Tschêl

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©2021 Rela Reichen & Reinhold F. Schmid

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Reinhold F. Schmid, Chavezstr. 12, CH-3006 Bern

Rela Reichen, Stationsweg 5, CH-3375 Inkwil

story@storyplus.ch

www.storyplus.ch

Titelbild:

Margret Baumann

www.margretbaumann.ch


Inhaltsverzeichnis

1. Vor der Klinik

2. Regentag

3. Vor 43 Jahren

4. Adrians Heimkehr

5. Mann und Frau

6. Musik die berührt

7. Eine unangenehme Begegnung

8. Klimawandel

9. Scham und Schuld

10. Bogn Engiadina

11. Unterwegs in der neuen Heimat

12. Respekt und Liebe

13. Quer zum Mainstream

14. Roberts Vorschlag

15. Die Hütte

16. Tschêl

17. Der Flug

18. Rückkehr mit Schatten

19. Treffen auf Lipari

20. Der Zusammenbruch

21. Stefans Entscheidung

22. Fleisch am Knochen

23. Fahrt nach Müstair

24. Ein guter Journalist?

25. Vertikale Erlebnisse

26. Begegnung auf der Alp

27. Neuanfang?

28. Vor der Entscheidung

29. Sich in die Freiheit lenken

30. Klimabericht aus Hamburg

31. Gedanken aus Hamburg

32. Epilog

1. Vor der Klinik

Atemlos und unruhig erreicht sie den See. Ihr Herz schlägt bis zum Hals hinauf.

Sie versucht, still zu stehen, doch die Schuhe rutschen ab im schlammigen Seeboden und sie rudert mit den Armen in der Luft, um das Gleichgewicht zu finden.

Wie schön, wenn das Wasser landeinwärts rollt, den Weg findet zwischen den Schilfstängeln hindurch und irgendwie versickert in den groben Kieselsteinen! Das Wasser erschien ihr immer schon faszinierend. Als Kind hat sie in den Bergbächen gespielt. Allerdings hat sie bereits damals die Gefahren und die Kraft dieses Elements erfahren. Der Wanderweg oberhalb ihres Geburtsortes war mehrmals im Frühling gesperrt, weil eine Brücke weggerissen oder beschädigt worden war. Auch das Seewasser plätschert nicht jeden Tag so friedlich wie heute. Erst vorgestern haben die hohen Wellen ein Ruderboot und dicke Äste auf die Wiese vor der Klinik getragen. Sie fühlte sich in diesem Frühling manchmal ebenfalls wie ein Stück Treibholz. Herumgeschoben und herumgewirbelt. Und danach stand die Welt Kopf. Oder vielleicht eher sie – je nach Sichtweise.

Sie nickt und bekräftigt damit ihren Entschluss, nächste Woche den See zu verlassen und einen Ruheplatz in den Bergen zu suchen. Eigentlich lustig, dass ihr vorläufig neues Daheim so nahe bei ihrem Geburtsort liegt. Zurück ins Tal, zu ihren Wurzeln, das will sie sicher nicht! Nun hat Nicolina von einer einmaligen Foto-Ausstellung in einem Kulturzentrum im Engadin geschwärmt und ihr einen Besuch dringend empfohlen. Als sie entdeckt hat, dass sie gemeinsam mit dem Künstler vor vielen Jahren eine Weiterbildung absolviert hat, hat sie ihm spontan eine Mail geschrieben. So ist ein spannender Kontakt entstanden, und Andreas hat sie ermuntert, dieses Dorf kennenzulernen. Seine Ausstellung geht zwar in zwei Wochen zu Ende und er wird abreisen. Doch in den Tagen davor kann er ihr in Surain einige wichtige Menschen vorstellen und die zauberhaftesten Plätze zeigen. Danach muss sie ihr Leben neu ordnen und ausrichten. An den See, in die Klinik, wird sie nur noch ab und zu für Kurse und wenige Einzelpatienten reisen.

Sie geht zwei Schritte zurück und breitet die Arme seitwärts aus, steht da wie ein Kreuz und saugt die frische Luft ein. Und wieder aus. Und wieder ein. Das Herz schlägt ruhiger.

Plötzlich wird sie sich der Zeit bewusst und schaut auf ihre Uhr. Oh, sie muss hinein, die Therapiestunde beginnt bald! Robert wartet wohl schon, ihr erster Klient heute. Ein letzter Blick gen Norden, über den weiten See, dann dreht sie sich um und eilt über den unebenen Spazierweg der Klinik zu. Beim Gedanken an Robert macht ihr Herz einen kleinen Sprung. Die Schritte werden schneller und leichter.

An der Tür des Ateliers steht neben ihrem Vornamen immer noch der Nachname ihres Ex-Mannes, dabei liegt die Scheidung von Adrian bereits drei Wochen zurück. Nach der Therapiesitzung werde ich zum Housekeeping gehen und Daniel Beine machen, denkt Seraina.

2. Regentag

Gestern diese Hitze und heute so kühl. Der Sommer kommt trotzdem, auch wenn es sich heute nicht so anfühlt, denkt Stefan optimistisch. Hellgraue und dunkelgraue Wolkenballen verhüllen die gegenüberliegenden Bergspitzen des Unterengadins. Kaum auszumachen ist die Sonne im Westen, doch ihre Strahlen finden eine Öffnung in der wattigen Decke, sodass die karbonatreichen Sedimente an den Nordhängen in einem warmen Ocker erstrahlen.

Stefan nimmt seinen Feldstecher von den Augen und schaut in die Runde. Im Osten das Val d’Uina, dann das Val S-charl und das Val Plavna.

Das Handy vibriert, schon wieder ein Anruf. Soll es doch. Später, im Tal, ist der Empfang sowieso besser. Oder könnte es Martina sein?

Morgen werde ich 49 Jahre alt, eine krumme Zahl, kein Grund zum Feiern, ein gewöhnlicher Arbeitstag. Irgendwie mag ich Geburtstage nicht. Es ist mir ein unangenehmes Ritual. Man ist wichtig und trotzdem danach vom Tag enttäuscht.

Würde Martina anrufen wegen seines Geburtstags, diesen Tag als Vorwand nehmen für einen Neubeginn? Zweiundzwanzig Jahre sind wir zusammen gewesen, zwei Jungen haben wir gemeinsam erzogen, und nun sind wir getrennt.

Geburtstag als Neubeginn? Wie sehne ich mich nach meiner Frau! Wie konnte es zu einer solchen Trennung kommen? Trennung – dieses Wort macht mich wütend und verzweifelt. Wut wegen einer Nähe, die mir früher als Kind zu viel gewesen ist. So stark und penetrant, als müsse ich daran ersticken.

Was sagte mir kürzlich ein Freund, als wir über unser Seelenleben sprachen? Dir ist einmal jemand durch deinen Garten getrampelt. Ja, vermutlich wurden vor vielen Jahren meine Grenzen missachtet, bis ich den Kontakt mit meinen eigenen Gefühlen verloren habe.

Seinen Kollegen im Zentrum hat er von der Trennung erzählt. Nur kurz und ohne Tiefe.

Ob sie auch vom Geburtstag wissen? Möglich. Stefan ist erst ein knappes Jahr im Nationalpark angestellt und es besteht ein gutes, offenes Verhältnis. Mit einer Ausnahme. Sobald er schon nur an Carlo denkt, wird er wütend. Diese Wut ist immer noch in ihm, wie einst zu Hause. Wie bei Martina.

Die liebe Martina. Er kennt niemanden, der sie nicht mochte. Wie oft hörte er jemanden über sie sagen: „Sie ist die Ruhe in Person“.

Abends, wenn er schön längst müde im Bett lag, schrieb sie am Küchentisch noch Geburtstagsbriefe an irgendwelche Leute in der Nachbarschaft. Und er wartete im Doppelbett. Auf sie, auf ihre Nähe. Woche für Woche, Monat für Monat dauerte dieses nicht enden wollende Warten.

Damals ist diese „Warterei“ für ihn zur größten Herausforderung und zu einer brennenden Sehnsucht geworden. Eine Sehnsucht, die sich mit der Zeit in Wut verwandelte. Fünfundvierzig Minuten, eine Stunde und mehr wartete er auf seine Frau. Oft legte er dann voller Zorn die Bettdecke über die leere Betthälfte, marschierte wütend ins Besucherzimmer und schlief im Gästebett.

Bevor er talwärts geht, packt er den Feldstecher und das Handy in den Rucksack. Er trinkt einige Schlucke aus der Wasserflasche und wandert nun abwärts über nasse Blumenwiesen. Unterwegs bleibt er nochmals stehen und betrachtet seine Umgebung.

 

Heute spottet das Wetter über die übliche Beschreibung dieser Region. Von den Föhrennadeln tropft es unentwegt und leichter Nieselregen breitet sich aus über die Gipfel Richtung Osten. Ein Arvenhäher fliegt von einer Föhre zur anderen. Der Filzhut ist nass, die Brille bedeckt mit Tausend Wassertröpfchen. Regenwasser rinnt vom Hut an der Kordel hinunter zum Hals. Würde er den Hut etwas verschieben, dann bliebe der Hals trocken. Doch solches gilt es auszuhalten, will man unbemerkt bleiben.

„Der Nationalpark liegt mitten im inneralpinen Trockengebiet der Zentralalpen. Die trockenen Verhältnisse lassen sich nicht nur an den geringen jährlichen Niederschlagsmengen ablesen, sondern auch an den tiefen Werten der relativen Luftfeuchtigkeit.“ Etwa so stellt Stefan den Besuchern die einzigartige Alpenlandschaft in der Einführung vor. Heute allerdings steht er nass und unbeweglich hinter einer Gruppe von Waldkiefern und Föhren und beobachtet den Wanderweg unterhalb seines Standortes.

Da, ist das nicht wieder diese Frau? Nein, das ist keine Täuschung: dieser geschmeidige Gang, die leichten Wanderstöcke! Ihr Körper und ihr Rucksack sind heute jedoch umhüllt von einer türkisfarbenen Pelerine. Habe ich sie nicht schon zwei-, nein dreimal gesehen? Sie hat einen langen Weg vor sich, weil die Busse im Frühling noch nicht bis hier hinauffahren. Bei diesem Wetter …

Ich muss sowieso in Scuol einkaufen. Wenn ich jetzt rasch zum Auto gehe, begegne ich ihr unten an der Kreuzung und kann sie mitnehmen. Sie würde gute eineinhalb Stunden schneller im Dorf sein. Falls sie mitfahren will.

3. Vor 43 Jahren

„Es ist bald Zeit zum Abendessen, müsst ihr nun wirklich noch raus zum Fischen?“

„Ja, die Bedingungen sind gut. In zweieinhalb Stunden sind wir wieder zurück“, ruft Rolf seiner Frau zu. „Komm, Stefan!“

Nachdem der Knabe zögernd vorn im Boot Platz genommen hat, startet Rolf den Motor, und in einem weiten Schlenker verlässt die „Mahagoni“ das Ufer. In den Wellen schaukelnd gleitet das Boot um die Landzunge. Die bekannten Häuser, die Pizzeria, der Kirchturm werden kleiner. Noch erkennt Stefan das Schulhaus, wo er im Pavillon in den Kindergarten geht. Bald nähern sie sich dem bewaldeten Hügel, der steil in den See abfällt. Alles bleibt zurück, was an Zivilisation erinnert. Himmel, Wasser und der Höhenzug bilden im Dämmerlicht eine graugrüne Einheit. Stefan nimmt die rhythmischen Bewegungen des Bootes wahr, ihm wird kühler. Übelkeit kommt hoch, sodass er zum Ausgleich beginnt, die nahen Abhänge am Seerand zu fixieren.

Nach weniger als einer halben Stunde tummeln sich zwei fette, silbrige Tiere in der mit Wasser gefüllten Kühltasche. Der nächste Fisch an der Angel ist ein kleines Tier. Es windet sich in den Händen von Rolf.

„Stefan, komm, setz dich vor mich hin!“

Stefan spürt auf einmal einen festen Griff um seinen Oberkörper. Er bekommt keine Luft mehr. Nicht nur, weil er sich kaum bewegen kann, sondern weil sich das Tier in Rolfs Händen in seinem Munde hin und her bewegt. Je mehr er versucht, sich zu befreien, umso fester wird der Griff und umso wilder werden die Bewegungen.

„Onkel Rolf, lass mich los, bitte, lass mich los!“, schreit es in ihm.

Die Zeit setzt aus. Das Boot hebt und senkt sich, Wasser spritzt über die Kleider. An seinen Wangen scheuert ein offener Reißverschluss. Von seinen Lippen tropfen Wasser und Schleim. See und Himmel fließen zusammen und drehen sich. Stefan wird schwarz vor den Augen und er verliert das Bewusstsein.

Unterdessen ist es kühl geworden und das Boot gleitet über die leichten Wellen dem Hafen zu. Rolf putzt Stefan den Mund. Mit seinem Taschentuch reibt er ihm mit Seewasser das Gesicht ab. Alles stinkt nach Fisch, findet Stefan. Der kleine Fisch ist auf einmal so groß und wild geworden. Warum? Stefan schaudert und grübelt nach: Wenn ich erwachsen bin, möchte ich einen Beruf haben, bei dem ich auf Tiere aufpassen und dafür sorgen kann, dass es ihnen gut geht.

4. Adrians Heimkehr

Passkontrolle an der Grenze, das habe ich schon länger nicht mehr erlebt, überlegt Adrian. Er kramt in seiner Ledermappe, die neben ihm auf dem leeren Sitz des ICE-Zuges liegt, und sucht seinen Ausweis. Er konnte eine Bahnverbindung früher als geplant erreichen, somit wird er bald zu Hause sein. Nach einer Woche Abwesenheit freut er sich auf Seraina, auf einen romantischen Abend mit gutem Essen und ihrer Nähe.

Draußen fliegt die herbstlich bunte Landschaft vorbei. Der Mann in Uniform wirft einen Blick auf den Pass, schaut kurz in sein Gesicht, nickt unmerklich und geht weiter.

Zwölf Jahre sind sie nun schon verheiratet. Aber sind sie sich wirklich ganz nah gewesen? So nah, wie dies Seelenverwandte beschreiben? Ich bin noch immer verliebt in meine Frau, denkt er. Ist er das? Oder ist es vielmehr ihre Gestalt, die ihn entzückt? Ja, ihr Körper zieht ihn an, doch das lässt sich nicht trennen von ihrer ganzen Persönlichkeit. Ihre Lieblichkeit, diese ausgewählte Andersartigkeit, ihre Direktheit und gleichzeitig diese Distanz zu ihm. Bald wird er sie umarmen, ihre Wangen spüren und ihren Nacken streicheln.

Nicolina steht auf und streicht die Falten ihrer schicken Hose glatt.

„Ich muss mich noch auf das Meeting morgen in der Firma mit den Chinesen vorbereiten. Und in einer Stunde kommt dein Mann. Ich mache mich nun schleunigst auf den Heimweg. Hoffentlich hat es keinen Stau auf der Straße. Es dauert sowieso mindestens eineinhalb Stunden, bis ich zurück in Chur bin.“

Seraina stellt ihre Tasse ab.

„Ach Nicolina, es ist schön gewesen, keine Eile! Wir sehen uns viel zu wenig. Es ist so wertvoll, mit dir zu plaudern, Gedanken und Ideen zu teilen. Genau wie früher in der Schule! Danach fühle ich mich immer befreit und entspannt und verstanden.“

Zögernd erhebt sie sich.

„Doch du hast recht, nach dem Abendessen will sich unser Nachbar noch bei Adi melden. Und drei Telefonanrufe muss er beantworten. Ich sollte wohl beginnen, das Essen vorzubereiten. Komm, ich begleite dich zur Wohnungstüre. Gute Nacht!“

„Gute Nacht – und ähm … Guten Abend, Adrian! Schön, dich kurz zu sehen! Wir haben eben unsere Klatschrunde hinter uns, ich bin auf dem Weg nach Hause.“

Während Nicolina sich rasch verabschiedet, tritt ein müder Mann ein, beladen mit Koffer und Tasche. Seraina winkt ihrer Freundin kurz, dann blickt sie ihn erstaunt an.

„Hallo Adi, du bist heute früh zu Hause! Ich hab dich noch nicht erwartet nach der langen Fahrt.“

„Ich wollte rechtzeitig bei dir sein und freue mich auf den Abend mit dir. Ich hoffe, dass wir ungestört zusammen sein können.“

Sie schiebt den Koffer aus dem Weg und geht zur Küche.

„Na ja, Matthias von nebenan wollte dich gestern etwas fragen wegen seiner Bohrmaschine. Und ein Herr Rudolf vom Verein will deine Einschätzung zum laufenden Projekt. Ich vermute, es ist der Kassier. Dann hast du noch mehrere Anrufe auf dem Beantworter. Du kannst dich ja mal darum kümmern, ich koche in der Zwischenzeit das Abendessen. Und falls du einen Wein möchtest, hol dir ihn gleich selber aus dem Keller.“

So viel zum romantischen Abend, seufzt Adrian in Gedanken und folgt ihr.

„So eine Woche im Ausland mit neuen Leuten und unerwarteten Aufgaben ist herausfordernd. Und nun schon wieder diese Verpflichtungen, das ist mir zuwider.“

Er rollt mit den Augen. Jetzt ist sie empört:

„Du klingst so sarkastisch. Ist etwas nicht in Ordnung?“

Wieso hat Adi schlechte Laune? Er ist beleidigt wie ein Kind. Habe nicht eher ich Grund, ärgerlich zu sein, nach einer Woche allein zu Hause mit all den Arbeiten hier? Zudem hat er überhaupt nicht gefragt, wie es mir ergangen ist.

Welches Recht hat er, sauer zu sein, wenn er sich doch aufführt, als sei er erst sechzehn?

Ungeduldig und verstimmt dreht sich Adrian im Bett. Noch bevor er den Koffer ausgepackt hatte, ist Matthias gekommen. Danach dieser Mann vom Verein. Ein unsicherer Mensch, der sich mit seinen Fragen nach allen Seiten absichern wollte. Die Mitteilungen auf dem Telefonbeantworter hatte er schnell erledigt. Bald ist es 23 Uhr. Seit einer Dreiviertelstunde liegt er unter der Decke und Seraina ist immer noch im Bad. Warum wäscht sie um diese Zeit ihre Haare? Früher konnte sie es kaum erwarten, dass er von einer Geschäftsreise heimkehrte. Sie hat ihn jeweils lächelnd an der Tür erwartet und mit einem langen Kuss begrüßt. Heute jedoch hat sie ihn kaum angeschaut, war in ihrem Alltag gefangen und hat nur gemeint: „Du bist heute früh“.

Er kennt die Geräusche aus dem Badezimmer. Sie schaltet den Fön aus, legt ihn in die Schublade. Kurz die Spülung des WCs, dann löscht sie das Licht. In einem neuen Nachthemd tritt Seraina in das halbdunkle Schlafzimmer und legt sich neben Adrian ins Bett. Nichts ist versöhnlicher als Sex, geht es ihm durch den Kopf. In einer halben Stunde ist alles wieder gut. Er streckt seinen Arm aus und legt die Hand auf den Bauch seiner Frau. Mit kreisenden Bewegungen streichelt er ihren Unterleib. So beginnt er meist, und es scheint ihm ein gutes Vorspiel zu sein.

„Lass mich in Ruhe, ich bin müde!“ Seraina dreht sich weg und hängt an: „Du bist so egoistisch, du hast mich nicht einmal gefragt, wie es mir in dieser Woche ergangen ist. Das Einzige, was du willst, ist Sex.“

„Das muss ich mir nicht bieten lassen, Seraina! Du redest so verächtlich mit mir. Eine solche Ausbildungswoche ist anstrengender, als du denkst. Durch den Tag lernen und am Abend die Geselligkeit in den Restaurants. Es ist mir wichtig, bei dir zu sein, und du sprichst darüber derart respektlos.“

„Und du bist lieblos und unreif, geh, wohin du willst!“

Einen Moment lang erwägt er, seine Frau an den Schultern zu fassen, sie aufs Bett zu drücken und sie so lange zu halten, bis sie sich ihm hingibt.

Das Verlangen ist groß, doch er dreht sich um, zieht eilends im Halbdunkeln seine Kleider an und geht in sein Büro. Eine Weile ist es unruhig dort, Schubladen werden auf- und zugestoßen, Schlüssel vom Brett genommen. Dann verlässt Adrian die Wohnung.

Seraina hört die Geräusche des startenden Motors. Verwundert steht sie auf, blickt aus dem Fenster und sieht den grauen Volvo, den sie vor zwei Monaten gekauft hatten, um die nächste Straßenecke fahren. Im Büro entdeckt sie die offenen Schubladen. Alles von der Geschäftsreise hat Adrian mitgenommen, auch den Koffer, den er letzte Woche bei sich gehabt hat.

Was soll das? Hat er mich verlassen? Habe ich etwas falsch gemacht? Warum ist er so schnell verletzt? Ich bin nur müde, möchte schlafen und sicher nicht das nette Mädchen sein, die den Mann nach einer strengen Arbeitswoche tröstet! Ich verstehe Adi nicht. Wie so oft in den vergangenen Monaten. Immer wieder haben wir aneinander vorbeigeredet, einander verletzt oder in friedlichen Momenten bloß gestaunt, wie schlecht wir einander kennen. Oder habe allein ich das so empfunden? Manchmal bin ich schrecklich unsicher, ob ich auch nach so vielen Ehejahren nur meine Gedanken in ihn hineininterpretiere. Wir sprechen viel zusammen, ab und zu streiten wir und versöhnen uns hinterher. Aber ich habe es satt, dass Versöhnen in erster Linie Sex heißt und überhaupt nicht romantisch ist. Trotzdem – so wie heute hat er noch nie reagiert. Einfach davonlaufen. So kindisch. Typisch Mann!

Jetzt ist sie wütend. Und durcheinander. So ist Schlafen unmöglich. Darum zieht sie eine Wolljacke über das Nachthemd an und bindet ihre Haare zusammen. Sie braucht einen Lavendeltee, ihren Zeichenblock und die Wachsstifte, um sich zu beruhigen. Ganz große Kreise und Spiralen in Grau und Braun spiegeln ihre aufgewühlten Gedanken wider. Erst mit der Zeit kommen ein wenig Blau und Violett dazu und irgendwann leuchten ein paar orangefarbene und gelbe Punkte hervor und geben dem Bild eine neue Dimension.

Nach einer Weile verschwimmen die Farben. Seraina löscht das Licht, tappt ins Schlafzimmer und kriecht ins Bett.

An der Kreuzung steht Nicolina. Sie trägt eine bunte, vollgepackte Tasche und eine gelbe Jacke. Nach einem kurzen Blick zurück zu ihr marschiert sie weiter. Seraina will ihr folgen, doch sie kommt nicht vom Fleck. Mit jedem Schritt vorwärts scheint die Kreuzung gleichwohl in die Ferne zu rücken. Sie spürt einen Druck in der Brust, Verzweiflung erfüllt den ganzen Körper.

 

Wo bin ich? Wohin gehe ich? Warum hat Nicolina nicht gewartet?

Sie fühlt sich einsam und verlassen. Irgendwie nackt. Wo sind ihre Kleider?

Dort kommen Menschen, sie will sich verstecken, denn sie schämt sich. Aber sie kann sich nicht vom Fleck bewegen.

Also denkt sie richtig fest, sie sei zu Hause und versteckt sich auf dem Balkon. Tatsächlich steht sie auf einmal hinter ihrem Haus. Keine Ahnung, ob sie jetzt Kleider trägt. Es ist alles grau. Sie vergisst zu atmen.

Der Wecker schrillt und sie erwacht keuchend. Die blutleere Hand schmerzt, weil sie darauf gelegen hat. Sie bewegt die Finger, bis sie endlich den furchtbaren Wecker abstellen kann. Dann atmet sie tief durch. Nun ist Adi bestimmt auch wach und hat schlechte Laune.

Adi. In diesem Moment erinnert sie sich an gestern Nacht. Ihr Mann ist weggefahren. Wohin? Warum? Sie schüttelt energisch den Kopf. Jetzt muss sie aufstehen, heute Morgen hat sie Klienten, die auf sie warten. Oh, heute kommt Robert um zehn Uhr! Normalerweise ist sie mit ihren Patienten nicht per Du. Doch Robert ist ihr Cousin. Nach einer schwierigen persönlichen Zeit und dem Verlust der Arbeitsstelle hat er vor einem Jahr bei ihr angefragt, ob er zu ihr in die Kunsttherapie kommen dürfe. Sie hatten sich vorher mindestens zehn Jahre nicht gesehen. Daher war sie gespannt gewesen, ihn zu treffen, und motiviert, ihm auf seinem Lebensweg ein wenig zu helfen. Mittlerweile ist sie überrascht, welch tolle Freundschaft zwischen ihnen entstanden ist. Die Stunden mit ihm sind für sie wertvoll. Und nach dieser Nacht hat sie den Eindruck, dass wohl eher sie eine Therapiestunde benötigt.