Buch lesen: «Mauerspechte»

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Reinhard Griebner

Mauerspechte


Reinhard Griebner

Reinhard Griebner wurde 1952 in Görlitz geboren. Nach seinem Studium der Kulturwissenschaften/​Journalistik in Leipzig arbeitete er zunächst als Redakteur beim Fernsehen der DDR. Zwischen 1990 und 2010 war er beim Deutschen Fernsehfunk, beim ORB und beim Rundfunk Berlin-Brandenburg in verschiedenen Positionen tätig. 2012 erhielt Reinhard Griebner das Kurd-Laßwitz-Stipendium der Stadt Gotha. Schon zwischen 1983 und 1990 veröffentlichte er unter anderem Kinderbücher, Erzählungen, Hörspiele und Filme. Seit 2010 arbeitet er als freischaffender Autor. Reinhard Griebner lebt und arbeitet in Berlin.

Inhalt

Cover

Titel

Über den Autor

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Erläuterungen

Liebe Leserin, lieber Leser!

Weitere Bücher

Impressum

Erstes Kapitel

Ein Tag zum Abgewöhnen, dachte Willem, als er auf dem rotweißen Geländer, das den Gehsteig vom Fahrdamm trennte, Quartier bezog. Die Wolken drückten regenschwer auf die vergammelten Dächer, die Antenne des Fernsehturms verlor sich im Milchglashimmel, der Novemberwind trudelte eine zerbeulte Blechdose an der Bordsteinkante entlang.

Was immer das Wetter an diesem Nachmittag zu bieten haben würde, unter den Stahlträgern der Hochbahn saß er wenigstens im Trockenen, nicht umsonst wurde die Konstruktion von den Berlinern ‚Magistratsschirm‘ genannt. In etwa fünfzehn Minuten müsste die Briefbotin hier aufkreuzen, sofern die Posttasche normal gefüllt war und sich Mutter Marotzke nicht wieder bei irgendwelchen Nachbarn verschwatzt hatte.

Willem zottelte den Rollkragen seines quietschgrünen Pullovers über das Kinn und fingerte in den ausgebeulten Jeans nach seinen Handschuhen. Vergeblich! Auch im Anorak waren Omas Selbstgestrickte unauffindbar, in der Innentasche entdeckte er allerdings die Sonnenbrille, die ihm Pauline im Sommer geschenkt hatte. „Das ist ’ne Zauberbrille!“, hatte sie behauptet und dazu ihr glucksendes Paulalachen gelacht. „Wenn du sie aufsetzt und die Augen zumachst und dann wieder hinguckst, darfst du das Erste, was du siehst, behalten.“ Willem hatte das Nasenfahrrad sofort ausprobiert, die Augen geschlossen, sie nur drei hundertstel Sekunden später wieder aufgerissen, all seinen Mut zusammengekratzt und Paula einen flüchtigen Kuss auf die Lippen gedrückt, Paula Paul, der ollen Spinnbraut! Von diesem Moment an: Pauline zum Behalten.

An dem Tag hatte er noch nicht gewusst, dass Familie Paul nach Ungarn fahren würde, ohne das Rückfahrticket nach Berlin in Anspruch zu nehmen. Von wegen Ferien am Balaton! Damals im August war die Welt noch in Ordnung. Paulas Schnute hatte so gut nach Karamell geschmeckt, dass ihm Sterne vor den Pupillen tanzten und er im Schutz der verspiegelten Sonnengläser die Augen abermals fest zusammenkneifen musste. Als er sie wieder aufgeklappt hatte, war Pauline schon im Treppenhaus verschwunden. Die Tür fiel krachend ins Schloss und aus dem offenen Flurfenster hallte der Satz: „Halt die Ohren steif, Kaiser Willem. Ich schreib dir ’ne bunte Karte!“

Mit klammen Fingern fädelte Willem die Brillenbügel über die Ohren, stützte den Kopf in die Hände und fing an, sich selbst ein Märchen zu erzählen – das Märchen von Paula und der Wunderbrille. Es war einmal eine Himmelfahrtsnase, umzingelt von dreizehn Sommersprossen, die gehörten Pauline Paul, dem schönsten Mädchen der Welt.

Als Willem den Kopf hob, blickte er in das Gesicht von Bulle Baumann. Schreck lass nach! Der hatte ihm gerade noch gefehlt.

„Tag, Willi.“

„Guten Tag, Herr Baumann.“

„Und, ist das Leben noch frisch?“, wollte der Polizist wissen, während er im Rhythmus seiner Rede elastisch auf den Zehenspitzen wippte. „Alles unter Kontrolle?“

„Wie bitte?“ Willem konnte sich nicht erinnern, vom ABVer, wie die Leute aus dem Kiez den Abschnittsbevollmächtigten verkürzt nannten, je mit einem kumpeligen Wort bedacht worden zu sein. Er beförderte Paulas Sonnenbrille auf den Saum seiner Wollmütze und glitt in Erwartung der üblichen Bulle-Baumann-Standpauke: „Nu mal hoch den Hintern, hopp, hopp! Ein Absperrgitter ist keine Parkbank!“, von dem rostigen Gestänge.

„Ob alles in Ordnung ist, habe ich gefragt“, wiederholte der Polizist leutselig und prüfte, indem er den Daumen an die Nase legte und über die in Reih und Glied ausgerichteten Finger den Schirm anpeilte, den Sitz seiner Dienstmütze. Hammer, Zirkel und Ährenkranz standen für jedermann sichtbar – außer freilich für ihn selbst – exakt über dem Mittelfinger. „Bei dem Elternhaus darf man wohl eine korrekte Meldung erwarten, oder?!“ Misstrauisch beäugte Baumann Willems bebrillte Kopfbedeckung. „’nen Sonnenstich wirst du dir ja nicht eingefangen haben, bei den Temperaturen.“

„Nein, nein, alles tutti paletti“, beeilte sich Willem zu versichern, obgleich ihm die Befragung gehörig gegen den Strich ging. „Ich bin fit wie ’n Turnschuh.“

„Sagt man heute so?“

„Na logo.“

„Dann ist ja gut“, erwiderte Bulle Baumann und nieste seiner Feststellung geräuschvoll hinterdrein.

„Gesundheit!“

„Danke.“ Selbstvergessen schniefte der Polizist in ein Papiertaschentuch und blickte dem Jungen, nachdem er seine Nase trocken gerieben hatte, prüfend in die Augen. „Wieso bist du eigentlich nicht in der Schule?“

„Wie bitte?“

„Hast du’s mit den Ohren?“

Gerade noch rechtzeitig fiel Willem die passende Antwort ein: „Wir haben Ausfall.“ Er schnitt seine berühmte Was-kann-ich-denn-dafür?-Grimasse, um die ihn die halbe Klasse beneidete, und brachte damit nicht nur Paulas Sonnenbrille so gefühlvoll in Bewegung, dass sie von ihrem Parkplatz passgerecht auf die Nase sackte, sondern auch den Abschnittsbevollmächtigten aus dem Konzept. „Das Jahr 89 hat es in sich, sagt mein Vater.“

„Wo er recht hat, hat er recht.“

„Dieser nasskalte Herbst! Richtiges Rheumawetter. Jeder zweite Lehrer ist krank“, schwätzelte Willem tapfer drauflos, verkniff sich jedoch den Zusatz, den er Anfang der Woche in der Schlange beim Brötchenholen aufgeschnappt hatte. „Und wer nicht krank ist, ist im Westen. Weiß doch jeder: Alles, was Ossi heißt und Beine hat, sackt das Begrüßungsgeld ein und geht am Ku’damm spazieren.“

„Dann solltest du die Zeit sinnvoll verbringen, statt hier auf der Straße herumzulungern“, tadelte der Polizist. „Setz dich auf den Hosenboden und steck die Nase ins Buch!“

Willem stöhnte gequält auf. Er kannte die Fortsetzung. Selbst wenn Bulle Baumann in Verhörlaune war, pflegte er an dieser Stelle seinen eigenen Werdegang ins Gespräch zu bringen: „Vom Maurer zum Volkspolizisten! Und alles hart erarbeitet! Abendkurse, Weiterbildung, Lehrgänge. Frag deinen Vater, wir haben eine Zeit lang gemeinsam die Schulbank gedrückt. Von nischt kommt nischt.“ Noch bevor der Schutzmann zum Finale ansetzen konnte, fuhr ihm Willem in die Parade: „Lassen Sie mich raten. – Lernen, lernen und nochmals lernen?“

„Sehr gut!“

„Lehrjahre sind keine Herrenjahre.“

„Genau!“, bekräftigte Bulle Baumann erfreut und tätschelte Willem hingebungsvoll jene Stelle, an der er unter der Wollmütze einen Scheitel vermutete. „Nichts für ungut, Willi, kannst demnächst mal wieder bei mir vorbeikommen und dir Altstoffe holen. Hat sich wieder allerhand angesammelt.“

„Flaschen, Lumpen, Papier?“

„Lumpen nicht! Dafür Pullen und jede Menge Zeitungen. Dürfte einiges drin sein für die Klassenkasse.“

„Nicht schlecht“, entgegnete Willem interessiert, wobei er allerdings mehr an sein magersüchtiges Sparschwein als an die Klassenkasse dachte. „Mein Portemonnaie muss wohl aus Zwiebelleder genäht sein“, pflegte seine Großmutter Grete an der Stelle zu sagen. „Kaum guckst du hinein, gleich fängst du an zu heulen.“

Während Willem Omas Spruch nachgrinste, röhrten plötzlich aus heiterem Himmel Autohupen. Im nächsten Moment vermengten sich Motorenlärm, Bremsenquietschen, Fußgetrappel und Wortfetzen.

„Mich laust der Affe!“

„Hier geblieben!“

Ohne sich um Bulle Baumanns Ordnungsruf zu kümmern, schnellte Willem mit einem Satz vom Gehsteig zurück auf das Geländer, schraubte sich kerzengerade in die Höhe, riss die Sonnenbrille von der Nase und peilte die Lage.

„Kannst du was sehen?“

„Mann, Mann, Mann!“

Aus Pankow kommend, näherte sich ein Demonstrationszug der Kreuzung Dimitroffstraße, Ecke Schönhauser. Etliche Autos, die noch bei Grün angefahren waren, standen nun mitten auf der Straße und damit sowohl den von rechts und links kommenden Fahrzeugen als auch den Kundgebungsteilnehmern im Weg. Zu allem Überfluss rückte aus der Pappelallee eine Straßenbahn nach.

Im Nu blockierte jeder jeden. Einige Autofahrer hatten aufgegeben und den Motor abgeschaltet, andere versuchten, sich im Schritttempo einen Weg durch die Demonstranten zu bahnen. Das allerdings kam bei denen nicht besonders gut an. Hin und wieder pochte einer von ihnen mit der flachen Hand auf ein Wagendach, was die genervten Chauffeure wiederum zu Flüchen und panischem Tuten veranlasste.

„Das gibt’s doch nicht!“ Der ABV hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und sah dem chaotischen Treiben mit weit aufgesperrtem Mund und versteinertem Blick zu.

Willem rieb sich entzückt die Hände, endlich einmal was los! „Schluss mit der Verarsche, uns gehört die Straße!“, riefen etliche Bürger, während sie schwarz-rot-goldene Fahnen schwenkten, aus denen das Staatsemblem herausgeschnitten war.

„Keine Krawalle – Freiheit für alle!“, tönte es ihnen aus einem zweiten Marschblock entgegen.

Von einem handgemalten Transparent, das mit roten und schwarzen Bändchen geschmückt war, blickte ein bärtiger Mann unter einer mit fünfzackigem Stern bestückten Baskenmütze hervor. Mehrere Sympathisanten, deren Bartgesichter dem Porträtierten zum Verwechseln ähnlich sahen, klatschten rhythmisch in die Hände und lärmten: „Che Guevara, Ho Chi Minh – nur wenn du kämpfst, macht’s Leben Sinn!“

Obgleich Wind und Wetter die Demonstranten ziemlich gebeutelt hatten, schlenderten sie entspannt Richtung Alexanderplatz. Mit den verschiedenen Gruppen wechselten die Losungen und Lieder. Die einen sangen: „Völker, hört die Signale“, andere zürnten im Chor: „Die Partei, die hat’s vergeigt, wie’s funktioniert, wird jetzt gezeigt!“

Willem bemerkte, dass Bulle Baumann aus seiner Schockstarre erwachte, und er ahnte, es wird Ärger geben. Tatsächlich zog der Polizist eine Pfeife aus der Brusttasche, trillerte ein Angriffssignal und warf seine einhundertzwanzig Kilo Lebendgewicht in das Getümmel. Allerdings waren es zu Willems Überraschung nicht die Kundgebungsteilnehmer, die das Missfallen des Ordnungshüters erregten, sondern die zur Bewegungsunfähigkeit verurteilten Autofahrer.

„Sie da in der Pappe, blockieren Sie nicht die Kreuzung!“, raunzte der Abschnittsbevollmächtigte den Fahrer des nächstbesten Trabant an und versuchte diesen, indem er wie wild mit den Armen ruderte, aus dem Stau zu lotsen. „Nun geben Sie schon Gummi!“ Als niemand seinem Treiben Beachtung schenkte, wandte er sich Hilfe suchend an eine junge Frau, die eine Binde mit der Aufschrift ‚Ordner‘ am Ärmel trug: „Solche Anfänger sollte man sofort aus dem Verkehr ziehen, nicht wahr? Aber wollen wir mal Gnade vor Recht ergehen lassen. Wenn mir Ihre Leute ein bisschen zur Hand gehen, kriegen wir die Sache in den Griff.“

War das noch Bulle Baumann? Derselbe Baumann, der vor einem halben Jahr wie irre am Rad gedreht hatte, als er am Montagmorgen neben seiner Haustür in der Kastanienallee die Inschrift vorfand: „Honecker weg! Gorbi hilf!“ Ungelenk mit weißer Schulkreide an die pockennarbige Fassade gekrakelt. Nicht nur, dass der ABV mindestens hundert Mann Verstärkung angefordert hatte, lauter junge Männer in Present-20-Anzügen, die nervös durch die Gegend gewuselt waren, zunächst alles fotografiert, dann die Anwohner befragt und schließlich die Schrift mit Seifenlauge weggespült hatten. Zu allem Überfluss war Bulle Baumann auf den Einfall gekommen, das Tor zum Hof zu zusperren, in der Hoffnung, dem Attentäter damit den Fluchtweg abzuschneiden. Vier Nachbarn, darunter Baumanns Frau Mathilde, die eben ihr Fahrrad aus dem Keller holen wollte, waren an diesem Tag zu spät zur Arbeit gekommen.

„Sie machen mit diesen Leuten gemeinsame Sache, Genosse Wachtmeister?!“, empörte sich ein Lada-Fahrer, den Bulle Baumann unterdessen, assistiert von mehreren Fußgängern, von der Fahrbahn weg auf den Bürgersteig geschoben hatte. „Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt!“

„Das nennt man Sicherheitspartnerschaft!“, dozierte Baumann und fuchtelte wichtigtuerisch mit dem Zeigefinger.

„Der Kollege Schutzmann weiß eben, wo’s langgeht“, mischte sich ein zopfbärtiger Bürgerrechtler ins Gespräch, der gerade noch durch ein Megafon zu den Leuten gesprochen und sie zur Friedfertigkeit ermahnt hatte. Und die Frau mit der Ordner-Binde drückte dem verdutzten Polizisten einen Schmatz auf die Wange und eine brennende Kerze in die Hand.



„Alles tutti paletti!“, rief Bulle Baumann erhitzt. „Schwerter zu Pflugscharen!“ Er riss dem Bartmann die Flüstertüte aus der Hand. „Frieden schaffen ohne Waffen!“ Und bollerte unter dem Beifall der Menge mehrere Male ins Mikrofon: „Wir sind das Volk!“

Willem hatte genug gesehen.

Außerdem war soeben Briefbotin Marotzke in die Eberswalder Straße eingebogen und hatte sich mit ihrem Generalschlüssel bereits Zugang zum Nachbarhaus verschafft. Gerade wollte Willem die Verfolgung aufnehmen, da spürte er Baumanns eiserne Rechte am Oberarm.

„Also wann?“

„Wann was?“, fragte Willem und starrte die Altarkerze an, von deren Schaft jeden Moment eine gehörige Portion Wachs in Bulle Baumanns Faust zu tropfen drohte.

„Wann holst du die Altstoffe ab?“

Mit einer findigen Körperdrehung machte sich Willem aus dem Griff frei. „Noch in dieser Woche, versprochen!“

„Ich sag meiner Frau, dass sie alles zurechtstellen soll.“ Dann folgte ein saftiger Fluch, der zu gleichen Teilen dem lecken Wachslicht und dessen Vorbesitzerin galt. Da er bemerkte, dass ihm alle Blicke zuflogen, machte Baumann gute Miene zum bösen Spiel, winkte den Vorüberziehenden mit dem Kerzenstummel unbeholfen zu, behauptete „Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“, und quälte sich ein linkisches Lächeln ab.

Das aber sah und hörte Willem nicht mehr, denn er hatte, noch bevor die Postbotin die Tür zu seinem Aufgang aufsperren konnte, zu einem entschlossenen Spurt angesetzt, der ihm ihr gegenüber tatsächlich ein paar Schritte Vorsprung verschaffte.

„Sport frei!“, kommentierte Hedwig Marotzke gutmütig. „Du rennst ja, als wäre der Leibhaftige hinter dir her.“

„Haben Sie Post für Kaiser?“

Prüfend ließ die Briefträgerin den Papierstapel durch die Finger gleiten.

„Den Sammler-Express und das Rätselheft.“ Ohne seine Enttäuschung zu bemerken, drückte sie ihm die Journale in die Hand. „Die Fernsehzeitung kommt erst morgen.“

„Sonst nichts?“

„Nein, nichts“, versicherte sie, nachdem sie die Karten und Kuverts noch einmal überflogen hatte. „Wartest du auf etwas Bestimmtes?“

„Ich habe bei ’nem Preisausschreiben mitgemacht“, log Willem und schob sich an der Postbotin vorbei ins Treppenhaus. „Der Hauptgewinn ist eine Reise nach Ungarn, mit allem Pipapo.“

„So?“ Misstrauisch blinzelte die Briefträgerin ihn an. „Willst mich wohl auf den Arm nehmen?“

„Dafür sind Sie mir zu schwer.“

„Lausekerl!“

„Aber wenn ich gewinne, nehme ich Sie mit.“

„Nein, lass mal gut sein, Willem, Verreisen ist nicht mein Ding“, erwiderte Mutter Marotzke ernst, während sie mit atemberaubender Geschwindigkeit Karten und Umschläge in die Schlitze der schrottreifen Briefkästen steckte. „Ich hab den Käfigkoller. War wohl zu lange eingemauert. Jetzt gilt, was mein Erwin selig am Abend vor dem zweiten Schlaganfall in sein Zierkissen stickte: Bleibe im Lande und nähre dich redlich!“

„Sagt mein Vater auch immer“, bekräftigte Willem.

„Du solltest bei Gelegenheit einmal nachsehen“, augenzwinkernd klappte die Briefbotin ihre Posttasche zu, „ob deine Schule noch steht.“ Und setzte im Abgehen beiläufig eins drauf. „Jedenfalls musst du mir nicht dreimal die Woche vor der Haustür auflauern. Wenn Paula Paul dir wirklich schreibt, schmuggele ich den Brief schon ungesehen an deinen Eltern vorbei.“

Willem war so verdattert, dass er versehentlich ein Stockwerk zu hoch stiefelte und den Fehler erst bemerkte, als sein Schlüssel nicht ins Schloss passen wollte. Gott sei Dank war Spritti Karsuppke, Kaisers Obermieter aus der vierten Etage, ein wenig späthörig und hatte nichts bemerkt. Und seinen krummbeinigen Dackel Lumpi hatte er wohl weggesperrt oder wieder einmal in der Kneipe vergessen.

In seinem Zimmer angekommen, überkam Willem plötzlich das Gefühl, dass ihm die Wohnung an diesem Nachmittag zu eng sein würde, beziehungsweise, wie Großmutter Margarete es auszudrücken pflegte, die Decke auf den Kopf fallen könnte. Also tapste er auf seiner eigenen Schlammspur zurück in den Korridor, schnappte sich die Handschuhe aus der Flurgarderobe, flitzte die Treppe hinunter und stiefelte ziellos in den diesigen Nachmittag.

Zweites Kapitel

Am Grenzübergang Bernauer Straße herrschte geschäftiges Treiben. Obwohl die Abfertigung zügig vonstattenging, standen die Leute in der Warteschlange beiderseits des Postenhäuschens auf Hautkontakt. Ankömmlinge und Ausreisende verpassten einander im Vorübergehen den einen oder anderen Rippenstoß. Aber kaum jemand nahm es übel, die meisten waren ohnehin seit Jahrzehnten darin geübt, sich im Gedrängel zu behaupten. Nur wenn ein farbenfroher Dederonbeutel oder eine prall gefüllte Henkeltüte am Nebenmann hängen blieb, gab es vereinzelt Unmutsbekundungen. „Sie, Mann, nehmen Sie die Pfoten aus mein’ Einjekauftes. Wenn Sie Appetit auf Bananen haben, gehen Sie bei Aldi, da gibt’s die heute für beinahe umsonst.“

Willem spielte flüchtig mit dem Gedanken, einen Abstecher in den Wedding zu starten. Angesichts des Gewusels standen die Chancen gut, sich im Schutz der Wartegemeinschaft – eingeklemmt zwischen Leibern, Reisetaschen, Rucksäcken und jenen zweirädrigen, mit Markisenstoff überzogenen Bollerwägelchen, die der Volksmund Rentner-Porsche nannte – durch die Kontrolle zu mogeln. Wenn die Sache allerdings schiefging, setzte es in der Wachstube eine Standpauke. Und das fiel noch in die Rubrik: Mit einem blauen Auge davongekommen!

Als sein Klassenkamerad Mike Legenstein am vergangenen Donnerstag am Potsdamer Platz beim, wie die Posten das nannten, „Versuch des illegalen Grenzübertritts“ hochgezogen worden war, hatte ihm der diensthabende Offizier nicht nur ein Ohr abgekaut, sondern obendrein die Eltern und die Schule benachrichtigt. Warum sollte Willem es darauf ankommen lassen, hatte er doch unlängst in Nähe des Passierpunkts Chausseestraße ein Loch in der Mauer entdeckt, wo ein Leichtgewicht wie er jederzeit unbehelligt in den Westen krabbeln konnte.

Die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, Paulas Sonnenbrille im Gesicht, stiefelte er an der Betonwand entlang. Noch vor drei Wochen wäre niemand so dicht an den antifaschistischen Schutzwall, wie sein Vater das Bauwerk nicht sehr häufig, aber in vollem Ernst nannte, herangekommen. Heute machte keiner der Grenzer Anstalten, Willem in den Weg zu treten. Die Uniformierten hielten Abstand und trampelten, um der kriechenden Kälte zu widerstehen, auf der Stelle, nuckelten an Zigaretten und hielten ihre Hunde an der kurzen Leine.

Von einer Besucherplattform auf der anderen Seite äugten ältere Menschen, bekleidet mit Lodenmänteln und Trachtenjacken, über die Mauerkante hinweg in den Osten. Als Willem in ihr Blickfeld geriet, rief ein Mann mit Gamsbarthut: „Da ist einer!“, und pellte ein Fernglas aus einem ledernen Futteral. Neben ihm winkte eine Frau aufgeregt mit ihrem Schal. „Gott, wie süß! Ein richtiger kleiner Zoni! Hat nicht jemand ein Überraschungsei dabei?“ Und ehe sich Willem versah, flogen ihm Blitzlichter und eine Handvoll Schokoriegel um die Ohren. „Füttern verboten, ihr Blödmänner!“, schimpfte er und zeigte den Gaffern, ohne deren Almosen die geringste Beachtung zu schenken, den Stinkefinger.

„Undank ist der Welt Lohn!“, beschwerte sich eine faltengesichtige Dame beim Reiseleiter. Der zuckte ratlos die Schultern. „So sind sie eben, unsere Landsleute von nebenan.“

„Na, das kann ja noch heiter werden!“

Eilig wechselte der Fremdenführer das Thema: „Wenn die Herrschaften nun bitte wieder im Bus Platz nehmen wollen. Unsere nächste Station ist die Zitadelle Spandau.“

Beleidigt drehte die Gesellschaft ab.

Willem hatte die Nase ebenfalls voll. Noch einen kurzen Abstecher durch die Seitenstraßen, nahm er sich vor, dann trödele ich zurück zur Schönhauser, fahre mit der U-Bahn zum Alex und hole Mama von der Arbeit ab. Und vorher schaue ich noch mal nach, ob die Demonstranten heil im Zentrum angekommen sind.

In dem Moment drangen eigentümliche Klopfzeichen an sein Ohr. Das Geräusch erinnerte ihn an das Hämmern jenes Bildhauers, den seine Klasse in der Woche vor den Osterferien in Altlandsberg besucht hatte. Sie waren dabei gewesen, als der Meister an einem Porträt herumgemeißelt hatte, das, wie er ihnen geduldig erklärte, unlängst von einer Kirchengemeinde im Oderbruch in Auftrag gegeben worden war. Auch auf mehrmaliges Nachfragen ihrer Klassenlehrerin Fräulein Sturmvogel war der Künstler dabei geblieben, dass es sich um das Angesicht der Jungfrau Maria und nicht um die Revolutionärin Rosa Luxemburg handelte.

Willem hob den Kopf und erspähte über sich einen Spalt in der Mauer, etwa so groß, dass seine Schulmappe hindurchgepasst hätte. Dahinter das geheimnisvolle Klickern: Tick, tick, tack – Metall auf Metall auf Stein. Er taxierte den Abstand der unteren Kante zum Erdboden. Nicht ganz einfach, dürfte aber zu machen sein! Immerhin hatte er bei der letzten Kreisspartakiade die Silbermedaille im Weitsprung und die Bronzene im Hochsprung gewonnen.

Mehrere Trainer hatten sich seither bei seinen Eltern zum Hausbesuch angesagt und versucht, den Kaisers die Vorzüge der Sportschule schmackhaft zu machen. Allerdings nie so überzeugend, dass sich zum „Warum nicht?“ seines Vaters das „Einverstanden!“ der Mutter gesellte. Sie hatte im Westradio, das sie hin und wieder anknipste, etwas von Pillen und Tropfen aufgeschnappt, die den jungen Menschen angeblich in den Leistungszentren verabreicht würden. Niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, das den drahtigen Herren im Trainingsanzug gegenüber anzusprechen, allerdings hatten die Gerüchte ihr Misstrauen angestachelt. Und wenn das geschah, war es so gut wie unmöglich, Cornelia Kaiser nur den Hauch einer Zusage zu entlocken.

„Dann wollen wir mal!“ Willem zog seine Handschuhe straff und kniff die Augen zusammen. „Auf die Plätze! Fertig! Los!“ Ein kurzer Anlauf, schon katapultierte er sich katzengleich in die Höhe. Beim Abspringen riss er die Arme nach oben, klatschte mit dem Körper gegen die Wand, kriegte mit der rechten Hand tat- sächlich die Kante des ausgefransten Mauerspalts zu fassen, zog die linke nach, klammerte sich am Beton fest und improvisierte unter Einsatz aller Reserven einen Klimmzug.

„Na also, geht doch!“ Millimeterweise zog er sich nach oben. Schon war der Spalt auf Augen- höhe, da schlug auf der anderen Seite Stahl so heftig auf Stahl, dass die Funken sprühten. Im nächsten Augenblick pfiff ein länglicher Gegenstand haarscharf an Willems Ohr vorbei.


Willem war so erschrocken, dass er reflexartig losließ. Den Rest erledigte die Schwerkraft. Beim Landen versuchte er, im Stil eines Fallschirmjägers abzurollen. Die Übung misslang, ein heftiger Aufprall, sein Hinterkopf schlug auf etwas Hartes. Paulas Brille flog im hohen Bogen davon.

„Scheiße!“

Benommen rappelte sich Willem auf, zupfte an seinen Fingern, schlenkerte mit den Beinen, zum Glück war alles intakt. Allerdings wuchs an seinem Hinterkopf eine Beule, die, durfte er seinem Gefühl vertrauen, binnen Sekunden mit der Größe eines aufgeblasenen Luftballons gleichgezogen haben sollte. Er bückte sich nach der Sonnenbrille, glücklicherweise hatte das Spiegelglas den Sturz heil überstanden. Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch ließ Willem Paulas Geschenk in der Anoraktasche verschwinden und klaubte jenen Gegenstand von der Erde auf, an dem er sich allem Anschein nach beim Absturz die Brüsche eingehandelt hatte – einen Meißel, dessen Schaft, von schweren Hammerschlägen getroffen, die Form einer Pilzkappe angenommen hatte. Die Schneide war so schartig und zerschunden, dass sie für seinen prüfenden Daumen nicht die geringste Gefahr darstellte.

„Mann, Mann, Mann!“ Willem rieb sich die Beule, ließ den Blick zwischen Mauerdurchbruch und dem Fundstück schweifen. Blitzartig wurde ihm bewusst, dass er jenes Geschoss in der Hand hielt, das seinen Kopf nur um Millimeter verfehlt hatte. „Ich glaub, mein Eisbär rodelt!“, stammelte er. „Das hätte verdammt ins Auge gehen können.“ Er rammte wutschnaubend seinen Fuß gegen die Mauer und brüllte in den dunstigen Himmel: „Welcher Idiot schmeißt denn hier mit Werkzeug?!“

Im Loch über Willems Landeplatz erschien das Gesicht eines Jungen, auf dessen Kopf eine mit den Buchstaben „M“ und „P“ dekorierte Baseballkappe saß. Da er eine durch die Atemluft beschlagene, von Nässe und Schmutz verkleisterte Taucherbrille trug, brauchte er einige Zeit, um die Lage zu peilen und Blickkontakt zu Willem herzustellen.

Der starrte sein Gegenüber entgeistert an.

„Was glotzt du, Alter?“, fragte das Mauergesicht mit fremdländischem Akzent.

„Das geht dich gar nichts an.“

„Werd ja nicht pampig!“

„Ist bei euch da drüben Karneval?“, erkundigte sich Willem scheinheilig.

„Was ist das denn für eine bescheuerte Frage?“, kam es aus dem Loch zurück.

„Oder bist du auf dem Weg ins Schwimmbad?“

„Verarschen kann ich mich alleine.“

„Dann tu’s doch!“

Der Junge mit der Taucherbrille knirschte verbissen mit den Zähnen und schien nachzudenken. Nachdem er das lange genug getan hatte, entschloss er sich, Willem in die Abteilung Doofi einzugliedern und ihm ein wenig Entwicklungshilfe zuteilwerden zu lassen.

„Denkst du dämliches Ostbrot, ich will mir beim Steineklopfen einen Splitter ins Auge hämmern? Taucherbrille ist nicht optimal, aber ein guter Notbehelf. Eine echte Schutzmaske kann sich Anton Warkentin nicht leisten.“

„Anton – wie bitte?“

Aus dem Hintergrund vernahm Willem ein Stimmchen, das, dem hellen Klang nach zu urteilen, zu einem Dreikäsehoch im gehobenen Vorschulalter gehörte. „Toni, mit wem redest du?“

„Geht dich nichts an, Hosenscheißer“, erwiderte der Taucher barsch, während er die Gummibänder lockerte, die Brille über sein Kinn zerrte und den Schirm des Basecaps nackenwärts drehte.

„Das sage ich Mamotschka“, fiepte der Kleine eingeschnappt, „dass du Hosenscheißer zu Bruder Boris gesagt hast.“

„Ihr Russenlümmel geht mir auf den Tüffel“, meldete sich zu Willems Überraschung eine dritte Stimme zu Wort, die ein wenig kurzatmig daherkam und zweifelsfrei zu einem Mädchen gehörte. „Vertragt euch gefälligst! Und macht keinen Stress.“

„Russenlümmel will ich nicht gehört haben!“, wetterte der große Warkentin.

„Ich auch nicht!“, äffte ihn sein piepsiges Anhängsel nach.

Das Mädchen ging nicht auf die Widerrede der beiden ein, sondern presste eine Bemerkung hervor, die an der Mauer abprallte. Den Nachsatz, der mehr gekeucht als gesprochen war, verstand Willem schon, konnte ihn allerdings nicht einordnen: „Und jetzt drück mal auf die Tube, Partner, ich krieg langsam weiche Knie.“

„Toscha soll sagen, was er sieht“, forderte der unsichtbare Wicht, der sich vorhin als Boris zu erkennen gegeben hatte.

„Da steht so ein kotzgrüner Knallfrosch“, erklärte sein Bruder missgelaunt, wobei er augenscheinlich auf Willems Pullover anspielte. Allerdings hatte er mit dem Kleinen noch eine Rechnung offen. „Damit das klar ist, Hosenscheißer, wer petzt, fliegt aus dem Team, capito? Petzen ist uncool.“ Und trompetete, nachdem das erledigt war, im Befehlston durch das Mauerloch: „So, und jetzt zu dir, Alter. Rück sofort den Meißel raus!“

Noch bevor Willem etwas erwidern konnte, ertönte auf der anderen Seite ein gequältes: „Vorsicht, Toni, ich kann dich nicht mehr halten!“ Kaum hatte das Mädchen den Notruf abgesetzt, verschwand Antons Gesicht aus der Öffnung und es gab einen dumpfen Aufschlag, begleitet von einem saftigen Fluch.

„Tschort wosmi!“

Schadenfroh schlug sich Willem auf die Schenkel, selbst die Beule war für einen Moment vergessen: „Was ist los, Schwimmbrille? Abgetaucht? Du hast dir doch hoffentlich nicht wehgetan?“

Die Antwort war eine ellenlange russische Verwünschung, hervorgestoßen in einem Atemzug. Bruder Boris, der das Gesagte als Einziger verstanden hatte, kreischte vor Vergnügen.

„Ich will den Ossi auch mal besichtigen“, hörte Willem das Mädchen jenseits der Mauer übergangslos sagen. „Klopf dir den Dreck von der Hose, Toni, und bau mir die Räuberleiter!“

„Du hast mir gar nichts zu befehlen!“, erwiderte der Junge gereizt. „Du warst gestern dran. Heute bin ich der Chef. Mauer Power! Einen Tag ich, einen Tag du. So haben wir’s ausgemacht.“ „Und wenn ich größer bin, darf ich auch“, ergänzte Boris.

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