Im Sog des Lichts

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Wahrheit ist nicht teilbar.

Sie ist ein fundamentaler Bestandteil unserer Existenz.

Im Sog des Lichts

ist ein Roman, in dem zusammenhängende Ereignisse in zwei verschiedenen Welten geschildert werden. Die Geschichte beginnt in Ostwestfalen und geht unvermittelt auf Cedan, einem Planeten in einer visionären, jenseitigen Welt, weiter. Im Verlauf der Ereignisse wird deutlich, wie stark diese Welten miteinander verbunden sind. So wie auf der Erde die Naturgesetze auf alles Bestehende Einfluss haben, wird auch die jenseitige Sphäre von Gesetzmäßigkeiten bestimmt, die nicht zu beeinflussen sind. Dieses ungewöhnliche Abenteuer ist vorstellbar. Nicht in Bezug auf Realität, sondern hinsichtlich einer geträumten Episode, die den Rahmen sprengt. Ähnlich eines Malers, der über den Rand hinaus gemalt hat. Das Bild bleibt trotzdem nur ein Bild und die Geschichte auch nur eine Erzählung von Ereignissen, die vielleicht jeder gern miterlebt hätte. In diesem Roman geht das Geschehen, nach Überschreiten der Lebensgrenze, einfach weiter. Es öffnet sich eine neue Welt voller Mysterien und unglaublichen Möglichkeiten.......

Reinhard Füchtenschneider

Im Sog des Lichts

Roman

Kein Ding dieser Welt trägt den Grund seiner Existenz in sich selbst. Der Grund

für die Existenz aller Dinge liegt nicht in ihnen, sondern immer außerhalb!

Wenn also alle Details des riesigen Alls

den Grund ihrer eigenen Existenz nicht

in sich haben, kann der Grund für die

Existenz des gesamten Universums auch

nicht in ihm sein, sondern muss sich

zwangsläufig außerhalb, also jenseits

dieser Welt befinden!

sinngemäß aus:

Der unsterbliche Mensch

von

Alfred Döblin

1

Rick

Erst hatten sie nur Blicke ausgetauscht. Abschätzend und lauernd. Ein Spiel, das immer mehr Substanz bekam. Rick wollte es eigentlich nicht. Doch bei jeder Gelegenheit, da er sie sah, konnte er sich ihrem Reiz nicht verschließen. Die vielen Kleinigkeiten von zufälligen Berührungen, zweideutigen Bemerkungen, oder auch stillschweigender Übereinstimmung wurden zur Summe. Sie hatten ein Gewicht bekommen, das er mit sich trug. Überall hin. Vieles an ihr verstand er nicht. Es gab da etwas an ihr, das ihm noch immer verborgen blieb. Etwas Geheimnisvolles. Es weckte seine Neugierde und machte sie interessant. Ihr Name war Anna.

Anna hatte eine sportliche Figur, kurze, schwarze Haare und dunkle, unergründliche Augen, die nie müde wurden. Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge waren meistens ernst. Selten lachte sie ungezwungen. Ihr Bauch lachte nie. Das Lachen kam bei ihr aus dem Kopf. Annas ganze Erscheinung spiegelte Kontrolle und Eitelkeit wider. Sie kontrollierte sich selbst, kontrollierte Kevins Meinungen und Ansichten. Sein Bruder Kevin schien es nicht zu bemerken. Er konnte oder wollte nicht sehen, wie sie ihn manipulierte. Es waren immer nur Kleinigkeiten. Die aber bewirkten, dass sie ihren Willen durchsetzte. Und sie war jetzt dabei, auch ihn zu kontrollieren. Langsam hatte sie sich in sein Denken eingeschlichen. Rick spürte, dass auch er schleichend manipuliert wurde. Sie übte Druck auf ihn aus. Liebe war es nicht. Das wusste er. Anna hatte ihn nie mit verliebten Augen heimlich angesehen. Ihr Blick war eher prüfend, manchmal neugierig oder auch provozierend gewesen, jedoch nie eindeutig. Sie hatte ihn gelockt, mit ihrer Körpersprache, wenn sie durch den Raum ging, mit ihrer Art sich zu setzten, mit ihrer Tonlage, wenn sie ihn ansprach. Und es hatte zugenommen. Mit jeder neuen Begegnung wurden ihre Anspielungen heftiger. Ihre Präsenz massiver. Nie aber waren sie eindeutig. Immer häufiger hatte er Anna begehrlich angestarrt. Deutlich nahm er wahr, dass sie es bemerkte und genoss. Verflucht, er wollte seinem Bruder nicht die Freundin stehlen. Aber besaß Kevin sie überhaupt? War es nicht eher so, dass Anna seinen Bruder in Besitz genommen hatte? Ob Anna Kevin liebte, konnte Rick nicht sagen. Sicher war, dass sein Bruder diese Frau vergötterte, und sie ließ es zu. Kevin war seit einem halben Jahr mit ihr zusammen. Sie studierten Architektur an der Fachhochschule in Detmold. Dort hatte er sie auch kennen gelernt. Kevin war ein Sonnyboy. Als Kind war er schon unbekümmert gewesen. Selbst wenn er ihn drangsaliert hatte, war das Ergebnis oft nur ein kurzer aber heftiger Wutausbruch gewesen. Anschließend hatte sein sonniges Gemüt wieder sein Wesen bestimmt. Auch heute noch ging er sorglos mit seinem Leben um. Ihm schien alles leicht zu fallen. Das Leben schien in Kevins Vorstellung eine Aufreihung von Annehmlichkeiten zu sein. Deshalb hatte er meistens gute Laune, die er nach allen Seiten hin versprühte. Dabei war er auffallend agil. Er erledigte alles im Laufschritt. Seine zwanglose Art überspielte die Ernsthaftigkeit, die er bei seiner Arbeit an den Tag legte. Er war gut, sogar sehr gut, doch es kümmerte ihn nicht. Kevin machte alles aus dem Bauch heraus, mit unerschöpflicher Energie plante und konstruierte er. Seine Entwürfe waren bemerkenswert kraftvoll. Er ließ sich durch nichts beeinflussen. Nur Anna übte Einfluss auf ihn aus. In Bezug auf Kreativität, konnte sie ihm nicht das Wasser reichen. Sie verstand es aber, Einfluss auf die alltäglichen Dinge zu nehmen, die Kevin nicht so ernst nahm.

Rick und Kevin bewohnten gemeinsam das elterliche Haus in Oerlinghausen. Rick hatte im Erdgeschoss seine Wohnung und das Maklerbüro eingerichtet. Er war unverheiratet und im Moment mal wieder Single. Seine Geschäftstüchtigkeit hatte er von der Mutter geerbt, die seit einiger Zeit in einer neuen Beziehung lebte. Seitdem stand die obere Wohnung leer. Kevin, der zuvor beim Vater gelebt hatte, war in die Wohnung gezogen, als er sein Studium aufnahm. Rick hatte das zähneknirschend akzeptiert, denn sein Verhältnis zu seinem Bruder war schon immer für ihn ein Problem gewesen.

Anna sah Rick erst immer nur zufällig. An der Haustür, oder im Flur, wenn sie Kevin besuchte. In der letzten Zeit jedoch, waren beide immer öfter bei ihm aufgetaucht. Als Immobilienmakler hatte Rick interessante Projekte, die für ihr Studium von Wert waren. Praktische Anschauungsprojekte, die unter dem Aspekt < gute Architektur > diskutiert wurden. Das hatte ganze Abende ausgefüllt. Und so hatte es begonnen. Zuerst war Rick nur Annas athletische Erscheinung aufgefallen. Ihr federnder Gang und ihre Art sich zu bewegen, hatten ihn fasziniert. Doch das waren nur Momentaufnahmen gewesen, denen er keine Bedeutung beigemessen hatte. Mit jeder weiteren Begegnung nahm jedoch seine Wahrnehmung zu. Ihm fiel auf, dass sie mit ihrem Aussehen kokettierte. Ihr Äußeres war ihr besonders wichtig. Sie provozierte geradezu mit ihrem Aussehen. Um ihre straffe Figur zu behalten, joggte Anna regelmäßig. Es war ein Bestandteil ihres Lebens. Kevin war einige Male mitgelaufen, fand jedoch keine rechte Freude daran. Ballsportarten lagen ihm mehr. Rick hatte keine sportlichen Ambitionen. Hatte sie eigentlich nie gehabt. Die Natur war aber gnädig zu ihm und er war mit einem schlanken, drahtigen Köper ausgestattet, der zumindest die Vermutung aufkommen ließ, er würde Sport treiben. Anna hatte seinen Körper schon öfters taxiert. Ihr eigentliches Interesse an ihm blieb aber unergründlich. Rick nahm an, es wäre sexueller Natur. Einen anderen Grund konnte er sich nicht vorstellen, da alle Zeichen in diese Richtung deuteten. Er dachte über ein geschäftliches Projekt nach, das er in der nächsten Woche unter Vertrag nehmen wollte, als sein Bruder ins Büro gestürmt kam.

»Hast du gleich mal ne’ Stunde Zeit?«, fragte er gehetzt. Seine langen, blonden Haare, die er oft einfach wachsen ließ, umwehten seinen Kopf. Rick mochte es nicht, wenn man ihn so überfiel.

»Kannst du nicht wie jeder normale Mensch anklopfen?«

Kevin ging auf den Vorwurf gar nicht ein. Er flegelte sich in den ledernen Besuchersessel, schnappte sich eine Wohnzeitschrift vom Tisch und durchblätterte sie oberflächlich.

»Brauche deinen Rat, großer Bruder!«

Kevin war mit einem kurzärmligen, schwarzen T-Shirt und einer verwaschenen, blauen Jeans bekleidet. Schuhe hatte er nicht an. Seine nackten Füße lugten aus den Hosenbeinen heraus. Rick betrachtete seinen Bruder immer noch verärgert. Sein Aufzug passte einfach nicht hierher. Er wirkte wie ein Fremdkörper in dieser durchstylten Umgebung. Das Büro war mit anthrazitfarbenen Teppichboden ausgelegt. Die Möbel hellgrau und hochglänzend. Einige moderne Bilder, in grellen Farbtönen, betonten die mausgrauen Wände. Die vornehme Atmosphäre erhellte strahlendes Sonnenlicht, das durch ein breites, raumhohes Fenster den Raum durchflutete. Rick musste jedoch schmunzeln, als ihm einfiel, dass sein Bruder seine Wohnung und auch diesen Raum eingerichtet hatte.

»Was gibt es denn so Dringendes?«, fragte er versöhnlich.

»Will oben einige Wände einreißen. Du hast doch bestimmt noch die alten Baupläne?«

Kevin sah über die Zeitschrift seinen Bruder erwartungsvoll an.

»Die sind in der Ablage, unten im Keller«, antwortete Rick nach kurzer Überlegung.

Im Gegensatz zu Kevin hatte Rick dunkelbraunes Haar und einen dunklen, schmalen Oberlippenbart. Seine gepflegte Er-scheinung war ein weiterer, auffallender Unterschied zwischen ihnen. Ähnlichkeit war jedoch zweifelsfrei an den blauen Augen abzulesen. Man konnte an ihnen und auch am schlaksigen Körperbau ihren Verwandtschaftsgrad ablesen.

Kevin war aufgestanden.

»Kannst du mir nicht gleich ein paar Arbeitskopien der alten Pläne machen? Du weißt schon, Grundrisse, Schnitte...Bin fürchterlich im Druck, großer Bruder, muss noch einen Plan zeichnen, bevor Anna kommt!«

 

Im Hinausgehen wedelte Kevin mit der Zeitschrift.

»Bring ich dir gleich wieder, wenn ich die Pläne hole!« und weg war er.

Rick hörte nur noch seine Schritte auf der Treppe, auf der Kevin gewöhnlich drei Stufen auf einmal nahm. Er seufzte, stand auf und begab sich in den Keller. Kevin hatte Glück, dass er zufällig Zeit hatte. Sonst wäre der Überfall wieder ein Grund für eine Streiterei gewesen. Als er jetzt die alten Akten aufschlug und nach den Plänen sah, erinnerte er sich an die vielen Auseinandersetzungen in ihre Kindheit. Rick war sich bewusst, dass er selbst der Auslöser endloser Konfrontationen gewesen war. Er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, seinem jüngeren Bruder seinen Willen aufzuzwingen. Den Frust über die ständigen Belehrungen und Ermahnungen des Vaters hatte er stets an Kevin weitergereicht. Doch das war Vergangenheit und Rick dachte nur ungern daran. Er verdrängte die Erinnerung, da sie ein schlechtes Gewissen in ihm hervorrief. Ihr Vater war schon vor Jahren ausgezogen und dass Kevin mit ihm gegangen war, hatte er gut verstanden. Sein eigenes Verhältnis zum Vater war immer zwiespältig gewesen. Dessen Bevormundung hatte er nur schwer ertragen. Obwohl Kevin zwei Jahre jünger war als er, wurde er vom Vater ständig als Vorbild dargestellt. Kevin brachte bessere Noten nach Hause. Kevin war zuverlässiger. Kevin war aufmerksamer. Kevin... Kevin... Gott sei Dank war das Vergangenheit. Inzwischen waren neun Jahre vergangen. Als Rick jetzt die Pläne unter den Kopierer legte, dachte er daran, dass heute das Verhältnis zu seinem Bruder besser war. Doch das war nicht sein Verdienst. Kevin schien ihm sein früheres Verhalten nicht nachzutragen. Er stellte auch keine Bedrohung mehr dar. Als sie Kinder waren hatte er das anders gesehen. Kevin hatte ihm die Aufmerk-samkeit und Liebe seiner Eltern entzogen. Rick empfand das heute noch so. Es hatte ihn verstockt und hinterhältig werden lassen...

Das konnte nur Anna sein. Er hörte oben im Flur den Türsummer und die Haustür aufspringen. Dann vernahm er ihre Schritte auf der Treppe, deren Rhythmus er inzwischen genau kannte. Nachdenklich ordnete er die Zeichnungen wieder in die Akte, nahm die Kopien und wandte sich der Kellertreppe zu. Im Büro ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen. Wieso dachte er über Anna soviel nach? Machte sie ihn wirklich an, oder bildete er sich das nur ein? Weshalb beschäftigte ihn diese Frau so stark? Er stand jetzt auf und öffnete die große Terrassentür. Um sich ablenken, trat er in den Garten hinaus. Beim Anblick des Grüns fiel ihm ein, dass es Zeit wurde, den Rasen zu mähen. Es war Freitag Nachmittag und das gute Wetter würde sich halten. Es waren noch einige Anrufe zu erledigen, dann würde er sich an die Arbeit machen. Jetzt freute er sich darauf.

Als er wieder das Büro betrat, stand Anna in der Tür. Sie hatte ihn wohl beobachtet, denn sie stand reglos im Türrahmen und sah ihn aufmerksam an. Ihre dunklen Augen taxierten ihn jetzt noch ernst. Aus Verlegenheit verzog Rick den Mund zu einem Grinsen, als er sie ansprach:

»Hallo Anna, habe dich eigentlich nicht erwartet.«

Anna löste sich aus dem Türrahmen und kam jetzt lächelnd auf ihn zu.

»Ich muss dich um Asyl bitten. Kevin hat mich für eine halbe Stunde rausgeschmissen. Er will seinen Plan unbedingt fertig stellen und er war der Meinung, dass ich ihn nur ablenke.«

»Das würde mir auch so gehen«, grinste Rick.

Anna war nur mit einer kurzen Sporthose und einem weiten Oberhemd bekleidet. Ihre Füße steckten in einfachen Gummilatschen. Sie trat dicht an Rick heran und küsste ihn auf die Wange. Ohne den Kopf zurückzunehmen sagte sie:

»Lenke ich dich etwa auch ab?«

Rick hatte ihren Atem auf seiner Haut gespürt. Er holte tief Luft, ehe er stockend und ausweichend antwortete:

»Ich will in den Garten, Rasen mähen. Muss mich nur noch umziehen. Du kannst mir aber helfen, wenn du willst.«

»Helfen? Beim Umziehen?«, fragte sie burschikos und sah ihn unverwandt an. Rick lachte verlegen auf:

»Anna! Bring einen alten Mann nicht durcheinander. Du kannst schon mal den Mäher aus dem Schuppen holen. Ich komme gleich nach.«

Um Fassung bemüht kamen Ricks Worte gepresst aus seinem Mund. Ihre Augen trafen sich für einen kurzen Moment, dann brach Rick den Blickkontakt ab. Er flüchtete buchstäblich aus dem Raum, da er nicht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte. Den spöttischen Blick Annas in seinem Rücken sah er nicht mehr. Er hörte nur ihre Stimme, die hinter ihm herrief:

»Beeil dich bitte!«

In seiner Wohnung angekommen, blieb Rick unschlüssig stehen. Er spürte wie aufgewühlt er war. War es hier so heiß, oder bildete er sich das nur ein? Mechanisch zog er sich aus. Das weiße Baumwollhemd und die helle Hose hing er sorgfältig im Schlafzimmer auf einen Bügel. Es fiel ihm schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Annas Anwesenheit hatte ihn gefreut, gleichzeitig aber total verunsichert. Er ging ins Bad und hielt seinen Kopf unter einen kalten Wasserstrahl. Wie wohl das tat. Er würde Annas Anspielungen einfach ignorieren. Das musste doch möglich sein. Mit diesem Vorsatz zog er eine alte Hose und ein T-Shirt über und verließ seine Wohnung. Auf der Terrasse angekommen, sah er sich nach Anna um. Doch sie war nirgends zu sehen. War sie im Geräteschuppen? Plötzlich hörte er ihre Stimme. Sie schien im Vorgarten zu telefonieren. Rick ging auf die Hausecke zu, blieb dann aber abrupt stehen, als er ihre Worte verstehen konnte.

»Franco, jetzt werde nicht komisch. Ich hab dir doch gesagt, dass ich übers Wochenende in Oerlinghausen bin....Nein.... ich kann jetzt nicht nach Detmold kommen....Montag....Du wirst doch bis Montag warten können....Ja, wenn ich es dir sage, Montag bring ich dir das Geld....natürlich,....kannst dich drauf verlassen....Ich kann jetzt nicht weiterreden....ja....Montag. «

Anna hatte ihre Stimme bei den letzten Sätzen gesenkt, als wären sie für fremde Ohren nicht bestimmt. Rick gewann den Eindruck, dass ihr das Gespräch unangenehm gewesen war, denn sie hatte nervös und genervt geklungen. Irritiert stieg er in die Holzsandalen, die auf der Terrasse standen. Wer war Franco? Der Name war ihm fremd. Nie hatte Anna irgendeinen Franco erwähnt. Als sie an der Hausecke auftauchte und ihn auf der Terrasse stehen sah, konnte Rick den Schreck in ihren Augen ablesen. Sie fing sich aber sofort wieder und ein verlegenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Musste noch ein Telefonat annehmen«, sagte sie und deutete auf ihr Handy. »Werde das Ding aber jetzt abstellen, damit wir Ruhe haben.«

Sie fingerte an der Tastatur des Handys herum, als Rick sie fragte:

»Sag mal, wer ist denn dieser Franco? Ich hab den Namen eben unfreiwillig gehört. Du hast nie von ihm gesprochen.«

»Franco? – Der ist in meiner Laufgruppe in Detmold. Der Kerl nervt mich ständig. Fragt mich andauernd ob ich mit ihm laufe.«

Sie hatte ihn bei der Antwort nicht angesehen, war auf die Gartenmöbel zugegangen und hatte ihr Handy auf den Tisch abgelegt. Jetzt drehte sie sich zu Rick um, grinste ihn frech an und fragte:

»Sag mal, hast < du > denn keine Lust mal mit mir zu laufen?«, während ihr Blick prüfend an ihm herunterglitt.

»Laufen?«, echote Rick irritiert.

»Ja, nur wir beide, wäre doch schön.«

Anna hatte sich lässig an die Tischkante gelehnt und ihre langen Beine übereinander geschlagen. Rick registrierte, dass er sie anstarrte.

»Du weißt doch, dass ich nicht trainiert bin. Ich hätte doch keine Chance mitzuhalten«, antwortete er zögernd.

»Du sollst ja nicht gegen mich laufen, sondern mit mir«, grinste sie. »Die Strecke oben am Steinbruch ist meistens menschenleer, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, dass dich jemand sieht, wenn dir die Puste ausgeht. - Dort wären wir bestimmt allein - .«

Anna sah Rick vielsagend an und der Tonfall ihrer Stimme ging Rick unter die Haut. Der Gedanke mit ihr allein zu sein, beflügelte intuitiv seine Phantasie. Er hatte große Mühe sein Befinden zu verbergen und versuchte möglichst gelassen zu antworten:

»Na ja, es wäre bestimmt gut, wenn ich etwas für meine Kondition tun würde.«

Seine eigene Stimme kam ihm plötzlich fremd vor.

»Heißt das, du kommst mit?«

»Wenn du mir versprichst, dein Tempo meinen Fähigkeiten anzupassen – ja.«

»Da mach dir mal keine Sorgen, deinen Wünschen komme ich bestimmt entgegen«, lachte Anna ungeniert.

Verdammt, ihre Art sich auszudrücken, konnte man nur missverstehen. Oder war alles nur Einbildung? Rick versuchte in ihren Augen eine Antwort zu finden. Wie immer blieben sie unergründlich.

»Wann sollen wir denn los?«, fragte er, um nicht auf ihre Doppeldeutigkeit einzugehen.

»Passt es dir morgenfrüh?«

»So gegen elf würde gehen, ich habe vorher noch einen Be-sichtigungstermin«, antwortete Rick.

Sein Puls überschlug sich inzwischen.

»Okay, sagen wir elf Uhr am Parkplatz oben im Wald.« Anna löste sich mit einem Lächeln auf ihren Lippen vom Tisch und kam auf ihn zu. Doch dann sah sie an ihm vorbei und ihr Lächeln erstarb.

»Ihr wollt euch im Wald treffen?«, hörte Rick plötzlich Kevins Stimme hinter sich. »Was soll ich denn davon halten!?«

Kevin stand in der offenen Bürotür und starrte sie an. Eine Schrecksekunde lang gefror das Blut in Ricks Adern. Dann nahm er wahr, wie Anna in ein helles, unbekümmertes Lachen verfiel, auf Kevin zusteuerte, ihn in den Arm nahm und mit ihren Händen sein langes Haar durchwühlte.

»Mein Lieber, da bist du ja endlich. Ich hab schon gedacht du hast nur noch dein Studium im Kopf. Dein Schatz geht morgen mit dem alten Mann da laufen, damit er nicht ganz verrostet.«

Ohne sich umzudrehen, deutete sie mit dem Daumen über ihre Schulter, küsste Kevin leidenschaftlich auf den Mund und kicherte dann belustigt auf. Rick konnte jedoch an Kevins Miene ablesen, dass er die Sache nicht so lustig fand, denn er sah ihn skeptisch mit hochgezogenen Brauen an.

»Bist du mit der Planung fertig? Ich bin schon ganz gespannt, welche Grundrisslösung du erarbeitet hast«,

hörte Rick Anna mit kindlicher Neugierde sagen.

Sie will ihn ablenken, schoss es Rick durch den Kopf. Ohne jedoch auf Annas Frage zu antworten, löste Kevin sich von ihr und sagte vorwurfsvoll an Rick gewandt:

»Wie bist du nur auf die verrückte Idee gekommen, mit Anna laufen zu wollen?«

»Das war meine Idee«, schaltete sich Anna ein. »Ich hab ihm versprochen, mein Tempo seinen Möglichkeiten anzupassen. Ich will ja nicht, dass er mir unterwegs zusammenbricht.«

»Komm doch mit, ein bisschen Bewegung würde dir bestimmt nicht schaden«, sagte Rick mit belegter Stimme.

Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Das Misstrauen seines Bruders war allzu deutlich. Kevin schien über den Vorschlag nachzudenken. Er stand barfuss auf der Terrasse, seine Hände in den Gesäßtaschen seiner Jeans vergraben und sah abwechselnd Rick und Anna an.

»Lasst mich mal da raus. Ihr wisst, dass ich dazu keine Lust habe. Außerdem möchte ich an dem Projekt weiter arbeiten.«

»Jetzt zeig mir erst mal den Grundriss!« Anna zog Kevin ins Haus, doch an der Tür drehte er sich noch mal zu Rick um:

»Hast du mir die Kopien gemacht? – du weißt, wegen meiner Umbauabsichten.«

»Sie liegen auf meinem Schreibtisch«, antwortete Rick, froh darüber, dass man vom Thema Laufen abgekommen war.

»Ich will jetzt erst mal den Rasen mähen, danach komme ich vielleicht noch rauf.«

»Wir können auch morgen über die Sache sprechen«, sagte Kevin bestimmt. Er sah Rick ernst an und ging an Anna vorbei ins Haus. Einen kurzen Moment schaute Anna Rick ver-schwörerisch an, dann verschwand auch sie.

Rick hatte Kevins Blick aufgefangen. Er kannte diesen Ausdruck genau. Eine Mischung aus vorwurfsvollem Nichtverstehen, Trotz und Traurigkeit. Er hatte seinen Bruder getäuscht. Soviel war klar. Den gleichen Ausdruck in den Augen hatte Kevin als Kind gehabt, wenn er ihn angelogen oder hintergangen hatte. Ahnte Kevin, dass er nicht am Laufen, sondern mehr an Anna interessiert war? Sicher, sonst hätte er ihn nicht so angesehen. Verflucht, warum hatte er sich auf Annas Spiel eingelassen? Wie war es überhaupt dazu gekommen? Jetzt fiel ihm dieser Franco wieder ein. Schuldete Anna ihm nicht Geld, dass sie ihm am Montag bringen wollte? Welches Geld? Langsam kam ihm der Verdacht, dass sie ihn nur von Franco ablenken wollte, als sie den Vorschlag machte, mit ihm zu laufen. So wie sie eben Kevin abgelenkt hatte. Aber das war nur eine Vermutung. Sicher war nur, dass Kevin sauer war. Er wird es verkraften, sann Rick nach. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem gehässigen Grinsen. Die Chance, mit Anna allein zu sein, war zu verführerisch.

 

Beim Rasenmähen überlegte Rick, wie er den Rest des Abends verbringen sollte. Er hatte mehrmals verstohlen zum Haus hinüber gesehen, um von Anna einen Blick zu erhaschen. Sie war aber weder am Fenster, noch auf der Terrasse des Garagendaches aufgetaucht. Nur Kevin hatte ihn beim Schließen des Fensters kurz beobachtet, sich aber sofort abgewandt, als er zu ihm hinauf sah. Den Abend würde er mit den Beiden nicht verbringen können. Er beschloss ins Dorf zu gehen und ein Bier im Movie zu trinken. In der Kneipe war immer was los. Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt. Rick sah mit gewissem Stolz über das Anwesen. Nachdem er mit einem Rechen die dicht bewachsenen Randzonen gesäubert hatte, machte der Garten wieder einen gepflegten Eindruck. Das Elternhaus, ein einfacher Bau mit einem roten Satteldach, war im letzten Herbst neu gestrichen worden. Um dem schlichten Haus mehr Charakter zu verleihen, hatte Rick weiße Fensterläden anbringen lassen, die sich vom hellgelben Anstrich wohltuend absetzten. Kevin hatte das als Zuckerbäcker-Architektur bezeichnet, aber ihm gefiel es. Zufrieden ging Rick ins Haus zurück. Der elterliche Besitz gab ihm ein Gefühl der Sicherheit und ein Stück Selbstvertrauen.

Der Abend verlief anders, als Rick es sich vorgestellt hatte. Eine innere Unruhe hatte ihn ergriffen, die auch nicht weichen wollte, als er im Movie Bekannte traf. Er hatte Mühe, sich auf die Gespräche zu konzentrieren. Das Bier schmeckte nicht und die gelöste Stimmung an der Theke nervte. Eigentlich hatte er auch eine Kleinigkeit essen wollen, aber sein Magen schien wie zugeschnürt zu sein. Schließlich verließ er das Lokal, in der Hoffnung an der frischen Luft Ruhe zu finden.

Ziellos schlenderte er durch den Ort. Ihm war bewusst, dass er dem Treffen mit Anna entgegenfieberte. Auch die Disharmonie zu Kevin machte ihm jetzt zu schaffen. Doch dieser ruhelose Zustand war ihm nicht fremd. Er hatte immer irgendwelchen Dingen nachgejagt. Die Rastlosigkeit war ein Teil von ihm geworden. Ständig hatte er Abwechselung in flüchtigen Bekanntschaften gesucht. Auch beruflich jagte er dem Erfolg hinterher. Er fühlte sich ständig herausgefordert, war immer auf dem Sprung. Obwohl er sich heute für einen erfolgreichen Geschäftsmann hielt, denn sein Maklerbüro warf inzwischen gute Gewinne ab, war er trotzdem oft unzufrieden. Sein mangelndes Selbstbewusstsein suchte fortwährend Bestätigung. Wichtig waren für ihn Äußerlichkeiten. An ihnen richtete er sich aus. Statussymbole bestimmten den Wert der Dinge. Sie waren für Rick von entscheidender Bedeutung. Ein schönes Haus in bester Wohnlage, oder auch eine besondere gesellschaftliche Stellung waren Dinge, die aus seiner Sicht Selbstwertgefühle vermitteln konnten. Kevins Selbstsicherheit verstand er nicht. Woher sein Bruder die Kraft für seine unerschütterliche Ruhe, das Vertrauen in sich selbst und die Zufriedenheit mit seinem Dasein nahm, wusste er nicht. Wie oft hatte er versucht, das Selbstvertrauen Kevins zu erschüttern. Ohne Erfolg.

Rick hatte unbewusst den Heimweg eingeschlagen. Seine Unruhe hielt an und er war so in Gedanken vertieft, dass er die Schönheit der lauen Sommernacht nicht registrierte. Das fahle Licht der wenigen Straßenlaternen begrenzte seine Wahrnehmung auf eine kleine, menschenleere Welt, in der er sich verloren vorkam. Plötzlich fühlte er sich einsam. Das Haus lag im Dunkeln, als er das Grundstück betrat. Annas Wagen war verschwunden und Rick nahm an, dass sie mit Kevin unterwegs war. Frustriert betrat er seine Wohnung. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor Mitternacht.

Die Stille im Haus umgab ihn wie ein undurchdringlicher Nebel. Sie isolierte ihn, legte seine überreizten Nerven offen und machte ihm gleichzeitig seine aufkommende Müdigkeit bewusst. Benommen begab er sich ins Schlafzimmer, zog sich aus und legte sich ungewaschen ins Bett. Mit geschlossenen Augen sah er Annas Bild auftauchen. Sie grinste ihn unverschämt an und forderte ihn auf näher zu kommen. Er musste sich zugestehen, dass er der Verlockung kaum noch standhalten konnte. Der Gedanke, sie zu berühren, löste alle Dämme in ihm auf. Mehrmals wurde er in dieser Nacht von wirren Träumen wach. Im halbwachen Zustand hasste er sich, hasste seine eigene Schwäche, hasste Kevins unbekümmerte Sicherheit und Freude am Leben. Später beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er konnte es nicht benennen, doch es beunruhigte und ängstigte ihn. Die Vorahnung eines schrecklichen Ereignisses legte sich wie ein dunkles Tuch über ihn und drohte ihn zu ersticken.

Am anderen Morgen war alles anders. Helles Sonnenlicht weckte ihn. Es war Wochenende und der strahlende Sommertag ließ ihn seine düsteren Gedanken vergessen. Er ging zur Terrasse hinaus und sog begierig die frische Morgenluft ein. Der Duft des gemähten Grases hing noch in der Luft. Rick liebte diesen Geruch. Entspannt begab er sich ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Das Sonnenlicht zauberte einen kleinen Regenbogen in den sich ausbreitenden Wasserstrahl. Seine Hand mit Duschgel nahm jeden Muskel und jede Rundung seines Körpers wahr, als er sich einseifte. Er spürte, wie angespannt und empfindlich er reagierte. Bei dem Gedanken an Anna stellte sich spontan eine Erektion ein. Sofort verwarf er den Gedanken und ließ jetzt eiskaltes Wasser über sich laufen. Die Kälte spülte seine Erregung und Empfindlichkeit in den Abfluss. Er verharrte so lange unter dem Wasserstrahl, bis seine Haut taub war. Beim Anziehen fühlte er sich frisch und ausgeruht. Alles versprach, dass es ein schöner Tag werden würde. Ein Besichtigungstermin stand noch an, dann würde er mit Anna laufen. Was war schon dabei. Jetzt freute er sich darauf, sie zu sehen.

Da die Besichtigung des Objektes kürzer ausfiel, als geplant, war Rick schon früher an der verabredeten Stelle. Ein Parkplatz, der ringsum von dichtem Wald umgeben war. Er zog sich um und beobachtete gespannt die Auffahrt. Ob Anna wirklich kommen würde? Jetzt zweifelte er daran. Als er am Morgen das Haus verlassen hatte, stand ihr Wagen wieder vor der Garage. Weder sie noch Kevin waren ihm begegnet. Das Warten machte ihn nervös. Ungeduldig lief er hin und her. Ein kühler Luftzug ließ ihn für einen Moment frösteln, denn der Platz lag noch im Schatten. Er überlegte, dass die leichte Brise fürs Laufen ideal war, denn es machte die Hitze erträglich. Jetzt nahm er ein Motorengeräusch wahr. Es näherte sich und wurde immer lauter. Dann sah er sie. Anna bog mit ihrem offenen VW-Käfer in den Parkplatz ein. Rick registrierte wie hinreißend sie aussah. Als sie ihren Wagen neben seinem anhielt und ausstieg, konnte er nur schwer seinen Blick von ihrer schlanken Figur nehmen. Sie winkte zu ihm herüber und rief: »Ich muss nur noch meine Laufschuhe anziehen, dann bin ich soweit.«

Er beobachtete, wie sie ihre Schuhe zuband. Diese Frau bringt mich noch um den Verstand, durchfuhr es ihn. Leichtfüßig kam sie jetzt auf ihn zu. Sie trug eine hautenge, knielange Hose, die nichts verdeckte, sondern eher alles betonte. Darüber fiel locker ein weit ausgeschnittenes T-Shirt. Anna sah ihn übermütig an und sagte lachend:

»Hallo Rick, bist du sicher, dass du nur mit mir laufen willst?«

Das < nur > hatte sie besonders betont.

Ihr loses Mundwerk und ihre freche, herausfordernde Art machte ihn stumm. Verzweifelt suchte er nach Worten und nahm gleichzeitig wahr, wie sie seine Unsicherheit registrierte.