vorgaben gebauten Chiffriergeräte verhalfen den westlichen Geheimdiensten dazu, die verschlüsselten Nachrichten der Kundenländer zu knacken. Das ist der Anlass dieser Neuauflage.
Das Projekt, von der CIA mit dem Namen der römischen Göttin «Minerva» getarnt, war eines der erfolgreichsten Projekte der westlichen Geheimdienste in der Nachkriegszeit. Aber unter den 130 Kundenländern waren nicht nur «Schurkenstaaten», wo der Zweck der Aufklärung das Mittel der Täuschung allenfalls heiligen mag. Belauscht und geknackt wurden über die unsicheren Chiffriergeräte auch die Nachrichten anderer Länder, deren «Vergehen» einzig darin bestand, dass sie blockfrei waren.
Nicht nur sie zahlten einen hohen Preis. Auch die Schweiz wird sich aufgrund ihres vielfach bekräftigten Anspruchs auf Neutralität und ihrer Rolle als Vermittlerin in internationalen Konflikten rechtfertigen müssen. Sie hat auf ihrem Terrain eine Firma beherbergt, die auf Täuschung der Abnehmer angelegt war und hat deren Produkten das Etikett Schweizer Technologie umgehängt. Führende lokale Politiker haben mit ihrer Präsenz im Verwaltungsrat die Glaubwürdigkeit als Schweizer Firma bestätigt. Mehrere Untersuchungsverfahren nach Hinweisen auf den geheimdienstlichen Hintergrund der Firma wurden ergebnislos eingestellt, die Ermittler geben sich im Nachhinein der Lächerlichkeit preis. Eine neue Untersuchung jetzt, wo sich CIA und BND aus der Firma zurückgezogen haben, könnte endlich klären, wer wann vom Hintergrund dieser Firma wusste. Sicher ist es nicht, dass die Schweizer Politik und Justiz dazu den Mut und den Willen aufbringen.
Den höchsten Preis für den verdeckten Hintergrund ihrer Firma bezahlten die nicht eingeweihten Beschäftigten und ihre Familien. Sie litten teils jahrelang darunter, dass sie in lebensgefährliche Situationen gerieten, ohne die Hintergründe der Gefahr zu kennen. Hans Bühler sass mehr als neun Monate in einem iranischen Militärgefängnis. Wenn sich die Ermittler bei ihm auf psychische Folter beschränkt haben, dann wohl nur deshalb, weil sie zum Schluss gekommen waren, dass er nichts wusste. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz erwogen Firma und Nachrichtendienste, ihn durch einen Gerichtsprozess so lange zu zermürben, bis er Ruhe gab. Die Drohung reichte, Bühler liess sich schliesslich angesichts des hohen finanziellen Risikos zum Stillhalten verpflichten.
Hans Bühler starb im Juli 2018. Der Fall hat ihn bis ans Lebensende beschäftigt, zeitweilig Tag und Nacht. Wer sein Nachwort in diesem Buch liest, wird auch nach 26 Jahren noch beeindruckt sein. Es ist die Tragik dieses Weltreisenden, dass er als Akteur unversehens in ein Puzzle der Weltgeschichte eingesetzt wurde, ohne das Einsetzen des letzten Puzzleteils in seiner Geschichte noch zu erleben.
I
Was wollten die von ihm? Einer hatte befohlen, den Stuhl zur Wand zu drehen. Dann war ihm eine grüne Augenbinde aufgesetzt worden. Fortan konnte er nur noch die Schuhe seiner Befrager sehen und einen Streifen Boden, vielleicht fünfzig Zentimeter. Ob er einen Dienstpass habe? Ein gutes Zeichen, die waren auf korrekten Umgang bedacht. Überhaupt schienen das Profis in Verhaftungsaktionen, keine Spur von Nervosität bei diesem Dutzend jüngerer Männer; nicht einer hatte die Hand an der Pistole.
War das zivile Polizei, Militärpolizei, oder waren es die Sepah Pasdaran, die «Revolutionswächter»? Kein Entführungskommando jedenfalls, vermutete B., sonst hätten sie keinerlei Rücksicht auf diplomatische Gepflogenheiten genommen. Hätte er einen Dienstpass oder gar Diplomatenpass vorzeigen können, er wäre vermutlich gleich wieder freigekommen, damit keine aussenpolitischen Scherereien entstanden. Vielleicht wäre er einen Tag später abgeschoben worden, weil gegenwärtig Spannungen zwischen den beiden Ländern bestanden. Aber B. hatte bloss seinen gewöhnlichen Schweizerpass. Einer blätterte in B.s Dokument und fragte nach den Personalien. B. gab bereitwillig Auskunft, sein Aufenthaltsvisum war gültig, er hatte nichts zu verbergen: Bühler, Hans, born 1941, nationality Swiss, in Teheran since 6th of March 1992, employee of Crypto AG, Steinhausen/Switzerland.
«Boru, Mister Hans!» sagte einer, es war die Aufforderung zu gehen.
B. verstand die Alltagssprache, seit er Kurse in Farsi besucht hatte. Das war von den iranischen Kunden als besonderes Interesse für ihr Land und ihre Kultur geschätzt worden. B. hatte während seiner zahlreichen Auslandaufenthalte gelernt, sich fremden Kulturen anzupassen. Um so unverständlicher war es für ihn, dass er jetzt offenbar angeeckt war. Womöglich handelte es sich nur um eine routinemässige Kontrolle. Warum wurden ihm dann Handschellen angelegt? War er der einzige, der abgeführt wurde, oder wurden auch die andern mitgenommen? Wenn er sich in Teheran irgendwo sicher gefühlt hatte, dann hier in Anwesenheit der beiden Offiziere, die zur Klärung von technischen Fragen um ein Treffen ersucht hatten. Das Geschäft stand kurz vor dem Abschluss. Es war ein Routinetreffen, wie B. in den dreizehn Jahren seiner Tätigkeit für die Chiffrierfirma schon vielen beigewohnt hatte. Man hatte sich in der Wohnung des Bruders des Teheraner Firmenvertreters getroffen. Erst hatte man geplaudert, Kaffee und Cola getrunken und sich nach dem Wohlergehen der Familie erkundigt. Man kannte sich, die beiden Offiziere waren auch schon zur Ausbildung und Evaluation in der Schweiz. Danach waren Details der Verkaufsverhandlungen besprochen worden. Seine Firma war weltweit eine der versiertesten, was die Übermittlung sensitiver Meldungen via Funk, Telefon, Telex, Telefax oder Computer betraf. Dieselben Geräte waren schon an verschiedene Ministerien verkauft worden, damit heikle Meldungen abhörsicher übermittelt werden konnten.
B. wurde hinausgeführt. Es war ein mühsames Gehen, weil er nur knapp vor die eigenen Füsse sah. Bis zur Strasse waren es vielleicht fünfzig Schritte. Sein Begleiter schien unruhig, mied das Licht und war offenkundig darauf bedacht, dass sie von Anwohnern nicht gesehen wurden. B. musste in einen Transportwagen einsteigen, einen umgebauten Kleinbus mit Sitzbank, vermutlich ein Gefangenentransporter. Der Fahrer startete den Motor. B. war im fensterlosen Laderaum allein mit einem Begleiter, noch immer in den Handschellen und mit Augenbinde. Zunächst schienen sie durchs Zentrum zu fahren, immer wieder gab es kurze Zwischenhalte vor Lichtampeln. Danach hatte der Fahrer auf einer längeren Strecke Gas geben können, jetzt ging es wohl aus dem Zentrum hinaus.
Die Fahrt dauerte mindestens eine halbe Stunde, vielleicht auch eine ganze. B. war unfähig zu einer zeitlichen Einschätzung, zuviel ging ihm durch den Kopf. Das war ihm völlig unverständlich, was hier geschah! Gleich würden sie irgendwo ankommen, seine Personalien überprüfen, und dann musste sich alles klären. In 28 Stunden ging sein Flug zurück nach Zürich, dann war B. wieder bei seiner Familie im Zürcher Vorort Oerlikon und nächste Woche schon wieder am Hock des Funkamateurvereins. Da würde er etwas zu erzählen haben nach dieser nächtlichen Verhaftungsaktion! Womöglich war dies anderen auch schon passiert, irgendwo aus heiterhellem Himmel aufgegriffen und abgeführt, bis sich der Irrtum herausstellt. B. beschloss, nach seiner Rückkehr Stillschweigen über diesen Vorfall zu bewahren. Mit solchen Räubergeschichten würde er nur seine Familie im Hinblick auf weitere Reisen beunruhigen.
Und wenn diese Sache länger dauern würde? Warum waren die mit ihm aus der Stadt hinausgefahren? Seine Personalien hätten sich auch in Teheran überprüfen lassen.
«How long will it take?» fragte er den Begleiter auf der Sitzbank.
«No talk», antwortete der Begleiter.
Dann hielt der Bus. B. wurde hinausgeführt. Hier war es auffallend ruhig und auch kälter als im Zentrum von Teheran. B. fröstelte. Er wurde in einen Vorraum geführt und musste alle Gegenstände abgeben. Wieder fiel ihm auf, wie korrekt alles ablief. Geld, Taschentuch, Zigaretten, das rote Feuerzeug mit dem Aufdruck des Restaurants «Frohsinn» – jeder Gegenstand, den sie ihm abnahmen, wurde exakt bezeichnet und in einem Inventar aufgelistet. Wenn sich der Irrtum über diesen Vorfall erst geklärt hatte, würde er sich nicht beklagen können. Jeder tat ihm gegenüber einfach seine Arbeit. Dann musste sich B. auskleiden, auch die Brille wurde ihm abgenommen. Die Krawatte fehlte, sie war offenbar neben der leeren Coladose in der Wohnung des Gastgebers liegengeblieben. B. erhielt andere Kleider, eine lange Hose aus grauer Baumwolle, eine Jacke, bis oben zuknöpfbar, ein paar Sandalen. Auffällig das Stoffmuster auf Hose und Jacke mit Hunderten von kleinen Waagen, Symbolen der Gerechtigkeit, aber darüber nicht die Justitia mit den verbundenen Augen – sondern eine Maschinenpistole!
B. wurde die Sache zunehmend ungemütlicher. Es musste jetzt gegen Mitternacht sein, vermutlich würde er hier übernachten müssen. Mit verbundenen Augen und wieder in Handschellen wurde er über einen Hof in einen andern Trakt geführt. Dort brachten ihn die Betreuer in einen kleinen Raum. Einen Moment lang stand er verloren da.
«Do you know where you are?» fragte ein Betreuer.
«It looks like a prison», sagte B.
«It is a prison!» sagte der Betreuer im Hinausgehen, und B. vermeinte kurz, ein Lachen gehört zu haben.
Als B. allein war, nahm er die Augenbinde ab und schaute sich um. Die Zelle mass vielleicht zwei auf drei Meter, war vier Meter hoch und auf der Höhe von drei Metern auf zwei Seiten offen, wenn auch mit Eisenstäben versperrt. Von der Gangseite kam schwaches Licht herein, von aussen kühle Luft. Auf dem Steinboden war ein dünner Filz ausgelegt, darauf lagen zwei Wolldecken, ein Kopfkissen, ein Kartonstreifen, vielleicht dreissig Zentimeter lang, ein kleines Frottiertuch. Zwei Plastikkübel standen da, einer gefüllt mit Wasser, der andere offenbar für die Notdurft, und ein Trinkbecher. An der Wand war die Gefängnisordnung angeheftet, dreisprachig, in Farsi, Arabisch und Englisch. B. versuchte, im schwachen Licht den englischen Text zu entziffern: «The accused» – das bedeutete wohl «Angeklagter», vielleicht auch nur «Beschuldigter» – war verpflichtet, in der Zelle absolute Stille zu bewahren. Die Zelle war sauberzuhalten, es durfte nicht auf die Wände geschrieben werden, die Wolldecken waren wöchentlich zu reinigen. Der Beschuldigte musste sich ausserdem regelmässig waschen. Wenn er etwas brauchte, hatte er den Kartonstreifen unter der Gefängnistüre durchzuschieben. Jedes Klopfen oder Rufen war strikte untersagt. Wurde vom Gefängnispersonal das Guckloch in der Zellentüre geöffnet, so hatte der Beschuldigte aufzustehen, die Augenbinde anzulegen und auf Anweisungen zu warten. Damit sollte wohl verhindert werden, dass das Gefängnispersonal erkannt und später allenfalls ein Opfer von Rache wurde. Aber B. hatte keine Rachegefühle, bis jetzt war man korrekt mit ihm verfahren.
B. versuchte sich hinzulegen. Sollte er die Wolldecken als Unterlage nehmen und so die Härte des Bodens mildern oder sich zudecken, damit ihn nicht fröstelte? Wie lange würden sie ihn hier festhalten? Für eine Nacht war das auszuhalten, aber länger? B. versuchte zu ruhen, aber zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Jetzt musste es noch rund 24 Stunden dauern bis zu seinem Rückflug nach Zürich. Das hatte er nicht erwartet, für die zweitletzte Nacht in Teheran das Hotelbett mit einem Steinboden zu tauschen! Langsam bohrten sich ihm die Knochen in den Leib, er wechselte die Seite, stand auf, ging ein paar Schritte und legte sich wieder hin. Es wollte nicht klappen mit Schlafen, aber das war nicht weiter schlimm, er würde sich im Flugzeug auf der Rückreise ausruhen und sich nach der Ankunft in Zürich von den Strapazen nichts anmerken lassen. Was die zu Hause in der Schweiz jetzt machten? Ob die wussten, wie schön das war, in einem Bett zu liegen?
II
B. wurde von lautem Gebetsgesang aus dem Schlaf geschreckt. Er musste gegen Morgen doch eingenickt sein, vielleicht aus Erschöpfung, nachdem er immer wieder aufgestanden war und die drei Meter Länge seiner Zelle abgeschritten hatte, wenn ihn die Härte des Bodens zu sehr geplagt hatte. Aber jetzt war die Nacht vorbei, durch die Zellenöffnung schimmerte fahles Tageslicht. B. war gewohnt, früh aufzustehen, das störte ihn nicht. Die Koransuren dröhnten aus dem Lautsprecher, aber auch das machte ihm nichts aus. Er war Fremder hier und hatte die Gebräuche dieser Kultur zu akzeptieren.
Wie gerädert machte B. ein paar Dehn- und Streckübungen, legte die Wolldecken zusammen und wartete. Die Zelle war wieder exakt so, wie er sie betreten hatte. Bald würden sie an seine Türe klopfen, B. hatte die Augenbinde schon bereitgelegt. Er würde möglichst rasch das Missverständnis zu klären suchen, notfalls auch darauf bestehen, dass die schweizerische Botschaft eingeschaltet würde, damit die Angehörigen kontaktiert werden konnten. Alle würden sie das morgige Rückflugdatum bestätigen können. Die Firma würde auf ihre jahrelangen Geschäftsbeziehungen mit dem Iran und die Kontakte mit höchsten Regierungs- und Armeestellen verweisen können.
Nun wurde das Guckloch geöffnet. B. sah eine Hand, die ihm Brot und ein Stück Käse hereinreichte. Kurz danach ging das Guckloch wieder auf. «Tschai», hörte B. unter der Augenbinde, das musste Tee sein. B. hielt den Trinkbecher hin. Draussen herrschte seit Ende der Gebete eine gespenstische Stille, nur hin und wieder waren Schritte über den Gang zu hören. Eine Türe wurde geöffnet, ging wieder zu, danach wieder Schritte, das musste Gefängnispersonal sein. Nach vielleicht einer Stunde ging das Guckloch erneut auf. Kaum hatte B. die Augenbinde wieder hoch, wurde er hinausgeführt. Über den Hof ging es zurück in die Richtung, wo er gestern seine Kleider und persönlichen Gegenstände abgegeben hatte. Womöglich hatte sich alles schon geklärt, und sie würden ihm gleich die Sachen zurückgeben. Sein Betreuer war uniformiert, den braunen Hosen und Schuhen nach zu schliessen, vielleicht Militärpolizei. Als B. den Kopf allzu stark hob, um unter der Augenbinde hervorzusehen, drückte ihm der Begleiter kräftig den Kopf nach unten. Er wollte auf keinen Fall erkannt werden, das wäre ja auch über Besonderheiten an Hosen und Schuhen möglich gewesen.
B. wurde in ein anderes Gebäude geführt und dort in einem Verhörraum auf einen zur Wand gekehrten Stuhl gesetzt. Seitlich am Stuhl war eine Schreibunterlage befestigt, ähnlich wie sie Studierende in Hörsälen haben. Eine Stimme begrüsste ihn in einwandfreiem Englisch, den Formulierungen nach in den USA erlernt. Sie stellte sich als «Investigator» vor. Was sollte das bedeuten: Polizeiverhörer? Ermittler? Untersuchungsrichter?
«How are you?» fragte die Stimme.
«Thank you for asking me», antwortete B. freundlich und unverbindlich.
Dann wurde B.s Lesebrille gebracht, die erst im Depot hatte geholt werden müssen. B. durfte unter der Augenbinde die Brille aufsetzen und direkt nach unten auf die Schreibunterlage sehen. Vor ihm lag ein Schriftstück. Was B. las, traf ihn wie ein Schlag: «Strafrechtliche Tatbestände: Spionage, Bestechung, Teilnahme an einem illegalen Treffen und Alkoholkonsum.»
«Wir wissen, Sie sind ein Spion der Schweizer Polizei. Was haben Sie dazu zu sagen?» fragte die Stimme.
B. sackte zusammen, diesen Vorwurf hatte er nicht erwartet! Gut fünfzig Jahre seines Lebens rasten im Schnellgang an ihm vorbei, wie ein auf Hochtouren zurückgespulter Film. Die dreizehn Jahre bei der Firma in Steinhausen, die zahllosen Reisen mit den zähen Verhandlungen in Europa, Lateinamerika, Afrika und Mittelost, die Berichterstattungen und technischen Erklärungen in Hotelzimmern und auf Flugreisen, die Missionen fürs Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Nigeria und Jemen, die Arbeit als Fernmeldetechniker in Kuwait, Papua-Neuguinea und Senegal, die Jahre als Funker auf Hochseeschiffen, als Fleet Manager in der Hochseefischerei im südchinesischen Meer, die Managementschule und technische Ausbildung in England, die Lehre als Fernmeldebeamter bei den PTT, die Handelsschule in Neuenburg, die ersten Funkerlebnisse mit zwölf Jahren, die Kindheit in Uster. Alle tauchten sie kurz auf und verschwanden wieder, die ihm Eindruck gemacht hatten: der deutsche Kaufmann, der ihn auf der Luxusjacht als Schiffsfunker angestellt hatte, sein Chef bei den PTT, die Frau mit der kleinen Tochter, die er vor dreizehn Jahren kennengelernt hatte, das Mädchen, das ihn Vater nannte und für ihn wie eine eigene Tochter war, die Geschwister mit ihren Familien, die Mutter, die schon über achtzig war und den Lieblingssohn behütete wie einen kleinen Jungen, wenn er jeweils in die Schweiz zurückkehrte, und immer gesagt hatte, er solle auf sich schauen, wenn er auf Reisen ging. Und jetzt war der Film aufgerollt, die Leinwand flimmerte unter B.s Augenbinde wie am Ende einer Vorführung.
«Nein», sagte B. abrupt in die eingetretene Stille, «das ist eine Verwechslung. Ich bin Verkaufsingenieur!»
«Was geschieht, wenn die Schweizer Grenzpolizei Pässe von Einreisenden auf eine Glasscheibe legt?» fragte der Verhörer unbeirrt.
«Ich weiss nicht, womöglich werden die Pässe kopiert.»
Was sollte diese Frage? Wollten die Befrager von ihm erkunden, wie man mit gefälschten Papieren in die Schweiz einreisen konnte? Warum ausgerechnet von ihm? Oder wollten sie testen, was er über solche Details wusste?
«Welche Grenzübergänge in die Schweiz werden am besten bewacht?»
«Ich kann das nicht beurteilen», antwortete B., «vielleicht Genf oder die Südschweiz.»
«Als Polizist müssen Sie das wissen!»
«Ich bin nicht Polizist!»
«Sie lügen!»
«Hören Sie!» antwortete B. erregt, «ich bin Verkaufsingenieur, technical salesman. Seit dreizehn Jahren besuche ich den Iran. Selbst während des Kriegs mit dem Irak, als der Teheraner Flughafen zeitweilig geschlossen war, bin ich unter schwierigsten Umständen ins Land eingereist. Ich habe Kontakte in die höchsten Amtsstellen des Aussenministeriums, zu Militär, Polizei und Gendarmerie. Noch vor meiner letzten Abreise in den Iran war ich anlässlich der Jubiläumsfeier zum Jahrestag der Revolution von der iranischen Botschaft in Bern eingeladen, habe dort mit dem Botschafter und dem Militärattaché gesprochen. Einige Tage später kam der Attaché in unsere Firma. Der Direktor und ich haben ihn betreut. Es gibt an meiner Tätigkeit nichts, das den Vertretern des iranischen Staates hätte verborgen sein können. Ich bin am 6. März zusammen mit einem Kollegen und rund 250 Kilogramm technischem Material, verschiedenen Modellen von Chiffriergeräten samt Zubehör, in Teheran angekommen. Wir sind am Flugplatz durch einen Kunden abgeholt worden. Seither haben wir verschiedene Kunden besucht, unter anderem die Einkaufsstelle der Armee. Konkrete Aufträge wurden bearbeitet und Bestellungen lagen vor, waren aber auf Anweisung des Parlaments pendent zu halten, solange Spannungen zwischen der Schweiz und dem Iran bestanden. Diese Vertragsabschlüsse sind für Ihr Land von grösster Bedeutung!»
«Schreiben Sie alle Kontakte auf, die Sie je zu Iranern gehabt haben», befahl der Verhörer.
Gehorsam schrieb B. auf dem ihm gereichten Papier alle Kontakte zu Iranern auf, an die er sich in den dreizehn Jahren seiner Geschäftstätigkeit erinnerte. Es lag in seinem Interesse, möglichst lückenlos über seine Kontakte Bericht zu erstatten! Wenn er keinen Namen verschwieg, würden sie merken, dass er aufrichtig war. Gleichzeitig würden Sie erkennen, wie wichtig seine Tätigkeit für das Land war. Armee, Innenministerium, Aussenministerium und selbst parastaatliche Organisationen wie die Revolutionswächter waren auf die Geräte der Firma angewiesen. Die abhörsichere Übermittlung sensitiver Meldungen war von höchstem Interesse für die verschiedensten Amtsstellen. B. beschrieb unter der Augenbinde Seite um Seite auf dem Schreibbrett am Stuhl, der Randabstand links nahm gegen unten zu, weil er sonst zu nahe am Körper hätte schreiben müssen.
Am Mittag wurde er in die Zelle zurückgeführt. Ein Mann mit freundlicher Stimme und einem Suchempfangsgerät besuchte ihn, das musste der Gefängnisdirektor sein. Dem Mann schien daran gelegen, dass sich B. wohl fühlte. B. eröffnete ihm, dass sein Flug für die kommende Nacht, Abflugzeit 02 Uhr, gebucht sei und dass er dieses Flugzeug unbedingt erwischen müsse. Der Gefängnisdirektor schien davon Kenntnis zu haben und sah keinerlei Problem.
«Machen Sie sich keine Sorgen, das geht schon in Ordnung!»
Am Nachmittag aber stellte sich rasch heraus, dass es mit dem geplanten Rückflug nichts werden würde. B. sprach die Verhörer gar nicht mehr darauf an, es wäre zwecklos gewesen. Das Verhör war gleich zu Beginn härter geworden. Der Chefverhörer hatte einen Zacken zugelegt, einzig sein Assistent, ein der Stimme nach jüngerer Ermittlungsbeamter, war freundlich geblieben. Der Assistent sprach ein sehr gepflegtes Englisch, brauchte nicht die saloppen Wendungen «sure» oder «come on» aus dem Amerikanischen wie der Verhörer, dafür hatte er B. aufgefordert, alles «very succinctly» niederzuschreiben – das hiess sinngemäss «aufs Tüpfchen genau» und zeugte von einem Aufenthalt an einer englischen Sprachschule.
Vielleicht war der Ältere auch schlecht gelaunt, weil sie ihn am iranischen Neujahr, einem hohen Feiertag im islamischen Kalender, verhören mussten. Oder hatten sie ganz einfach ihre Rollen gemäss professioneller Verhörtechnik verteilt? Der Jüngere, kollegial, verständnisvoll und lieb, sollte von B. ins Vertrauen geschlossen werden, der Ältere, väterlich streng, notfalls auch drohend, sollte Autorität markieren? «Mister Hans» nannte ihn kollegial und freundschaftlich der Jüngere, «Mister Buhler» streng der Ältere.
«Mister Buhler», hatte der Verhörer den Nachmittag eröffnet, «wir wissen, dass Sie am Morgen gelogen haben. Jetzt werden Sie uns die Wahrheit erzählen. Wem haben Sie Geld zwecks Bestechung gegeben? Und was erhofften Sie sich von den Bestechungen? Vergessen Sie nicht, dass wir Sie behalten können, so lange, wie wir wollen.»
Weniger diese Drohung hatte B. erschreckt als eine andere Bemerkung, die der Verhörer kurz danach machte, wonach sie «many methods» hätten, um die Wahrheit herauszufinden. Aber B. hatte nichts zu verbergen, er hatte nichts Krummes getan. Wenn er Iranern Geld gegeben hatte, dann war dies stets legal erfolgt. Seitenweise schrieb er auf, wem er während Ausbildungskursen am Firmensitz in Steinhausen Taggelder zu 30 Dollar ausbezahlt hatte. Würde er nur einen Namen oder einen Kontakt verschweigen, so konnte dahinter eine Absicht vermutet werden. Das Verschwiegene würde ihm später vorgehalten werden und seine Haft auf unabsehbare Zeit verlängern.
«Und Nuri, wieviel haben Sie ihm ausbezahlt?» forschte der Verhörer.
Nuri, wer war das? Nuri hiess der iranische Innenminister, dann gab es im Innenministerium einen Einkaufschef dieses Namens, aber beide waren nach B.s Erinnerung nie in Steinhausen gewesen.
«Welchem Nuri?» fragte B.
«Nuri», sagte der Verhörer streng, «Sie kennen ihn ganz genau! Er war bei Ihnen zu Hause. Wieviel Geld haben Sie ihm gegeben?»
Jetzt erinnerte sich B., dass er einst an einem Samstag einen Kursteilnehmer dieses Namens zusammen mit dem Delegationsleiter bei sich zu Hause eingeladen hatte. Während der Woche waren die beiden bei der Firma in Steinhausen in der Bedienung der bestellten Chiffriergeräte angeleitet worden. Eingabe und Wechsel der Chiffrierschlüssel waren so lange geübt worden, bis die Iraner die Geräte im Griff hatten. Am Wochenende war B. beauftragt worden, den Gästen ein Unterhaltungsprogramm zu bieten. Weil die beiden Iraner am Satellitenfunk interessiert waren, hatte B. von seinem Haus in Oerlikon aus Satelliten in mehreren tausend Kilometer Höhe angepeilt und auf Ultrakurzwelle weltweit Funkverbindungen hergestellt. Mit einer Sendeleistung von einem Watt, der Stärke einer Taschenlampenbirne, hatte er die Satelliten als Relais benutzt. Nuri war beeindruckt gewesen. Was technisch alles möglich war! Danach waren sie in eine Apotheke gefahren und hatten ein paar Medikamente eingekauft, die im Iran nicht erhältlich sind.
«Nichts, ich habe ihm ein paar Medikamente in einer Zürcher Apotheke gekauft.»
War dieser Nuri schon verhaftet worden und hatte ihn belastet? B. musste sich noch exakter an alle Namen zu erinnern versuchen. Jedes unabsichtliche Verschweigen konnte ihm zum Verhängnis werden!
Die folgende Nacht lag B. wach. Zwanzig unbeschriebene Blätter waren ihm in die Zelle mitgegeben worden, damit er Vergessenes unverzüglich nachtragen konnte, wenn es ihm einfiel. B. benutzte die Sandalen als Schreibunterlage und füllte Seite um Seite. Er berichtete von seiner ersten Reise nach Teheran als Tourist 1972, von der Stadttour in Teheran, dem Besuch im Museum. Acht Jahre später war er erstmals als Verkaufsingenieur für die Firma im Iran, hielt die ersten Vorträge und präsentierte Geräte. Wie in seinen ersten Schulaufsätzen reihte er Episode an Episode und überliess die Gewichtung dem Beurteiler. Er war vom Verhörer angewiesen worden, nur Grossbuchstaben zu verwenden.
«ICH HABE SEHR VIELE LEUTE GETROFFEN. ICH KANN MICH NICHT MEHR AN ALLE NAMEN ERINNERN. DOCH, DIE HAUPTVERANTWORTLICHEN INGENIEURE UND REGIERUNGSBEAMTEN, DEREN NAMEN KENNE ICH. WIR HABEN UNS ÜBER DIE JAHRE SO OFT GESEHEN. VIELE WAREN JA AUCH BEI DER FIRMA ZU BESUCH. AM WOCHENENDE WAREN WIR ZUSAMMEN AUF DEM JUNGFRAUJOCH, AUF DER STERNWARTE IN ZÜRICH ODER IM VERKEHRSHAUS IN LUZERN, WENN ES REGNETE. WIR KANNTEN UNS GUT, ES WURDEN MIR IHRE FAMILIEN VORGESTELLT. DER ADMIRAL HAT MICH IN SEINE WOHNUNG EINGELADEN, WIR WAREN ZUSAMMEN AUF VERSCHIEDENEN KRIEGSSCHIFFEN FÜR UNSERE GERÄTE. ICH SCHLOSS CHIFFRIERGERÄTE AN TELEFONAPPARATE IM GEBÄUDE DES VERTEIDIGUNGSMINISTERIUMS AN. ICH WURDE IN EINEN EINSATZRAUM DER STREITKRÄFTE TIEF UNTER DER ERDE GEFÜHRT, WO ICH DAS GLEICHE TAT. ICH SOWIE WEITERE MITARBEITER DER FIRMA ABSOLVIERTEN MEHRERE HELIKOPTERFLÜGE, UM DAS GUTE FUNKTIONIEREN UNSERER GERÄTE ZU ZEIGEN. AUCH HATTEN WIR INSTALLATIONEN IN ANDEREN FLUGZEUGTYPEN VORZUNEHMEN. DIE IRANISCHEN FERNMELDESPEZIALISTEN WAREN SEHR DARAUF BEDACHT, ALLE MÖGLICHEN ANWENDUNGEN VOR EINEM KAUF VON GERÄTEN GESEHEN UND ERPROBT ZU HABEN. NEIN, ICH HABE NICHT SPIONIERT, WIE VIELE HELIKOPTER DIE IRANISCHE ARMEE HATTE, SONDERN HABE IM LAUF UNSERER GESPRÄCHE GEFRAGT, WIE VIELE GERÄTE FÜR DIE VERSCHIEDENEN FLUGZEUGTYPEN DENN IN FRAGE KÄMEN. DIE VERANTWORTLICHEN OFFIZIERE FÜR FERNMELDE- UND CHIFFRIERFRAGEN WAREN BEGEISTERT VON DEN GUTEN RESULTATEN. SIE SAHEN, DASS ES MIT UNSEREN GERÄTEN NUN MÖGLICH WAR, DASS DIE PILOTEN DER LUFTWAFFE UNTER SICH UND MIT BODENSTATIONEN FUNKVERKEHR ABWICKELN KONNTEN, OHNE DASS SIE VOM FEIND ABGEHÖRT WERDEN KONNTEN. DIE FIRMA HATTE DEN AUFTRAG GEWONNEN GEGEN ALLE KONKURRENTEN VON ANDERN EUROPÄISCHEN LÄNDERN. «SWISS QUALITY», DIES GAB ARBEIT IN DER FABRIK IN STEINHAUSEN-ZUG.»
Diese Geschichte würde endlos! Kein Zweifel, seine Firma musste so rasch wie möglich orientiert werden. Ende März stand schon die nächste Verkaufsreise nach Mexiko bevor. Die detaillierte Reiseplanung war zu machen, das Nötige vorzukehren, dass die Swiss Quality an der Ausstellung «America’s Telecom 92» ihrem Ruf gerecht wurde. Es musste dringend dafür gesorgt werden, dass ein anderer Frontverkäufer diese Aufgabe an die Hand nahm.
B. verfasste auf den leer gebliebenen Seiten ein Schreiben an die Firma. Er musste so rasch wie möglich über die Vorwürfe orientieren, die ihm hier gemacht wurden. Das würde sie genauso unerwartet treffen, wie es ihn getroffen hatte! Auch den Verkaufskollegen und den Mitarbeitern im Innendienst wollte sich B. erklären. Was ihm passiert war, konnte jedem passieren. Er schilderte detailliert, wie er aus völlig unerfindlichen Gründen in Teheran verhaftet worden war. Dass ihm illegale Kontakte zu Militärpersonen, Bestechung, Konsum von Alkohol und Spionage vorgeworfen würden. Dabei seien seine Kontakte durchaus im üblichen Rahmen der Verkaufsverhandlungen der Firma gelaufen. Dass man sich abends in einer Privatwohnung getroffen habe, sei angesichts des Zeitdrucks auf einer solchen Reise nicht aussergewöhnlich. Auch der Vertriebschef sei übrigens schon in dieser Wohnung gewesen. Im Cola müsse ein Schuss selbstgebrauter Wodka drin gewesen sein, aber auch das sei nicht aussergewöhnlich. Iranische Gastgeber böten ihren Gästen stets vom Besten an, was sie haben – da werde sich der Vertriebschef zweifellos daran erinnern. B. habe ausserdem nicht danach gefragt, sondern nur, ob er einen «Drink» haben könne, was im Englischen irgendein Getränk bedeute.