Überall zu Hause, nirgendwo daheim

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»Tut’s noch weh?« sagt sie. »Komm, ich sing dir was vor.« Damals habe ich es zum ersten Mal gehört. Plötzlich wusste ich, woher ich diese tiefe, raue Stimme kannte, plötzlich verstand ich meine Gänsehaut, wenn sie sprach.

Sie sang: »Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz, my friends all drive Porsches, I must make amends ...«

An der Stelle brach sie ab, fragte mich, als sähe sie mein Er­staunen nicht: »Was heißt das, 'make amends', kein Mensch weiß das.«

Ich zuckte die Schultern. »Woher hast du das?« fragte ich. »Weißt du überhaupt, von wem das ist?«

»Klar«, sagte sie, »das ist Janis Joplin. Ich hab die Platte von Manta. Manta sagt, ich singe wie Janis Joplin.« Sie ging zur Tür. »Also, ich muss wieder runter, hab noch zu tun.«

Sie ließ mich zurück mit ihrer Stimme im Raum. Alles war so irreal. Ich singe wie Janis Joplin, sagte sie ganz gelassen, und der Wahnsinn war, es stimmte, sie sang wie Janis Joplin – schon damals mit sechzehn.

Mein Bild von ihr wurde immer gefährlicher. Ich begann die Kontrolle zu verlieren, das machte es gefährlich. Vielleicht hatte ich die Kontrolle längst verloren.

Es wurde eine unruhige Nacht, so viele Fetzen, die in meinem Kopf herumflogen, wilde Träume von Schüssen und Küssen, ihre Beine, ihr Bauch, ihre Augen, ihr Busen. Träume von wildgewordenen Stadtkindern und Kühen im Bach, von einem grauen Herrn in einem Diplomat V8, Holzsplitter, die tödlich verletzen, zerfetzen, dann plötzlich das Gefühl eines anderen Körpers auf mir, Luis Körper, weg mit dem nächsten Lid­schlag.

Von drüben drang das Stöhnen und Schnarchen des Alten herüber, im Lauf dieser ersten Woche hatte ich mich schon fast dran gewöhnt. Manchmal hörte ich ihn aufstehen, hörte ihn hin und her gehen, Worte murmeln, dann warf er sich wieder krachend ins Bett. Meine Drittklässler fielen mir ein, jetzt wa­ren sie es, die mich vom Schlafen abhielten. Mitternacht ging vorbei, und ich schlief noch immer nicht, zählte die Sterne in dem kleinen Rechteck, den das Fenster aus dem Himmel her­ausstanzte, verzählte mich, merkte, wie sich der Himmel langsam verschob, wie einige Sterne links verschwanden, an­dere rechts in mein Blickfeld rutschten.

Ich war gerade am Einschlafen, da wurde der Alte wieder unruhiger, aus dem Stöhnen, Schnarchen und Brabbeln hinter seiner Tür waren einzelne Worte herauszuhören. »Mitkom­men«, verstand ich einmal ganz deutlich, »alle mitkommen, los!« Dann: »Schießen, schießen, schießen!«, danach war wie­der alles still, ich drehte mich auf die Seite, um endlich Ruhe zu finden, aber da ging es erst richtig los. Jetzt grummelte und brabbelte er nicht mehr, er schrie, schrie wie am Spieß, wie einer, der Schaum vor dem Mund bekommt, dem die Augen raustreten. »Raus da, raus da, raus da! Ihr Schweine. Macht, dass ihr da rauskommt!«

Er wurde immer lauter, seine Stimme schnappte über, es klang, als triebe er eine Herde vor sich her, immer wieder »Alle raus da«, bis nichts mehr zu verstehen war, nur noch ein bestialisches, furchterregendes Brüllen, das all meinen Mut, rüberzugehen und ihn zu beruhigen, im Keim erstickte. Ich dachte an sein Gewehr und zog mir die Decke über den Kopf, bereit abzuwarten, bis er von alleine aufhören würde, und wenn es erst am Morgen wäre.

Aber dann wurde unten die Tür aufgerissen. »Opa, Opa!« Es war Lui. Sie stürmte die Treppe hoch, anscheinend schüttelte sie ihn. Drei-, vier-, fünfmal klatschte es, dann war plötzlich

Ruhe. Heftiges Atmen nur noch, Schluchzen, Weinen, Wim­mern, dazu ihre Stimme.

»Ist gut, Opa, war nur ein Traum, schläfste wieder ein. Nimmste noch ’nen Schluck Bier und schläfst wieder. Ist alles in Ordnung, niemand will dich holen, kein Mensch. Trinkst noch ein Bier und schläfst wieder.«

Das Wimmern wurde leiser. Sie redete auf ihn ein, bis sein Schluchzen in gleichmäßiges Schnarchen übergegangen war. Dann hörte ich ihre Schritte über die knarzenden Bodendie­len. Sie ging aus seinem Raum, zog leise die Tür zu, schlich über den Gang, blieb vor meiner Tür stehen. Nach dem Ge­brüll der letzten Viertelstunde war alles unwirklich ruhig. Ich spürte sie mehr vor meiner Tür, als dass ich sie hörte, wartete, dachte schließlich, sie sei vielleicht doch schon fort, glaubte dann wieder ihren Atem zu hören, vielleicht war es auch mei­ner, oder mein Herzschlag.

Zweimal holte ich Luft und hielt mich doch selbst zurück, beim dritten Mal wollte ich mich nicht mehr wehren. »Ich bin wach«, sagte ich leise.

Die blankgewetzte Messingklinke senkte sich, dann quietschte die Tür. Sie stand im Raum, barfuß, nur mit einem dünnen Nachthemd über dem Körper. »Hast du alles mitgekriegt?« fragte sie, und ohne eine Antwort abzuwarten: »Tut mir leid, er hat das ab und zu – hattest du Angst?«

»Es ist nicht gerade das, was ich mir nachts um eins wün­sche.«

»Es ist nicht oft«, sagte sie.

»Ich denke, es ist vielleicht besser, ich suche mir woanders eine Wohnung. Ohne Schüsse und Schreie. Einfach ’ne kleine Woh­nung mit ’ner Tür, die ich absperren kann.«

Sie sagte nichts, stand bewegungslos im Dunkel, ich konnte nur ihre Umrisse gegen den matten Lichtschein aus dem Gang

erkennen. Ich spürte, dass sie versuchte, mich zu bannen, war froh, ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.

»Rutsch mal, mir ist kalt«, sagte sie dann plötzlich und war auch schon neben mir unter der Decke. »Aber keine unan­ständigen Sachen, sonst gehe ich gleich wieder!«

Sie lag ausgestreckt neben mir, ich spürte die Wärmestrahlung ihres Körpers, roch ihre Haut. Aber nur eine winzige Stelle der Berührung gab es zwischen uns, ihr Knie war es, es lag ganz leicht an meinem Oberschenkel, es fühlte sich an, als zeichne sie mich mit einem glühenden Eisen.

»Bleib doch hier«, sagte sie dann leise, »ich hab gehört, es geht nicht mehr lange.«

»Was meinst du?«

»Mit dem Opa. Es geht wohl nicht mehr sehr lange. Ich habe die Friedhofsglocke gehört, sie läutete noch vor den Weih­nachtsglocken.«

Ihre Stimme klang fremd, ich hatte mich längst an ihre rau­chige Stimme gewöhnt, an diese Worte aus Kehle und Bauch, aber dieser letzte Satz kam noch von viel weiter weg, aus einer fremden Welt. Ich sagte nichts, und es dauerte, bis sie weiter­sprach.

»Sei einfach nett mit ihm, sprich mit ihm, lob ihn, iß mit ihm, erzähl ihm was. Er wird nie bitte und danke sagen, er hat’s nie gemacht und wird’s nicht mehr lernen, aber manchmal lacht er. Und er schläft dann besser und hat weniger Angst, ver­stehst du?«

»Vielleicht schießt er dann auch nicht mehr auf mich«, sagte ich, »das würde mir schon genügen.«

»Ich kann ihm die Patronen wegnehmen, wenn du willst. Bleibst du hier wohnen, wenn ich ihm die Patronen wegneh­me?«

»Nimm sie ihm ab, und vergiss die eine im Lauf nicht, dann sehen wir weiter.« »Gut«, sagte sie und schlüpfte so schnell, wie sie gekommen war, wieder aus dem Bett. Sie blieb im Dunkeln vor mir ste­hen.

»Ich habe gehört, du begehrst mich?« sagte sie nach einer langen Pause und fragte, nachdem ich darauf keine Antwort gab: »Willst du mich anfassen?«

»Nein«, sagte ich scharf, bereute im nächsten Moment, dass und wie ich es gesagt hatte.

»Gut, dann gehe ich jetzt, schlaf gut.«

Natürlich hinterlässt eine solche Nacht Spuren, vor allem bei mir. Mit viel Mühe schleppte ich mich am Morgen raus zu dem alten Emaillewaschbecken.

Schnarchen des Alten klang laut und friedlich durch die Tür. Ich besah mir mein Gesicht im Spiegel, ein kleiner roter Punkt auf der Backe und eine leichte Schwellung waren alles, was man von dem Attentat noch sehen konnte. Ich ließ den Was­serhahn laufen, bis die warme Brühe aus dem Rohr abgelaufen war, wartete, bis eisiges Wasser kam, und schaufelte es mir händeweise ins Gesicht.

Unten im Hof herrschte schon rege Betriebsamkeit. Lui stapfte in Gummistiefeln hinüber in den Stall, hinter ihr her die beiden Hunde. Hippie hatte in der Nacht zum ersten Mal drau­ßen geschlafen, seit dem Schuss gestern Mittag weigerte er sich, das Haus noch einmal zu betreten.

»Morgen, Lui«, rief ich in den Stall, »ich bin spät dran, bis heute Mittag!« Ich wollte nicht mit ihr reden, nicht morgens um sieben, wenn meine Welt noch in Unordnung und meine Ele­fantenhaut gegen Gutes, Schlechtes, Böses und Ergreifendes noch hauchdünn ist. Hippie, der am ersten Schultag beim Ab­schied noch hinter mir her geheult hatte, machte sich heute schon nicht mal mehr die Mühe, mir bis zum Hoftor zu fol­gen.

Ich nahm mir auf dem Weg zwei Stöllchen bei der Bäckerei mit.

»Das war wohl heut Nacht bei euch auf dem Hof, gell?« fragte die Bäckersfrau.

»Was meinen Sie?« fragte ich doof und ließ sie stehen.

Ich setzte mich in mein Klassenzimmer, wartete auf meine Schäfchen. »Morgen, Michael.« – »Ich bin aber der Matthias!« – »Morgen, Nicole.« – »Guten Morgen, Herr Weber!« So ging es achtundzwanzigmal, dann war die Klasse komplett. Ich fing gerade an mit organisatorischen Fragen, welche Hefte wofür, welche Farbe für welches Fach, da ging ein Finger hoch. Es war Linda, ein schüchternes, kleines Dorfmädchen, das den gan­zen ersten Tag kein Wort gesagt hatte. Sie stand auf, fragte leise: »Beten wir jetzt nicht mehr?«

Laut Lohnsteuerkarte bin ich ein evangelischer Christ, noch immer.

»Willst du morgens beten?«

»Meine Mutti hat gesagt, wer morgens nicht betet, ist Heide, und der Tag wird eine Sünde.« Sie setzte sich wieder. Alle sahen mich erwartungsvoll an.

»Wer von euch will denn morgens beten?«

Fast alle Finger gingen hoch.

»Gut«, sagte ich, »dann beten wir. Was wollen wir beten?« Schweigen. Dann stand Linda wieder auf. »Frau Bretz hat uns immer aus einem Buch was vorgebetet.«

 

Kollegin Bretz, Ende Vierzig, dunkelblauer Faltenrock mit weißer Rüschenbluse, steht vor den Kindern und liest aus dem Gebetbuch vor, das konnte ich mir gut vorstellen. Ich ver­suchte den Kindern zu erklären, dass für mich ein Gebet etwas sehr Persönliches sei, das man nicht aus einem Buch vorlesen könne. Jeder habe andere Freuden und Sorgen, da solle auch jeder etwas anderes mit dem lieben Gott besprechen, fände ich.

»Dann bete ich für mich«, rief Andre, der dicke Junge, der im Sommer bis Kenia gekommen war. Alle lachten. »Für meine Katze!« sagte ein Mädchen. »Oder für die armen Lehrer.« Gekicher.

»Dann machen wir es doch so«, schlug ich vor, »jeden Morgen betet jemand von euch laut vor. Und er betet einfach das, was ihm auf dem Herzen liegt. Wer will denn heute anfangen?« Natürlich funktioniert Pädagogik nur in den theoretischen Lehrbüchern für Lehrer. In der Praxis will nie jemand anfan­gen, schon gar nicht mit Beten.

»Linda, wie wär’s, wenn du heute mal den Anfang machst?«

Sie wurde rot, stand dann aber doch auf, faltete die Hände, sagte: »Lieber Gott ...« und überlegte dann lange. »Lieber Gott«, fing sie schließlich noch einmal an, »ich bete für meine kranke Oma, für meine Mutti und für die Lehrer, für der Nicole ihre Katze – aber nicht für den Andre.« Sie stockte, wollte sich setzen, da fiel ihr noch was ein. »Und außerdem, dass es bald wieder regnet, weil der Weizen schon knickt und die Kartoffeln eintrocknen und weil das Gras für unsere Küh’ nicht mehr recht wachsen will. Amen.«

Wie gesagt, morgens ist meine Haut noch sehr dünn, viel zu dünn für einen Drittklasslehrer. Ich schluckte, damit mir nicht die Tränen kamen.

»Danke, Linda«, sagte ich dann, »das war ein schöner An­fang!«

Sie strahlte mich verliebt an.

In der Pause suchte ich nach einem Platz im Lehrerzimmer. Aber jeder Stuhl schien schon besetzt, auch wenn niemand darauf saß. Grüppchen bildeten sich, enge, abgekapselte Cli­quen – ich stand ziemlich verloren da.

»Komm hier zu uns rüber, Karl-Dietrich!« rief Rainer schließlich. »Aber nimm dir den Stuhl dort hinten, alle anderen sind besetzt.«

Ich aß meine trockenen Stöllchen, trank viel zu starken Kaf­fee.

Ich hörte zu. Das Dorfkarussell war wieder in Betrieb: Der hat dies gemacht und der das, weißt du schon, und der erst, hast du schon gehört, die hab ich auch mal wieder gesehen ...

»Sag mal«, fragte mich Rainer plötzlich, »heute Nacht war bei euch Highlife, hab ich gehört?«

»Wie hört man so was?« fragte ich.

»Mach dir keine Illusionen, Karl-Dietrich, jeden Furz, den du hier lässt, hört sofort das ganze Dorf – was ist denn nun wieder los mit eurem Alten?«

»Er schreit«, sagte ich, »er schreit, dass einem das Blut ge­friert.«

»Der wird schon seinen Grund haben«, sagte jemand am Tisch, und alle grinsten verlegen.

»Stimmt irgendwas mit dem nicht, oder wie?« wollte ich wis­sen.

»Mit dem ganzen Reustenhof stimmt so manches nicht«, sagte Rainer, ein paar nickten – und wechselten schnell das Thema.

4. KAPITEL

»Einen Feind, den man nicht besiegen kann, muss man sich zum Freund machen«, wer hat das gesagt, Cäsar vielleicht oder Bismarck, Napoleon käme auch in Frage oder irgendein an­derer Schläger der Weltgeschichte.

Ich dachte an Opa Alfred und was Lui über ihn gesagt hatte. Vielleicht sollte ich wirklich Freundschaft mit ihm schließen, zumindest seine Feindseligkeiten ins Feere laufen lassen. Ich hab so meine Probleme mit Leuten, die auf mich schießen, aber als ich an diesem Tag heimkam, hatte ich die besten Vor­sätze.

»Opa, ich bin’s, der Weber!« rief ich die Treppe hoch, nichts rührte sich. Ich tastete mich vorsichtig nach oben, das splittrige Loch in der hölzernen Wandverkleidung machte mir auch ei­nen Tag später noch Magenkrämpfe. Er saß oben in seinem Sessel und beobachtete durch seine offene Tür die Treppe. »Ich bin’s, Opa!« rief ich noch mal.

»Ich hab’s ja gehört, bin ja nicht schwerhörig!« grummelte er als Antwort – immerhin.

»Wie geht’s so?«

»Wie soll’s gehen, Weber?«

»Na ja«, sagte ich, »es könnte ja zum Beispiel gutgehen – oder auch schlecht.«

»Mal gut, mal schlecht, Weber, wie’s halt so geht.«

»Schon gut«, sagte ich. Ich hatte am Vortag alles Nötige zum Tapezieren gekauft, zog mir eine alte Jeans über und fing unten in der Küche an.

Ich tapeziere gerne. Klatsche den Kleister auf die Bahnen, lasse sie weichen, lege an, schiebe und ziehe sie an der Wand zurecht. Wie die zusammengelegte nasse Bahn sich an die Wand streckt, sich anlegt, anschmiegt und glattzieht, so wirkt Tapezieren auf meine Gedanken: beruhigend, glättend, stabi­lisierend. Manchmal frage ich mich, warum ich unbedingt einen Job haben muss, bei dem ich mit dem Kopf arbeite. Was für ein Luxus, während der Arbeit frei über die Gedanken verfügen zu können, Geld zu verdienen, während der Geist spazieren geht und sich erholt.

All die Wände fielen mir ein, die Tapeten von mir tragen. Das erste Mal war es mit Vater in Bochum. Der Sohnemann als Hilfstapezierer, jede Minute, die Vater für mich hatte, war mir kostbar, er spürte das und machte mich immer wieder zu sei­nem willigen Assistenten. Beim zweiten Mal war der Vater schon verschwunden, nun war ich Assistent meines Onkels, die Wände standen in München, es machte mich nicht halb so glücklich. Dann hatte ich selbst das Sagen, tapezierte meiner Münchner Freundin ihre Bude, verdiente mir damit meinen Einzug und musste dann doch nach zwei Monaten gehen, als alles zu Ende war. Überall hinterließ ich nur Tapeten. Das nächste war mein kleines Zimmer in Spandau, endlich vier eigene Wände, aber es waren wirklich nur vier, das Klo war schon nicht mehr mein eigenes, wir teilten es zu viert, und zum Duschen ging’s rüber ins Stadtbad. Dann kam mein Zimmer in der Weddinger WG, als ich mich bei Wille und Roger, aber hauptsächlich bei Christine niederließ. Im Laufe der drei Jahre habe ich die ganze WG tapeziert, mehr noch, ganze Häuser­blocks müssen inzwischen meine Tapeten tragen, Freunde von Christine und Kumpels von Roger und Kumpels von Freunden von Christine und Freundinnen von Kumpels von Roger, am Ende kannte ich meine »Auftraggeber« kaum mehr, ich kam tapezieren, wenn jemand mich brauchte, trank sein Bier, aß seine lauwarme geholte Pizza und ließ meine Gedanken hän­gen und sich glattziehen. Man hat viele Freunde, wenn man tapezieren, Autos reparieren oder Möbel schleppen kann, und mein Schicksal ist es, dass ich mich zu allem dreien eigne. In meiner angstvollen Einsamkeit weigerte ich mich zu erkennen, dass wahre Freunde die sind, die ihr Auto in die Werkstatt geben.

Müde Schritte auf der Treppe störten plötzlich mein Gedan­kentrudeln. »Ich bin es hier unten, Opa!« rief ich vorsichts­halber, um zu vermeiden, dass er zuerst durch die Tür schoss und dann anklopfte. Er steckte den Kopf herein.

»Willste helfen, Opa?« fragte ich, aber er winkte ab, sah mir nur wortlos ein paar Minuten zu.

»Haste ’n Bier, Weber?« fragte er dann.

Ich zog ihm eine Flasche aus dem Kasten, ließ mit dem Me­terstab den Kronkorken knallen, dann arbeitete ich weiter, kümmerte mich nicht um ihn. Er zerrte sich eine Kiste vors Fenster, setzte sich drauf und glotzte mich an. Etwa nach der halben Flasche fing er an zu reden. Es wurde ein Wasserfall, sprudelnd und wirr und immer gegen etwas. Gegen Türken und Ausländer, gegen Gammler und Asoziale, gegen Russen und Sozis, gegen Langhaarige, Juden und Terroristen. Einmal versuchte ich einen Einwand, aber da ereiferte er sich derma­ßen, dass ich von weiteren Wortbeiträgen absah, nur noch meine Bahnen klebte und abschaltete.

Irgendwann fing er mit seiner Ampel an. Eine Fußgängeram­pel müsste her, unten, an der Post, quer über die Bundesstraße. Alle waren dagegen und damit direkt gegen ihn, Gemeinderat und Bürgermeister. Dabei hatte er nur das Wohl der Mensch­heit im Auge. Fast wöchentlich schrieb er Beschwerde-, Droh- und Bittbriefe an Gott und die Welt, eine Ampel musste her, und wenn es das erste und letzte war, was er jemals für die Menschheit getan hatte.

Zu diesem Zeitpunkt, zusammengekrümmt in meiner zukünf­tigen Küche auf einer Kiste hockend und meine dritte Flasche Bier saufend, wusste er noch nicht, dass er den gesamten Gemeinderat längst weichgekocht hatte, oder andersherum ge­sagt, dass seine ständigen Schreiben eigentlich das letzte Hindernis für den Bau der Ampel waren, wollte man sich doch nicht die Blöße geben, wegen eines verrückten Alten eine Fuß­gängerampel an die Bundesstraße gestellt zu haben.

Dabei musste die Ampel kommen. Ein aufstrebender Ort wie Waldweibersbach hat gar keine andere Möglichkeit, als eine solche Ampel zu bauen.

Normalerweise beginnt der steile Aufstieg einer Spessartge­meinde zur Großstadt mit dem Bau der eigenen Kirche. Gott nimmt Notiz von uns und sorgt in seiner Gnade dafür, dass wir nicht mehr zum Beten in die ungeliebte Nachbargemeinde pil­gern müssen. Dann folgt die Gründung der freiwilligen Feu­erwehr, denn wo Gott herrscht, ist auch die Versuchung des Teufels, der mit Feuer droht, nicht fern. Den dritten Schritt vollzieht die Post: Sie stellt eine Telefonzelle in die Dorfmitte und markiert damit für alle Zeiten den Mittelpunkt der Ge­meinde.

Nachdem das Göttliche, das Weltliche und die freiwillige Feuerwehr beisammen sind, kann man damit beginnen, die ungeliebten Nachbarorte einzugemeinden, ihre verhassten Na­men für immer in die Unterzeile des gelben Ortsschildes zu verbannen, sie zu tilgen aus Postleitzahlbüchern, aus Karten und aus Telefonvorwahlverzeichnissen.

Und dann, wenn all das geschafft ist, muss die Ampel her. Der rot-gelb-grün dokumentierte Anspruch der Gemeinde, jeden auf ihrem Territorium anhalten zu dürfen. Wanderer, kommst du nach Waldweibersbach, bleibe stehen, denn es ist Rot für dich.

Die Ampel war also längst durch, ihre Planung galoppierte bereits, trotz Opa Alfred, durch die Institutionen, und jeder Beteiligte tat alles, um den armen Alten darüber in Unkennt­nis zu lassen. Er hatte inzwischen oben aus seinem hinteren

Zimmer einen Aktenordner geholt, zweimal nötigte er mich von der Leiter, um mir besonders wichtige Schreiben vorzu­führen oder um ihm entziffern zu helfen, was er selbst vor einiger Zeit geschrieben hatte und nun nicht mehr lesen konn­te.

Am Ende des Nachmittags war die Küche tapeziert, der Opa hockte lallend auf der Kiste, hielt sich nur noch mühsam an seinem Ordner fest. Ich führte und zerrte ihn hoch in sein Zimmer und ließ ihn in seinen Sessel plumpsen.

»Bist ein feiner Kerl, Weber!« lallte er. »Redest zwar viel Un­sinn, aber bist im Grunde ein feiner Mensch. Kannste mir glauben, weil ich nämlich weiß, wie man Abschaum und feine Menschen auseinanderhält.« Und dann, als ich schon fast in meinem Zimmer war, rief er noch hinter mir her: »Weber! Du bist richtig, du kannst meine Luise haben.«

Ich zog die Tür hinter mir zu, wen interessierte schon Opas Segen, mich jedenfalls nicht.

Die ersten vier Tage, von Dienstag bis Freitag, konnte ich meinen Unterricht noch ganz gut improvisieren, aber in der Woche darauf würde ich unbedingt diesen fertig gepackten Karton mit der Aufschrift »Schulsachen« brauchen, der ein­fach nicht mehr ins Goggo gepasst hatte. Donnerstag Abend rief ich Christine an.

»Ist ja toll, dass du dich auch mal meldest«, sagte sie.

Ich versuchte es zu überhören, erzählte ihr vom Dorf, dem Haus, der Schule, wenig vom Opa, gar nichts von Lui. Ich spürte so etwas wie Verliebtheit in mir, Vertrautheit vielleicht eher, der Klang ihrer Stimme, ihr vertrauter Berliner Tonfall. Ich sah sie vor mir in meinem – in Luis kleinem Zimmer, gelangweiltes Gesicht im Licht der funzeligen Birne, blass blonde Hagerkeit auf meinem wippenden, quietschenden Bett, fühlte ihre weichkühle Hand in meiner, bei einem Spaziergang über die Felder oben am Wald, von wo aus ich ihr mein Dorf zeigen könnte. Plötzlich wollte ich sie hier haben. »Komm doch am Wochenende runter«, schlug ich vor, »und bring mir meinen Karton, ich zahl dir sogar den Sprit.« Ich war eher erstaunt, als sie »okay« sagte. Sie wollte Freitag gleich nach Feierabend losfahren, irgendwann in der Nacht würde sie ankommen.

»Ich bleib wach«, sagte ich, »ich warte auf dich.«

Am Freitag Mittag kam ich in Hochstimmung nach Hause, warf übermütig wie ein Schüler meine Tasche aufs Bett, es war Wochenende, noch ein paar Stunden, und Christine würde hier sein, endlich mal wieder jemand, den ich kannte, mit dem ich reden und ein Fläschchen Wein leeren konnte. Trotz aller Aufregung und aller Neuigkeiten hatten durch diese vierzehn Tage die Einsamkeit und das Heimweh ihre Brandspur gezo­gen, es tat mir gut, auf Christine zu warten. Ich begann unten die Stube zu tapezieren und ließ ihr meine Gedanken entge­gen ziehen.

 

Meine Möbel kamen mir in den Sinn, mein Schreibtisch, selbst einzelne Schubfächer mit ihrem Inhalt: der rosa Radiergummi in Nashornform oder ein neongelber Spitzer, jedes noch so kleine Ding war ein kleines Zuhause. Ich dachte an Roger, den abgedrehten Musiker aus der WG. Musiker ist gut, Roger war eigentlich der Typ Musiker, der nie Musik macht, immer nur davon redet. Jeden zweiten Abend in der Küche die Roger- Show. Jetzt läuft’s perfekt für mich, irre Sache losgetreten, ist alles noch nicht spruchreif, aber ich sag euch, Supergeschichte, ich geh jetzt voll in Produktion und Management, kein Plingeling mehr auf der Gitarre, nur noch Klingeling im Geldbeu­tel, kapiert ihr.

Aber was auch immer es war, zwei Tage später war es verges­sen, verdeckt von einer noch cooleren Supergeschichte. Tags­über war Roger weg, Kohle machen, wie er sagte, keiner von uns wusste genau, was er eigentlich trieb, Tatsache war, er kannte in der Musikszene Gott und die Welt, konnte einem alles organisieren, brachte einen überall rein, ob Rundfunk, Plattenstudio, schlichtweg überall, nur wurde man den Ein­druck nie ganz los, dass ihn jeder lieber gehen als kommen sah. Tatsache war aber auch, dass Roger ein total lieber Spinner war, jederzeit zu jedem Gefallen bereit, dass er ausgenutzt wurde und sich gerne ausnutzen ließ, denn nur so standen ihm weiterhin alle Türen offen.

»Wahrscheinlich«, hatte Christine einmal vermutet, »macht er seine Kohle einfach durch Studio putzen oder so was.« Aber ab und zu ging er sogar mit Gruppen auf Tour, anscheinend baute er Equipment auf und ab, auch wenn er selber immer so tat, als würde eine Absage seinerseits die ganze Tour zum Platzen bringen. »Ich muss los«, war einer seiner Sprüche, »ohne Ro­ger geht da gar nichts.«

Jedenfalls war er das totale Gegenteil von Wilhelm, an den ich immer nur mit einer gewissen sachlichen Kühle denken konn­te. Wille hatten wir ihn genannt, er war der Prototyp des jung-dynamischen, gutaussehenden Verwaltungssachbearbei­ters. SPD-Mitglied und stolz darauf, jeden Morgen Standardfrühstück, eineinhalb Tassen Kaffee, Müsli mit Joghurt und einem Apfel, links neben der Tasse drei Zeitungen, die er quer überflog, die vierte, die BILD, um 7:12 Uhr auf dem Klo, damit er gleich ab 7:23 Uhr, wenn er die Wohnung verließ, kompetent mitreden konnte.

Er war der einzige in der WG, der sogar morgens sein Geschirr spülte, abtrocknete und in den Schrank zurückstellte, aber alle Versuche, ihn mir als Vorbild zu nehmen, schlugen fehl. Er hatte acht Minuten Zeit bis zur U-Bahn 7:31 Uhr, zum Berli­ner Senat, kam wohl immer pünktlich dort an, wahrscheinlich gab es dafür Fleißbildchen. Wenn abends um 17:07 Uhr bei uns an der Wohnungstür nicht Willes Schlüssel zu hören war,

konnte man davon ausgehen, dass ihm etwas Schlimmes pas­siert war.

Es mag Neid mitspielen, natürlich, ich bekam Anschiss nach Anschiss, weil ich oft zu spät war, manchmal zu langsam, viel­leicht ab und zu sogar zu dumm. Ich dachte immer, Wille sei guter deutscher Standard, aber vielleicht war ich ganz normal und er außergewöhnlich. Zumindest sein Aussehen war au­ßergewöhnlich, leider außergewöhnlich gut. Typ Michelan­gelos David, krause, schwarze Haare, römisches Profil und eine Superfigur, die er sich durch täglich zweimaliges Trainie­ren – 6:30 Uhr bis 6:45 Uhr und 18:00 bis 18:15 Uhr – mittels Hanteln und Gewichten bis ins hohe Alter zu erhalten hoff­te.

Natürlich ist es Neid. Da war ja auch noch seine Karriere. Tendenz steil nach oben, zweijährliche Gehaltserhöhung, jährliche Versetzung, Kompetenzerweiterung, Beförderung. Wille wusste immer, was er wollte, vielleicht machte mich das so rasend an ihm. Er war sich immer so verdammt sicher, und jeder wünschte ihm, er möge doch mal so richtig weit nach unten plumpsen, aber er plumpste nicht, Wille fiel nur nach oben.

Offensichtlich war er kein WG-Typ. Christine war mal mit ihm zusammen gewesen und hatte ihn mit viel Mühe aus seinem gut aufgeräumten Studentenzimmer in die WG eingeschleppt. Als sie dann so eng miteinander waren, fühlte er sich zu eingeengt, die beiden unterhielten sich, wie vernünftige Menschen das nach Willes Meinung tun, und lösten die Verbindung, wollten Freunde und auch nebeneinander wohnen bleiben.

Nur manchmal, viel später, wenn Christine bei mir lag und aus Willes Zimmer verhaltenes Luststöhnen drang, spürte ich, wie ihre unvernünftige Seele sich bei mir festkrallte, während ihr vernünftiges Gesicht nicht ein kleines bisschen zuckte. Wille ordnete sein Sexualleben komplikationsfrei, brachte sich von

Empfängen, Premieren, Parteitagen und Kulturveranstaltun­gen Frauen mit, die selten bis zum Frühstück blieben, meist irgendwann in der Nacht wieder verschwanden. Zumindest seit jenem denkwürdigen Morgen, als Roger einer durchge­stylten Frau aus besseren Kreisen, die offensichtlich zum ersten Mal ein WG-Frühstück erlebte und in höchsten Tönen die tolle Atmosphäre lobte, den Satz entgegenmuffelte: »Wenn man nachts richtig durchgevögelt wird, findet man morgens jede Atmosphäre toll.«

Seitdem trennte Wille sein Leben noch mehr von dem unsrigen, er schaffte seine Frauen vor dem Frühstück ins Freie, vor allem wenn Roger mit am Tisch saß. Warum er blieb, weiß ich nicht, wahrscheinlich fand er es praktisch, dass Christine seine Blumen goss, wenn er weg war, und dass er ab und zu Roger und mir die Welt erklären durfte.

Roger und ich, wir konnten diesen Wille einfach nicht so neh­men, wie er war, und ich hatte mich oft gefragt, warum. Plötzlich wurde mir klar, dass auch dieses Thema gegessen war, es gab keinen Grund mehr, darüber nachzudenken. In ein paar Stunden würde Christine hier sein. Sie war der letzte Anker in Berlin, und ich fühlte schon lange, wie die alte Kette zu reißen begann. Aber trotz aller Probleme würde sie auch ihre wei­chen, kühlen Hände mitbringen, vielleicht eines ihrer seltenen Lachen.

Ich war weggelaufen, ausgeflogen, ausgezogen. Besprochen war wenig, geklärt war nichts. Meine Unordnung war ihr längst zu viel, meine Gier nach allem und mein mangelnder Antrieb, mir tatsächlich zu nehmen, wonach ich gierte. Ich war ihr längst zu viel, und trotzdem hatte sie bis zuletzt gehofft, ich würde in Berlin bleiben.

»Du brauchst wieder jemanden wie Wille«, hatte ich ihr in einem der vielen Streits im Urlaub entgegengetrotzt, »jeman­den ohne Ecken und Kanten, Karriere vor sich, gesichertes

Leben, modern, aufgeschlossen, berechenbar und langwei­lig.« Sie hatte keinen Einspruch erhoben.

Manchmal hatte ich in ihrem Gesicht, in ihren Augen, meine Zeit verticken sehen. Sie wollte von allem etwas, von nichts zu viel, keine Höhen und keine Tiefen, keine Auswüchse, keine Überraschungen, nichts Neues probieren, solange das Alte funktionierte, maßhalten, Zigaretten nach der Hälfte ausdrücken, vom Wein nur zwei Gläser, Diskos nur, wenn sie nicht zu laut waren, und Kartenspielen niemals um Geld. Sie verkaufte Jahr für Jahr im selben Laden Bücher, und sie fand es in Ordnung, so wie es war.

Sie war lieb und nett und von allem ein bisschen, und unsere Wege liefen parallel, nie verknotet, verschlungen, aber immer­hin parallel und recht dicht beieinander. So wäre es geblieben bis ans Ende aller Tage. Dann kam die Berufung nach Unter­franken. Es war ja nicht meine Verantwortung. Ich musste nicht »Schluss« sagen, nur drum herum reden, dass sie doch einsehen müsste, dass ich nicht umsonst sechs Jahre lang stu­diert hätte. »Vielleicht bin ich ja ganz gerne Lehrer, komm doch mit«, sagte ich, »Buchhandlungen gibt es überall«, und plötzlich hatte sie die Entscheidung. Was immer sie tat, mir war es recht, ich spürte, ich konnte leben mit ihr und ohne sie, und bei ihr war es genauso. Und auch sie entschied sich nicht. »Geh du erst mal«, sagte sie, »dann sehen wir weiter.« Natür­lich spürten wir beide, dass es das Ende war.

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