Der Aufpasser

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Der Aufpasser

Reiner W. Netthöfel

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2015 Reiner W. Netthöfel

ISBN 978-3-7375-2421-6

Inhalt

Der Auftrag

Die Mandantin

Auf dem Gipfel

Im Tal

Der Bär

Epilog

Der Auftrag

„Scheiße!“ Warum musste das Telefon ausgerechnet jetzt gehen? Er hatte sich gerade fertig gemacht, die Regenfront war schon in der Ferne zu sehen. Wenn er jetzt loslief, würde er es noch schaffen, aber das dämliche Telefon würde ihn aufhalten. Sollte er einfach nicht rangehen? Er schaute sich das Gerät an. Natürlich keine Nummer. Unterdrückt. Er drückte einen Knopf auf einem schwarzen Plastikkasten neben dem Telefon und nahm ab.

„Ja?“, fragte er barsch. Ein Brummen war zu hören, sonst nichts.

„Wer ist da?“, schrie er ungeduldig in das Mikrofon.

„MW? Sind Sie MW?“, hörte er eine amerikanisch sprechende Männerstimme ziemlich undeutlich. Er war geneigt, sich einen schwarzen Mann vorzustellen, denn die Stimme war eine typisch schwarze: tief und kehlig. Das Alter des Mannes war jedoch für ihn nicht bestimmbar.

„Wer will das wissen?“ Immer noch barsch. Er meinte, ein Lachen zu hören.

„Nun ja, nehmen wir einmal an, ich hieße Jackson Browne.“ Scherzkeks.

„Wie witzig. Woher haben Sie diese Nummer?“ Er würde sie ändern lassen müssen.

„Oh, Sie haben Referenzen.“ Referenzen, die diese Nummer weitergeben? Die hatte er sicher nicht. Schon gar nicht veröffentlicht. Wenn er schnell lief, würde er es vor dem Regen nach Hause schaffen. Hoffte er.

„Wovon sprechen Sie?“

„MI 5, CIA, Mossad, BND, BKA und andere.“ Was ging hier vor? Es brummte.

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ Eindeutig ein Lachen.

„Doch, wissen Sie. Ich muss Sie dringend treffen.“

„Ich treffe mich nicht mit Leuten, deren Namen ich nicht kenne.“

„Ich sagte doch, ich heiße Jackson Browne.“

„Womöglich sind Sie die Jackson Five.“ Ein kehliges Lachen ertönte.

„Sie haben Humor.“

„Kommt drauf an.“

„Es ist sehr dringend.“ Kein Lachen, kein Humor, das war purer Ernst.

„Woher haben Sie die Nummer?“, insistierte MW.

„Ich sagte es bereits.“

„Sind Sie diesen Kreisen zuzuordnen?“

„Ja.“ Immerhin war das eine klare Antwort.

„Worum geht es?“

„Um einen Auftrag.“

„Ach.“, tat er desinteressiert.

„Und um zehntausend Dollar.“

„Machen Sie sich nicht lächerlich.“, brummte er ärgerlich.

„Pro Tag.“ Er zog die Brauen hoch.

„Oh.“

„Eben.“

„Bei welchem Dienst sind Sie?“

„Kein Dienst. US-Regierung.“

„Wie kann ich da sicher sein?“

„Wie ich hörte, haben Sie die Möglichkeit, das zu überprüfen. Wenn Sie in den nächsten fünf Minuten folgende site ansteuern,“ sein Gesprächspartner gab einen link durch, „und Jackson Browne eingeben, haben Sie meine Legitimation.“

„Hm.“

„Werden Sie es tun?“

„Was tun?“

„Es überprüfen.“

„Weiß nicht.“

„Es ist wichtig. Und denken Sie an die zehntausend.“

„Die sind nicht wichtig.“

„Zehntausend am Tag sind nicht wichtig?“ Der Mann klang schrill.

„Genau.“

„Mannomann. Überlegen Sie es sich.“

„Mal sehen.“ Ein Blick nach draußen verriet ihm, dass er nass werden würde.

„Wann kann ich Sie zurückrufen?“, fragte der Fremde.

„Ich rufe Sie an.“ Ein kehliges Lachen. Er musste gestehen, es war nicht unsympathisch.

„Das geht nicht, sie können mich nicht zurückrufen.“

„Warten Sie es ab.“, schmunzelte MW und beendete das Gespräch. Er wählte die geheime Nummer.

„Alles mitbekommen?“, fragte er.

„Si.“, erklang eine helle Stimme.

„Ich gehe jetzt auf die Piste. In einer Stunde bin ich wieder da, dann will ich den Typen zurückrufen können und etwas über ihn wissen.“ Aus den Lautsprechern im Wohnzimmer erklang Joe Cockers ‚I can stand a little rain‘.

„Wird knapp.“

„Du schaffst das.“

„Das meine ich nicht.“

„Was denn?“

„Die Regenfront.“ Abermals lupfte er die Brauen. Woher konnte sie das wissen?

MW wurde pitschenass, aber immerhin war der Regen warm gewesen.

Frisch geduscht und gut gelaunt studierte er die Informationen, die er von seiner Partnerin erhalten hatte und wählte.

„Sie heißen ja tatsächlich Jackson Browne.“ Er hörte immer noch ein Brummen.

„Verdammt, wo haben Sie die Nummer her?“ Der Kerl klang aufgeregt. MW lachte.

„Was Sie können, kann ich auch.“

„Ich habe keine Referenzen.“

„Das ist aber schade. Wenn Sie meine Referenzen kennen, müssten Sie wissen, dass ich gut bin.“

„Ich wusste nicht, dass Sie so gut sind.“

„Nun wissen Sie es.“

„Haben Sie es sich überlegt?“

„Was?“

„Ob Sie den Auftrag annehmen.“

„Ich weiß ja nicht einmal, um was es geht.“

„Deshalb will ich mich ja mit Ihnen treffen.“

„Na ja, unterhalten können wir uns ja mal. Geht das nicht telefonisch?“

„Ich bin in vier Stunden bei Ihnen.“ MW ließ fast das Telefon fallen.

„Oh, so schnell?“

„Wir landen in einer Stunde.“

„Sie scheinen ja ziemlich sicher gewesen zu sein, dass ein Treffen zustande kommt.“, sprach MW tadelnd.

„Es blieb mir nichts anderes übrig.“ Stand der Mann etwa unter Druck?

„Ich bestelle einen Tisch in einem Restaurant.“ Er nannte seinem unbekannten Gesprächspartner das Restaurant und begann, eine gewisse Vorfreude auf das Treffen zu entwickeln.

„Eine Frage noch.“

„Bitte.“

„Wie heißen Sie eigentlich?“

„Lassen Sie es bei MW oder finden Sie es heraus.“ Am anderen Ende war eine Art Grummeln zu hören und MW dachte schon, dass es das war. Er irrte sich aber hiermit.

„Noch eine Frage.“, hörte er nämlich einen Nachtrag.

„Okay, Columbo.“

„Wie erkenne ich Sie?“

„Wenn Sie Referenzen über mich haben, müssten Sie wissen, wie ich aussehe.“

„Sie haben viele Gesichter.“

„Bringt der Beruf so mit sich. Wir werden uns schon nicht verfehlen.“

Der Fahrer weckte seinen Fahrgast, als der Wagen hielt.

„Wir sind da, Sir.“ Browne schlug mühsam die Augen auf und sah aus dem Fenster in den Abend. Was er sah, konnte ihn nicht recht erfreuen, es handelte sich nämlich um die Backsteinfassade eines alten, unansehnlichen, mehrstöckigen Hauses, dessen Außenmauern dezente Leuchtreklamen zierten; einzig die geschmackvoll dekorierten Fenster gaben Anlass zu der Hoffnung, dass es sich bei dem Restaurant nicht um die Kaschemme handelte, die der erste Eindruck nahelegte.

„Ist das die richtige Adresse?“, fragte Browne misstrauisch, er traute MW nämlich vieles zu.

„Jepp.“

„Na, dann will ich mal.“, bereitete sich Browne auf den Einstieg in ein abenteuerliches Unterfangen vor und stieg aus.

„Soll ich nicht warten, Sir?“, wollte der Fahrer wissen.

„Nein.“, sagte Jackson Browne kategorisch; er hatte sich nämlich etwas vorgenommen. Er wollte erreichen, was in seinen Kreisen als unerreichbar galt: er wollte hinter das Geheimnis von MW kommen, und hierzu, so stellte er sich das vor, müsste er in dessen Sphäre eindringen. Er sah der davonfahrenden Limousine zufrieden nach.

Die Zufriedenheit wollte einer gar nicht einmal so unbestimmten Furcht weichen, als er sich dem Eingang des Lokals näherte, denn schließlich war MW nicht gerade freundlich gewesen am Telefon. Aber immerhin hatte der ihn hierhin eingeladen. Mit diesem Gedanken neuen Mut gefasst, betrat er entschlossen den Gourmettempel.

Als ein schlanker, schwarzer Mann um die vierzig, in einem braunen Anzug, mit kurzen Haaren und einem dezenten Schnurrbart, das nicht ganz voll besetzte Restaurant betrat und sich im von leisem Gemurmel und Geräuschen, die Bestecke auf Porzellan machten, erfüllten Halbdunkel des großen Raumes suchend umblickte, drehten sich nicht nur einige Gäste nach ihm um, sondern MW bestellte beim Kellner umgehend ein Glas Sekt, dann winkte er dem Schwarzen mit der Reisetasche zu, so dass dieser an seinen Tisch trat. Das Blau der Krawatte passt nicht zum Braun des Anzugs, dachte MW. Typisch amerikanisch.

Gemütlich. Das Restaurant wirkte gemütlich auf Jackson Browne, obwohl es nicht die Gemütlichkeit ausstrahlte, die er in diesem Land erwartet hatte, mit barocken Formen und viel Eichenholz und so. Ein unscheinbarer Mann mit kurzen, dunklen Haaren, der allein an einem der Tische saß, winkte. Beinahe hätte er ihn übersehen.

„Mr. MW?“, fragte der Schwarze unsicher. MW nickte und musterte den Neuankömmling neugierig.

„Jackson Browne?“

„Ja.“ Einen Augenblick hatte MW den Eindruck, sein Gesprächspartner würde militärisch grüßen wollen.

„Sehen Sie, war doch gar nicht so schwer. MW reicht übrigens.“ MW wies auf einen freien Stuhl und der Kellner brachte den Sekt.

 

„Gibt’s was zu feiern?“ MW prostete dem irritierten Browne zu.

„Wissen Sie, wenn ich mit Fremden telefoniere, versuche ich mir vorzustellen, wie sie wohl aussehen. Klappt fast immer.“ Er stellte das leere Glas ab. „Wenn ich ihr Alter hätte schätzen können, hätte ich mir Champagner bestellt.“ Erstaunt nahm Browne Platz und bestellte ein Bier, weil MW das empfohlen hatte und er seinen Gesprächspartner nicht enttäuschen wollte, schließlich hatte er einen Plan. Und einen Auftrag.

„Wenn Sie ausgerechnet mich engagieren wollen, ist dieser Auftrag wohl, sagen wir mal, delikat. Sonst könnten Sie ja irgend ein Detektivbüro engagieren, oder staatliche Dienste in Anspruch nehmen.“, fiel MW mit der Tür ins Haus und überraschte damit Browne.

„Sie kommen aber schnell zur Sache. Ich dachte, wir machen erst einmal Konversation.“, erklärte Browne verdutzt. MW grinste ihn an.

„Machen wir doch.“ MW deutete auf die Reisetasche. „Wollen Sie länger bleiben?“ Browne machte sich wichtig, indem er die Brust rausstreckte und sich ein wenig größer machte.

„Normalerweise hätte ich dieses Treffen anders arrangiert. Ich hätte eine Art Hauptquartier gehabt, Sie wären zu mir gekommen …“, versuchte Browne gestenreich zu erklären, wurde aber unterbrochen.

„Irrtum, ich führe Regie, und zwar immer.“ Browne sah seinen Gesprächspartner an und sah, dass dieser es ernst meinte.

„Die Sache ist eben, wie Sie sagen, sehr delikat und duldet keinen Aufschub. Weil wir wissen, dass Sie … äh, nicht so einfach sind, kommen wir Ihnen sehr entgegen.“ MW horchte auf.

„Nicht so einfach?“

„Sie wissen schon.“, erklärte Browne.

„Nein.“, brummte MW schroff und trank Bier.

„Sie sind ein Einzelgänger, meiden die Öffentlichkeit …“

„Na ja.“ Browne wertete dies als Eingeständnis und lehnte sich zufrieden zurück.

„Ja, wir kommen Ihnen also sehr weit entgegen.“, versuchte er sich in ein Licht zu rücken und seine Wichtigkeit zu unterstreichen.

„Hoho, wie weit soll das gehen?“, wollte MW nun doch wissen, denn er ahnte etwas. Browne ergriff diese Frage als Gelegenheit beim Schopfe.

„Kann ich bei Ihnen übernachten?“, platzte es aus dem Amerikaner heraus. MW sah Browne über den Rand seines Glases entgeistert an.

„Kommt gar nicht in Frage. Nehmen Sie sich ein Zimmer.“, bellte er.

„Wo?“ Gute Frage. In der Nähe gab es zwar Hotels, die aber wegen einer Messe in der Nachbarstadt garantiert ausgebucht waren, das hatte Browne nämlich schon probiert, indem er ein paar Telefongespräche geführt hatte. Seine Frage aber blieb vorerst unbeantwortet, denn MW grummelte nur vor sich hin. Also studierte Browne lieber die Speisekarte, denn das Thema erschien ihm zu heikel, als es zu vertiefen. Das mit dem Studium der Karte war aber nicht so einfach, wie er sich das gedacht hatte; er hatte eben kaum Auslandserfahrung.

„Helfen Sie mir mit der Karte?“, fragte er. MW sah ihn erstaunt an und wies mit einer Geste auf Brownes Speiseverzeichnis.

„Sie halten sie doch schon ganz passabel.“ Browne verdrehte die Augen und gab etwas zu, nämlich:

„Ich kann kein Deutsch.“ MW grinste schadenfroh.

„Alles andere hätte mich auch gewundert.“ Browne runzelte die Stirn.

Nach dem Essen wollte MW wissen, ob es geschmeckt hatte.

„Ist was anderes als Burger und Pommes, nicht wahr?“

„Vorurteile haben Sie nicht, nein?“, sprach Browne durch seine Stoffserviette hindurch, die er zum Zwecke der Säuberung gerade vor seine Lippen hielt, was MW bei seinem Gast für eine angelernte Kulturtechnik hielt.

„Vorurteile können ganz nützlich sein. - Sollen wir uns beim Digestif mal dem wesentlichen nähern?“

Nachdem der Obstbrand verkostet war und frische Biere vor den Männern standen, näherten sie sich in der Tat dem Kern, wobei Browne aufgrund der Flugstrapazen und des ungewohnten Alkoholgenusses einige Anläufe brauchte.

„Sie trinken ganz schön viel.“, bemerkte der Amerikaner.

„Kann es vertragen, was man von Ihnen nicht behaupten kann.“, stellte MW belustigt fest.

„Ich glaube, ich sagte bereits, dass Sie sehr direkt sind.“, entgegnete Browne etwas beleidigt.

„Sie wiederholen sich, ja. Liegt das am Alkohol?“, fragte MW irreführend.

„So etwas kann schnell als Beleidigung aufgefasst werden.“, wurde MW genauso belehrt.

„Wollen Sie mir Benehmen beibringen?“

„Ich meine ja nur.“, ruderte der Schwarze zurück.

„Behalten Sie Ihre Meinung für sich. – Also, was führt Sie zu mir?“ Browne sah sich um. Die Tische waren eher spärlich besetzt und standen weit auseinander, so dass zu dieser Art von Verhalten kein Anlass bestand, fand MW.

„Sollen wir tatsächlich hier darüber reden?“, flüsterte der Ausländer verschwörerisch, hatte aber mindestens einen Nebengedanken.

„Hätten Sie eine Alternative?“, fragte MW und dachte an mögliche Nebengedanken seines Gegenübers.

„Nun, wir könnten doch zu Ihnen …“ MW’s Gesicht verzog sich, als durchzucke ihn ein heftiger Schmerz.

„Browne! Ihren Südstaatenakzent versteht doch sowieso niemand hier.“ Obwohl der wie ein Fake klingt, dachte MW.

„Aber Sie sprechen ein recht deutliches Englisch.“

„Danke, dann werde ich wenig sagen oder flüstern.“

„Ich weiß nicht …“ Browne wiegte seinen Kopf.

„Sollen wir in Mandarin verhandeln?“, schlug MW vor. Browne sah ihn mit großen Augen an.

„Sie können Mandarin?“

„Das habe ich nicht gesagt. – Also, schießen Sie endlich los, bevor Sie nur noch lallen können.“

„Vielleicht sollte ich einen Kaffee …“

„Wenn Sie meinen, dass der hilft.“ MW ließ sich gegen die Lehne seines bequemen Stuhles fallen und musterte die Decke über sich. Browne bestellte einen Kaffee und zog eine rote Mappe aus seiner Reisetasche. Er legte die Mappe auf den Tisch, ohne sie zu öffnen und sah sein Gegenüber bedeutungsschwer an, als beinhalte die Mappe den Schlüssel zu ewigen Wahrheit. Er legte einen Zeigefinger auf sie, sagte aber nichts. MW sah sich das Ganze amüsiert an und fragte dann spottend:

„Browne, haben Sie das Sprechen verlernt?“ Browne schüttelte sich und sah MW in die Augen.

„Es geht um eine junge Frau. Fünfundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Miami, Florida. Das ist im Sü …“

„Ich weiß, wo Florida ist.“, beschied ihn MW barsch.

„Waren Sie schon einmal da?“, fragte Browne erstaunt.

„Nein, aber ich weiß es trotzdem. Ich weiß zum Beispiel auch, dass es auf der Sonne heiß ist, ohne dort gewesen zu sein. Machen Sie weiter.“

„Die Dame ist, äh, etwas schwierig.“

„Dann suchen Sie sich einen Erzieher, für die Bändigung von schwierigen Kindern bin ich nicht zu haben.“

„Sie ist kein Kind mehr.“, streute Browne eine von ihm geglaubte Wahrheit.

„Eine schwierige Fünfundzwanzigjährige ist wie ein Kind.“, belehrte ihn MW.

„Aha. Sie wuchs ohne Eltern auf und war recht flatterhaft. Hat geklaut, Gras geraucht, sich geprügelt. Beamtenbeleidigung und so weiter. War in allerlei Straßengangs. Kein unbeschriebenes Blatt also. Vorstrafen. Setzte sich mit achtzehn in den Kopf, Pornodarstellerin zu werden, was sie dann mit einundzwanzig auch wurde. Vorher war sie so eine Art Aktmodell. Hatte bereits mit vierzehn regelmäßigen Geschlechtsverkehr, mit stetig wechselnden Partnern. Na ja, so absurd sich das anhört, dieser Pornojob regelte ihr Leben. Sie musste früh raus, hatte Verpflichtungen, musste fit sein, musste auf ihre Gesundheit achten. Sie war so eine Art Shootingstar in dem Metier. Ihr Name ist Emmy Blunt.“ MW fiel eine Frage ein.

„Geschlechtskrankheiten?“ Browne schüttelte den Kopf.

„Erstaunlicherweise nicht. Kein HIV.“

„Seit wann kümmert sich die US-Regierung um gefallene Mädchen? Ist das ein neues Sozialprogramm oder so etwas?“

„Natürlich nicht. Der Onkel dieser Dame ist eine sehr hoch gestellte Persönlichkeit.“, erklärte Browne verschwörerisch mit gesenkter Stimme und fühlte sich von MW’s forschendem Blick durchleuchtet. MW legte einen Zeigefinger auf die Mappe.

„Ist sie schwarz?“ Browne war irritiert. Sollte MW farbenblind sein? Dann wäre er eigentlich für den Job nicht geeignet.

„Sie sehen, doch, dass sie rot ist.“ Jetzt war es an MW, irritiert zu sein.

„Eine Indianerin?“, fragte er erstaunt.

„Wer?“, wollte Browne verblüfft wissen.

„Die Frau.“

„Nein.“. meinte Browne bestimmt.

„Sie sagten, sie sei rot.“

„Ich meinte die Mappe.“

„Verdammt, Browne! Welche Hautfarbe hat die Dame?“, jaulte MW und sah an die Decke.

„Ich würde es ein mittleres Dunkelbraun nennen.“

„So wie Sie?“

„Ähnlich.“

„Also schwarz. Ich muss mal.“ MW stand auf und verließ den Raum.

Im Waschraum fingerte er sein Telefon aus der Tasche und gab eine Nummer ein, die nur er kannte. Nahm er jedenfalls an.

„Ich bins. Kannst du schnell herausfinden, ob der US-Präsident eine etwa fünfundzwanzigjährige Nichte namens Emmy Blunt hat? Schick eine sms.“

„Wie schnell?“, fragte seine Partnerin routiniert.

„Sofort!“ MW beendete das Gespräch. Sie klingt irgendwie verschnupft, dachte er.

„Na, geht’s Ihnen jetzt besser?“, grinste Browne und schlürfte seinen Kaffee. MW orderte Bier, nachdem er die Frage souverän ignoriert hatte.

„Wie schmeckt Ihnen das Bier?“, wollte er von dem Amerikaner wissen.

„Besser als der Kaffee.“, gab der zu, bereute das aber sofort.

„Dann sollten wir bei Bier bleiben.“, schlug MW nämlich vor, das dann auch bald kam. MW’s Handy kündigte eine Mitteilung an, die er mit ausdruckslosem Gesicht las, dann sah er ebenso sein Gegenüber an. In solchen Momenten könnte er jedes Pokerspiel gewinnen.

„Okay, Mr. Jackson Browne, was habe ich mit der gefallenen Nichte des US-Präsidenten zu tun?“ Browne verschluckte sich am Bier und rang nach Luft.

„Welcher Präsident?“

„Tun Sie nicht so. Ihr Präsident. Emmy Blunt ist seine Nichte, und um die geht es ja wohl.“

„Woher …“ Browne wurde durch eine harsche Geste am Weiterfragen gehindert.

„Lassen Sie es gut sein, Browne. Sie wissen, dass Informationsbeschaffung zu meinen Stärken gehört, wenn Sie meine Referenzen aufmerksam studiert haben.“

Es brauchte eine Weile, bis sich Browne wieder beruhigt hatte, dann traf er die Feststellung: „Mrs. Blunt hat nicht nur Freunde.“ MW lehnte sich pustend zurück.

„Ach was. Jemand, der Polizeibeamte beleidigt, an Kämpfen zwischen Straßengangs beteiligt ist, stiehlt und was sonst noch, hat nicht nur Freunde?“, höhnte er. Browne schüttelte den Kopf und wurde ernst.

„Bei ihr ist eingebrochen worden. Zwei Mal. Auf jeden Fall hat sich jemand Zutritt zu ihrem Appartement verschafft. Keine Spuren. Beim ersten Mal hat der Täter zwei Silikonattrappen weiblicher Brüste hinterlassen. Sie waren zerhackt. Beim zweiten Mal ein Modell einer Vagina mit einem Messer drin.“ MW’s Miene war immer noch unbewegt.

„War wohl ein heimlicher Fan?“, äußerte er einen Verdacht. Browne verzog das Gesicht vor MW’s Sarkasmus.

„Seit ihr Onkel Präsident ist, ist sie raus aus dem Geschäft.“ MW schaute skeptisch.

„Aber die Fotos und Filme gibt es doch wohl noch?“

„Sicher. Es ist nicht auszuschließen, dass es ein durchgeknallter Fan war. Das ganze scheint aber noch einen anderen Hintergrund zu haben. Die Attrappen waren schwarz.“ MW wirkte jetzt ganz leicht irritiert, was Browne heimlich freute.

„Wie?“

„Die Hautfarbe.“, erklärte der Amerikaner nachsichtig.

„Ein rassistischer Hintergrund?“ Browne nickte.

„Hinzu kommt eine Serie von bestialischen Morden an schwarzen Prostituierten, Pole-Tänzerinnen, Stripperinnen, Pornodarstellerinnen, nicht nur in Florida, sondern überall im Lande, vorzugsweise im Süden. Die Leichen waren grausam zugerichtet.“

„Zerfetzte Brüste und Vaginen?“

„Ja. Zudem rassistische Symbole. Brennende Kreuze.“

„Der Klan?“

„Möglich. Auf jeden Fall gibt es keinerlei Spuren, nichts. Das letzte Opfer war eine Bekannte Emmys aus der Branche, die in heller Aufregung ist. Verstehen Sie jetzt, warum die Regierung sich um das gefallene Mädchen kümmert?“

„Annähernd. Bestimmt aber nicht, weil ihr die Pornoindustrie am Herzen liegt. Ist sie freiwillig ausgestiegen, als ihr Onkel Präsident wurde?“

„Was heißt schon freiwillig? Sie hat es wohl eingesehen.“ MW schien das zu schnell geschossen.

 

„Sicher?“, fragte er deshalb sicherheitshalber nach. Brownes Blick senkte sich.

„Nein.“, gab der zu.

„Was macht sie jetzt? Womit verdient sie ihr Geld?“

„Sie versucht sich in Webdesign und Fotografie.“

„Kann sie davon leben?“

„Man hilft ihr.“

„Vitamin B?“

„Ja.“ MW zog die Mappe zu sich, blätterte und wurde bleich.

„Hübsches Mädchen. Donnerwetter!“ Er war bei den Fotos angelangt, die sie bei der Arbeit zeigten. „So einen Körper habe ich überhaupt noch nicht gesehen.“

„Ja, sie ist eine schöne Frau, sehr körperbewusst, ihr Körper war ja mal ihr Kapital, sehr sportlich.“

„Warum stellen Sie ihr nicht einfach zwei Bodyguards zur Seite?“

„Ihr Onkel wollte den Besten; außerdem sehen Sie nicht wie ein Bodyguard aus. Es soll alles sehr … diskret sein.“ MW sah sein Gegenüber scharf an.

„Wie, dachten Sie sich denn, soll ich auf sie aufpassen?“ Browne wurde rot, obwohl er auf diese Frage, die im Laufe ihres Gesprächs einfach fallen musste, vorbereitet war. Immer und immer wieder war er diese Szene während des Flugs prophylaktisch durchgegangen. Dass dieser MW sich als mehr als nur schwierig herausstellen würde, hatte er allerdings dabei nicht bedacht.

„Indem Sie bei ihr einziehen.“, nuschelte er und sah auf die Tischdecke. MW verzog das Gesicht.

„Sie wollen, dass der Täter zuschlägt, wenn ich dabei bin, weil er mich möglicherweise unterschätzt und ich dann die Kartoffeln aus dem Feuer hole, indem ich die Arbeit der Polizei mache?“

Browne wurde verlegen und hob beschwichtigend die Hände.

„Wir wollen nur kein Aufsehen erregen. Es sollen so wenig staatliche Stellen einbezogen werden, wie möglich.“ MW bohrte nicht weiter nach, obwohl er keine Antwort auf seine Frage in Brownes Einlassung entdecken konnte.

„Ich bin kein Ermittler, kein Kriminalist.“, stellte er klar.

„Wissen wir, Sie sollen einfach nur auf sie aufpassen.“ MW winkte ab.

„Ich bin kein Kindermädchen.“ Browne wurde jetzt geschäftsmäßig.

„Sie haben den israelischen Außenminister vor einem Attentat bewahrt, Sie haben Ihre Kanzlerin aus der Schusslinie eines Scharfschützen befördert, Sie haben ein Sprengstoffattentat auf die britische Botschaft in Indonesien verhindert, soll ich weiter machen?“

„Ich weiß, was ich getan habe.“ Die Männer schwiegen und tranken.

„Wissen Sie, was merkwürdig ist?“, fragte Browne nachdenklich.

„Hm?“

„Es ist nie beobachtet worden, dass Sie die Täter angegriffen, oder auch nur berührt hätten; Sie sind teilweise noch nicht einmal in deren Nähe gesehen worden.“ MW sah durch den Raum.

„Tja, ich habe so meine Methoden.“

„Wie sind Sie in diese Branche geraten?“, fragte Browne aus ehrlichem Interesse. MW’s grauer Blick bohrte sich in die braunen Augen Brownes.

„Welche Branche?“

„Security.“ MW lächelte.

„Na ja, wenn Sie meinen, dass ich in Security mache, bitte. – Es fing damit an, dass ich der Feuerwehr geholfen habe, eine Katze von einem Baum zu retten.“

„Ein Klettermaxe.“, rief Browne erfreut.

„Nein, ich habe Höhenangst.“ Brownes Gesicht zeigte tiefe Enttäuschung, aber auch Neugier.

„Was ist passiert?“

„Ich habe, sagen wir mal, die Katze veranlasst, herunterzukommen.“

„Katzenflüsterer?“ MW stimmte in das Lachen des Schwarzen ein.

„Vielleicht. Mein nächster Fall war ein ausgebrochener Braunbär, der im Zoo die Leute erschreckte. Ich war zufällig in der Nähe. Er wird wahrscheinlich niemals mehr freiwillig sein Gehege verlassen.“

„So schwer haben Sie ihn verletzt?“, staunte Browne.

„Nein, ich habe ihn gar nicht angerührt. Er ist traumatisiert. Wenn er mich sieht, verzieht er sich in die hinterste Ecke seines Geheges.“ Diese Worte waren mit großem Ernst gesprochen worden, so dass Browne sein Lachen im Halse stecken blieb.

„Dann ein paar Zufallsbegegnungen. Einbrüche, Überfälle, versuchte Körperverletzung, so etwas. Der Polizei fiel irgend wann auf, dass ich häufig Zeugenaussagen machte. Wir arbeiteten locker zusammen, das sprach sich herum. Privatleute engagierten mich, ich machte mich selbständig, staatliche Stellen wurden auf mich aufmerksam, fortan arbeitete ich mehr im Verborgenen, Sie kennen das.“

„Und dann betraten Sie die internationale Bühne.“

„Genau, und deshalb sitzen Sie jetzt hier.“

„Werden Sie den Auftrag annehmen? Wie gesagt, mit den Ermittlungen werden Sie nichts zu tun haben, es sei denn, Sie wünschen das, oder hätten etwas beizutragen.“

„Wie lange soll das gehen?“

„Was?“

„Die Aufpasserei.“ Browne wurde wieder rot, denn auch auf diese Phase des Gesprächs hatte er sich gründlich vorbereitet, doch ahnte er bereits, dass die Zehntausend am Tag diesen Mann nicht über seinen Schatten springen lassen würden.

„Bis keine Gefahr mehr besteht.“ Browne sah in das verzerrte Gesicht seines Gegenübers. „Oder Sie keine Lust mehr haben.“, schob er eilig nach. Das Gesicht entspannte.

„Lassen Sie uns noch ein Bier trinken.“, schlug MW vor, aber Browne wirkte nicht glücklich über diesen Vorschlag.

„Ich kann nicht mehr. Ich bin seit zwanzig Stunden auf den Beinen, dazu der Jetlag, und ich weiß immer noch nicht, wo ich die Nacht verbringen soll.“, stöhnte Browne nach dem vorletzten Bier mit schwerer Zunge. MW grinste ihn an.

„Dann sollten wir mal zahlen. Getrennt.“

Die Restaurantchefin verabschiedete die beiden Männer persönlich.

„Auf Wiedersehen, Herr …“ MW legte einen Zeigefinger auf die Lippen, zum Zeichen, dass sie seinen Namen nicht nennen sollte und Browne fing an zu kichern.

„Es darf nämlich niemand wissen, wie er heißt. Zumindest ich nicht.“, erklärte er der tapfer lächelnden Frau. Als sie draußen in der Nachtluft standen, kündigte er an:

„Morgen frage ich sie, ich glaube, ich bekomme sie rum.“ MW schüttelte den Kopf, hakte sich bei dem größeren Mann unter und dann marschierten sie, einer nicht unbedingt geraden Linie folgend, los.

„Ist es noch weit? Wieso sind Sie nicht mit dem Auto gefahren, wenn es eine solche Strecke ist?“, fragte Browne nach einer Viertelstunde. Natürlich hätten sie in ein paar Minuten bei MW sein können, doch dieser wollte es seinem ungebetenen Gast nicht gar zu leicht machen.

„Ich pflege nicht zu trinken, wenn ich fahre. Beziehungsweise umgekehrt.“ Hierüber hatte Browne eine Weile zu grübeln.

Dann standen sie endlich vor ihrem Ziel.

„Haben Sie irgendwelche Untiere auf dem Grundstück?“, wollte Browne wissen und zeigte auf den mannshohen Zaun, der das verklinkerte Einfamilienhaus umgab.

„Sie werden gleich das einzige sein.“, antwortete MW und öffnete das Tor. Browne kicherte wieder. „Was ist das denn für ein ulkiges Auto?“ Er zeigte auf den hohen, schwarzen Kompaktwagen.

„Es tut seine Dienste.“

„James Bond fuhr, glaube ich, Maserati.“

„Aston Martin. Außerdem bin ich nicht James Bond.“

„Ich dachte.“, kicherte Browne.

Mit den Worten „Ich bin besser“, schob MW seinen Gast ins Haus und geleitete ihn dann die Treppe hinauf. „Das ist das Gästezimmer. Schlafen Sie gut.“ Browne ließ sich auf das Bett fallen und war sofort eingeschlafen. MW ging noch einmal hinunter, nahm sich ein Bier und steckte sich eine Zigarette an, dann ging er wieder hoch in sein Arbeitszimmer, checkte sein Postfach, rief ein Programm auf, in dem er einige Einstellungen vornahm und begab sich ins Bett.

Mit dem Schlafen wollte es bei ihm trotz des genossenen Alkohols jedoch nicht sofort klappen, und das lag an der potenziellen Mandantin.

Normalerweise ließ er eine Nähe zu seinen Klienten nicht zu, und das fiel ihm, gerade wenn es sich um Politiker oder Leute aus der Wirtschaft handelte, nicht schwer. Eine persönliche Beziehung aufzubauen oder gar Gefühle zu entwickeln, hatte er bisher immer vermeiden können, und das hatte ihn keine Mühe gekostet. Nie.

Das aber schien nun anders werden zu wollen, denn er hatte die Bilder gesehen. Bilder von dieser Frau. Und die hatten wie ein Eisbrecher gewirkt. Einen Eisbrecher aber konnte er überhaupt nicht gebrauchen, schon wegen seines Berufsethos‘ nicht. Er würde hart bleiben müssen. Hart wie das härteste Eis.

Als der Morgen graute, musste MW sich erleichtern und stand deshalb auf. Im Erdgeschoss hörte er Geräusche. Leise schlich er die Treppe hinab und lugte ins Wohnzimmer, wo er Browne entdeckte, der sich an einer Schublade zu schaffen machte. Die Lade fuhr mit Macht zu, gerade, als der Amerikaner eine Hand hineinsteckte.

„Aaaahh.“ Browne zog seine Finger aus der Lade, hielt sie hoch und sah sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht kopfschüttelnd an.

„Ich habe Ihnen doch gesagt, sie sollen nicht schnüffeln, oder brauchten Sie noch ein verspätetes Betthupferl?“, ertönte MW hinter ihm und machte Licht. Browne sah MW entsetzt an.

„Ich habe Kopfschmerztabletten gesucht. Wieso ist die Lade plötzlich zugegangen?“ So, wie Browne aussah, glaubte MW ihm die Geschichte mit den Tabletten sofort.

„Kopfschmerztabletten alleine werden wohl nicht helfen.“, meinte er mit einem Blick auf die gequetschten Finger.