Die Faxen Dicke

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Die Faxen Dicke
Die Faxen Dicke
Hörbuch
Wird gelesen Reiner Hänsch
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Ich ziehe es vorsichtig aus meiner Tausend-Taschen-Hose und registriere noch vier Ladebalken. Könnte also noch eine Weile funktionieren. Schaltens wir’s also lieber erst mal aus.

Dann nippe ich an meiner braunen Brühe, schnibbele ein wenig am Toast herum und nutze die sinnlose Zeit des Wartens – mit Max kann man jetzt nicht reden, sein Hund hat gerade auf den Teppich gekackt –, um mir ein Bild von unseren Mitgefangenen zu machen. Schließlich ist es nicht unwichtig zu wissen, mit welchen Menschen man gemeinsam die Zeit der Verbannung verbringen wird, und ob es schon jetzt Anzeichen für mögliche spätere Spannungen und Auseinandersetzungen mit anderen Inhaftierten geben könnte.

Es gilt schon jetzt im Vorfeld, klug zu bewerten, wem man lieber aus dem Weg gehen soll und mit wem man sich möglicherweise zusammentun kann, um hier im tropischen Straflager Verbündete zu haben, mit denen man vielleicht sogar Ausbruchspläne in die Tat umsetzen kann. Papillon – Steve McQueen, Dustin Hoffman.

Direkt am Nebentisch vegetiert eine Familie vor sich hin, die sämtlich zusammengesackt vor den Herrlichkeiten des Frühstücks hockt und still und verzweifelt alles in sich hineinmampft. Das männliche Leittier dieser Gruppe taucht, tief auf seinen haarigen Arm gestützt, fast mit dem Gesicht ins Rührei und schlürft es laut und unappetitlich in sich hinein. Er hängt so tief über der Eimasse, dass man weder sein Gesicht erkennen noch die geschickte Schaufelbewegung der rechten Hand bewundern kann. Jeff Goldblum – Die Fliege, denke ich, der gerade nach dem misslungenen Selbstversuch mit seinem neugewachsenen Insektenrüssel eine Suppe schlürft. Bäh. Ich widme ihm meine ganze Verachtung.

Der Tisch auf der anderen Seite ist belebt von einem munteren Völkchen aus dem Norden. Zweifellos. Alle blond, recht groß und mit scharfkantigen Gesichtern versehen. Das Leben im Norden scheint wahrlich nicht einfach zu sein, aber man macht das Beste daraus. Gelegentliche herüberflatternde Wortfetzen wie „Oukohänstalasyönytlyijykynähämäläinen“ oder so was Ähnliches stützen meine nordische Theorie. Ich tippe auf Norwegisch, Finnisch, Läppisch … Keine Ahnung.

Ihr etwa vier- bis fünfjähriger, blonder Sohn, der in einem vollständigen Superman-Outfit am Frühstück teilnimmt, wird an-dauernd und lautstark mit „Osgary!“ ermahnt, weil er eben nur Mist baut. Soeben hat er seinem Vater, der irgendwie abwesend wirkt und nicht am Leben der Familie teilzunehmen scheint, beide Toasts geklaut, um sie an die rund um uns herum lauernden Vorwurfsvögel zu verfüttern. Der Mann hat es aber in seinem Kummer nicht bemerkt, wundert sich jetzt nur traurig über das heute wohl etwas mager ausgefallene Frühstück. Neidisch blickt er auf die vollen Teller seiner läppischen Restfamilie.

Er ist scheinbar ein Mann, der sich Fragen stellt. Wie er zu dieser Familie gekommen ist, oder wie er in dieses Land gekommen ist. Möglicherweise ist er ein Professor, der an einem nicht lösbaren Problem verzweifelt, das er seit Jahren mit sich herumschleppt. Ein Virenforscher vielleicht, der mit dem Gedanken spielt, mit dem tödlichen Virus doch endlich einen Selbstversuch zu wagen, auch wenn er es mit dem eigenen Leben oder schrecklichen Entstellungen bezahlen muss, um endlich das dunkle Geheimnis lösen zu können. Ein unheimlicher Mann. Ich beschließe, ihn „Dr. Mabuse“ zu nennen.

Dann gibt’s da noch eine überaus laute sechsköpfige Primatenfamilie, die von einem gefährlichen Silberrücken beherrscht wird. Der Silberrücken, ein grauhaariger, groß- und grobgewachsener Mann von enormem Umfang, lacht ständig laut und rücksichtslos, offensichtlich über seine eigenen Brüller, und seine Familie lacht mit. Sie müssen wohl. Nach außen hin aber sind sie ein kreischender, fröhlicher Haufen, der mir jetzt schon gewaltig auf den Keks geht. Louis scheint der Silberrücken zu heißen. Jedenfalls nennt ihn seine Frau so. Also, King Louie. Alles klar.

Ganz hinten sehe ich unseren neuen Nachbarn mit seiner Frau. Das Ehepaar Lotze-oder-so .Sie sind auch eben erst angekommen. Trödler! Er winkt uns freundlich zu, während Frau Lotze traumatisiert auf ihr Spiegelei stiert, ohne es zu essen.

Da kommt Steffi aus der Toilette zurück und hat sich wohl einigermaßen gefangen. Sie sieht mich an, ist gestärkt und wieder hergestellt. Woraus man in einer stinkenden Toilette so viel Kraft schöpfen kann, ist mir zwar nicht klar, aber es hat offensichtlich funktioniert. Die Spuren ihrer bitteren Tränen sind beseitigt. Hat sie womöglich das gefährliche Wasser für ihr Gesicht benutzt? Kommt es hier aus allen Wasserhähnen? Ist sie schon so weit? Rüdiger Nehberg?

„Steffi“, sage ich und drücke ihre schönen, schmalen Hände, die ich so sehr mag, ach, eigentlich mag ich ja alles an ihr. Sie ist so perfekt, das wird mir erst jetzt mal wieder so richtig klar, auch ohne Löcher in den Ohren. „Ich wär auch drauf reingefallen, bestimmt.“

Sie lacht leise und sagt: „Okay, dann lass uns jetzt den verdammten Urlaub genießen. Ich mein’s ernst.“

„Okay, ich auch!“

Den ersten richtigen, bei vollem Bewusstsein erlebten Tag im Paradies wollen wir ganz langsam angehen lassen. Und nachdem wir Max mehrmals gefragt haben, wie es ihm denn so gehe, und er jedes Mal „alles cool“ gesagt hat, obwohl er immer noch etwas Temperatur hat und laut bellt, beschließen wir, es ihm zwar nicht zu glauben, aber es trotzdem erst mal zu versuchen.

„Ich muss noch mal schnell zur Rezeption“, sage ich unverfänglich und so wie ganz nebenbei, aber Steffi schaut mich skeptisch an.

„Was willst’n da?“

„Ach, äh … nur mal so informieren“, sage ich noch und bin auch schon weg. „Drei Minuten!“, rufe ich noch. Ich will sie ja schließlich überraschen mit einem tollen neuen Luxusbungalow mit Minibar und allem. Na, die werden staunen.

Leider, erklärt man mir in der Rezeption freundlich lächelnd, seien alle Bungalows belegt. Tausch nicht möglich. Und warum auch? Alle Bungalows seien ja schließlich gleich. Ja, aber es gäbe doch „Senator“ und „Deluxe“ und so, bringe ich entrüstet vor.

„No, no, all the same.“

Aha. Ein Ladegerät für mein Handymodell gäbe es auch nicht und man hätte auch keine Ahnung, wo man so etwas bekommen könnte.

Nicht. Aah so. Na gut. Dann eben nicht.

Aber man hätte ja schließlich hier in der Rezeption ein tadel- los funktionierendes Hoteltelefon.

Ja. Er zeigt mir, wo es hängt, und ich sehe einen veralteten Münzfernsprecher. Und auf die Frage, warum denn in unseren Bruchbuden kein Telefon wäre, zuckt er nur mit den Schultern und lächelt.

Man kann diesen freundlichen Menschen ja nicht so richtig böse sein.

„Also, dann lasst uns doch mal sehen, wie es hier so ist“, rufe ich meinen beiden fröhlich zu, als ich unverrichteter Dinge wieder zurück auf dem Frühstücksdeck bin, und klatsche albern und unternehmungslustig dabei in die Hände.

Erst mal so rumgucken, denke ich. Von mir aus auch blöd. Egal. Wir sind im Urlaub. Alle und alles kennenlernen, sich orientieren. Wo bin ich, wer bin ich, wo komme ich her, wo will ich hin, und was will ich hier überhaupt?

„Strand!“, ruft Max und er hat verdammt recht.

Natürlich. Genau. Erst mal zum Strand. Wenn der Strand gut ist, dann ist alles andere nur noch halb so schlimm. Dann erträgt man sogar Essen mit erheblichem Optimierungsbedarf und tödlich-braunes Leitungswasser. Also traben wir erwartungsfroh los – immer den fröhlichen „Beach“-Schildern nach.

Sie führen uns zunächst einmal runter zur belebten Straße, die man dann leider erst mal überqueren muss. Das ist nicht ganz so romantisch, wie es der Katalog laut Steffis Aussagen verkündete.

Im Prospekt stand „direkt am traumhaften Strand von Chaweng Beach“ und auf jeden Fall nichts von irren Geschwindigkeitsrekorden, die wahnsinnige Selbstmörder auf dieser Piste zu brechen versuchen. Das Traumhotel liegt aber, wie es der Name ja auch schon diskret andeutet, etwas oberhalb auf einem Felsen, den man aber nicht sieht, weil er von diesem Dschungelgrün total überwuchert ist. Egal. Wir haben Zeit und Urlaub, und schon nach einer angemessenen Weile haben wir auch raus, wie schnell die sich teilweise schleudernd und mit quietschenden Reifen annähernden Fahrzeuge in gefährlicher Distanz zu uns sind, und wenn die Lücke uns groß genug erscheint, dann wollen wir es wagen, erst mal einen von uns probeweise durch diese Hölle zu schicken.

Leider sind die braunen Stauseen der letzten Nacht noch längst nicht weggetrocknet, und so müssen wir immer wieder den gewaltigen, großartigen thailändischen Wasserspielen ausweichen, die die vorbeirasenden Fahrzeuge auslösen, und die Überquerung verschieben, auch wenn der Zeitpunkt verkehrstechnisch gerade sehr günstig scheint. Ich melde mich natürlich als mutiger, erster freiwilliger Kandidat dieses Himmelfahrtskommandos, und suche meine Lücke.

Und als ich lebend, einigermaßen trocken und somit zumindest äußerlich unbeschadet auf der anderen Seite ankomme, und glücklich winke, macht es meine Familie mir mutig nach.

Ich weiß nicht, ob es gerade die Rush-Hour oder die Normalität ist, einfach ist es jedenfalls nicht. Aber wir haben unser erstes Abenteuer bestanden, und der Strand ist schon zu sehen. Gleich wird das Urlaubsfeeling aber schlagartig und mit voller Wucht einsetzen, da sind wir uns jetzt ganz sicher. Und so streben wir in großer, freudiger Erwartung dem weißen, leuchtenden Sand entgegen. Die Hitze dieses Morgens ist schon beachtlich.

Nun gut, es müssen nur noch ein paar wenige Hindernisse umgangen werden, wie ein Haufen alter Bretter – „Achte auf die Nägel, Max!“ – und zwei oder drei Schrottmopeds, die hier, sicherlich unabsichtlicherweise, vergessen worden sind, aber dann sind wir auch schon da. Schuhe aus und den Sand fühlen.

 

Max und ich sind ja sowieso schon barfuß, was bei der Straßenüberquerung nicht unbedingt von Vorteil war, man ist so einfach nicht schnell genug, und Steffi wollte schon wieder umkehren, um aus unserem Superior Hillside Bungalow erst mal die geeignete Expeditionsausrüstung zu beschaffen. Aber mit „Ach was, jetzt lass uns erst mal gucken gehen. Sind ja nur ’n paar Meter“ kann ich die knurrende Steffi dann doch noch überreden, was sie allerdings hinterher als einen großen Fehler bezeichnen wird.

Strand. Ja, das ist es doch.

Ach, ist das herrlich. Natur, Palmen, Kokosnüsse, Bacardi, alles eben. Es sind halt nur viele, viele Menschen hier, die man auf den Bacardi-Filmen nie sieht, weil sie wahrscheinlich alle hinter die Kamera gejagt wurden, aber das ist ja hier auch das richtige Leben. Das ist eben Urlaub.

Tja, was fehlt jetzt noch zum absoluten Glücklichsein? Eine Liege. Na klar. Sonst geht’s ja nicht. Aber die Liegen, die wir sehen, sind leider alle belegt. Und wenn sie nicht mit echten Menschen tatsächlich und im richtigen Sinne des Wortes be-legt sind, dann sind sie stellvertretend für die wahrscheinlich erst später eintreffenden dazugehörigen Menschen durch die braunen Frottee-Handtücher unseres Hotels be-legt. „Paradise Rock Resort“ ist kunstvoll und in edel geschwungenen Lettern auf die Handtücher gestickt, die uns sagen: „Ätsch, zu spät. Das wäre Ihre Liege gewesen!“

Ach, brauchen wir eine blöde Liege? Soll unser Urlaubsvergnügen von zwei Metern parallel vernagelten Holzlatten auf vier wackeligen Beinen abhängen? Nein, wir brauchen keine Liege. Lächerlich. Wir doch nicht.

Neidisch schielt Steffi zu all den bereits gebräunten und relaxten, geschmeidigen Körpern hinüber, die mit Buch, gar nichts oder Kaltgetränk wie selbstverständlich mit ihrer Liege verschmelzen und schadenfroh zu uns Neuen herübersehen. Dass das Ehepaar Leichenhalle auch schon bräsig in der Sonne brät, brauche ich nicht zu erwähnen. Naja, also eigentlich brät nur sie in der Sonne. Der Gatte Schorsch wird noch ein wenig herumgeschickt, um dies und das herbeizuschaffen

„Egal“, sage ich, „legen wir uns in den Sand. Was brauchen wir eine verdammte Liege? Hatten Adam und Eva eine Liege, oder Robin Kruse?“

Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, dass ich so auf den Naturtrip komme – Rüdiger Nehberg –, aber ich sehe keinen anderen Ausweg, als ganz weit runter bis in die Anfänge der Menschheit zu gehen, um mir dieses bis jetzt so erbärmliche Urlaubsdasein irgendwie schönzureden.

„Liegen sind doch was für Weicheier“, sage ich, etwas zu laut vielleicht, weil es mir einige böse, unverständige Blicke einbringt, werfe mich einfach der Länge nach in den Sand und wälze mich auch noch eifrig darin herum, als würde es mir Spaß machen.

„Eine blöde Erfindung der durch Jahrtausende hindurch verweichlichten Menschen. SCHEISS LIEGE BRAUCHT KEIN MENSCH!“, brülle ich jetzt über den ganzen Strand mit seinen schockierten Bewohnern.

Max und Steffi sehen mich fassungslos an und können es nicht glauben, dass ich mich da wie ein BSE-kranker Bulle im Sand suhle, wenden sich angewidert ab und trotten zielsicher und findig der kleinen Holzbude entgegen, die den Namen unseres paradiesischen Resorts trägt. Dort gibt es diverse Getränke, Sportgeräte, Plastik-Kajaks zum Selberpaddeln – und braune Handtücher. An den Ecken schon etwas ausgefranst.

Als meine Familie sich dann auf ihren braunen Paradies-Lappen in angemessener Entfernung von mir niederlässt – nicht ohne vorher wenigstens einige der angeschwemmten Plastikrohre und Autoreifen außer Sichtweite zu tragen –, stehe ich beleidigt wieder auf und fühle mich wie ein paniertes Schnitzel kurz vor der Pfanne. Feinster Sand in allen Poren.

Vielleicht ist das einfache Strandleben doch nichts für mich. Vielleicht brauche ich doch etwas zwischen mir und dem fremden, menschenfeindlichen Element Sand. Ich schlurfe also möglichst lässig hinüber zu der Bude, die ich immer interessanter finde und begutachte erst mal ganz unverbindlich das Angebot der Außenbarfiliale unseres tollen Hotels.

„Wott ju want, Sir?“

„Mmmmmmmh.“

Ich entscheide mich nach langer, reiflicher Überlegung, gründlichem Abwägen verschiedener Faktoren und einem kurzen, verstohlenen Blick auf meine Familie und meine Armbanduhr für ein einfaches Bier. Der Blick auf die Uhr, nur so, um zu sehen, ob es für ein wenig Alkohol schon spät genug ist. Ist es natürlich nicht.

Ja. Ein Bier soll es sein. Ein einfaches Bier. Keine aufwendigen, schnöseligen Drinks mit albernen Fruchtverzierungen und lächerlich gebogenen, bunten Trinkhalmen mit Papierrosetten und Zitronenscheibchen mit Nationalflagge, oder so was. Nein, nein, nur ein Bier. „Singha“ heißt das hier, wird einfach direkt in der braunen Flasche serviert und auch direkt daraus getrunken, und es schmeckt herrlich.

Dafür ist es erstaunlich preiswert. Es kostet nur ganze sechzig Baht. Das ist hier die offizielle Währung, und es wächst so ein dumpfes Gefühl in mir, gestern doch etwas Entscheidendes falsch gemacht zu haben, als es um die Verteilung der Trinkgelder ging.

Ein Baht, das ist ja nur … nein, das ist zu wenig, das kann man gar nicht ausrechnen, aber hundert Baht, das sind in etwa – irgendwo in meiner Tausend-Taschen-Hose habe ich doch diesen Zettel versenkt, auf dem ich alles schon mal ausgerechnet habe – ach, da ist er ja schon. Also, hundert Baht, das sind so in etwa zwei Euro fünfzig, also sechzig Baht dann etwa ein Euro fünfzig. Dann ist das Bier zwar doch nicht ganz so preiswert, wie ich erst dachte, aber es geht ja noch.

Aber tausend Baht, und das sind ja diese schwach grünlichen Scheine, die ich gestern dem Toyota-Fontänen-Fahrer und auch dem hoteleigenen Kofferträger im Halbschlaf lässig überreicht habe, das sind ja dann ungefähr fünfundzwanzig Euro! Das ist selbst für einen mitteleuropäischen Kofferträger ein mehr als angemessenes Salär und wahrscheinlich mehr als ein Wochengehalt für einen hier arbeitenden Einheimischen in derselben Berufssparte.

Naja, gut, ich will das mal schnell wieder vergessen und meiner Familie auch erst mal nichts über meine eben erst entdeckte Freigiebigkeit sagen, aber ich sollte in Zukunft vielleicht etwas besser aufpassen!

Ach ja, das ist schön. Ich konzentriere mich jetzt wieder ganz auf mein kühles Bier. Damit sind vom ersten Schluck an die Gesetze der Zivilisation ganz einfach außer Kraft gesetzt.

Es ist Viertel nach elf vormittags, es ist heiß, ich sitze im Schatten neben einer schiefen Palme irgendwo ganz weit weg und trinke Bier, ohne mich seltsam dabei zu fühlen oder gar Schuldgefühle zu haben. Alle trinken Bier. Alle Männer jedenfalls.

Wurde ich soeben noch von allen als „der bekloppte Neue“ beargwöhnt und eher ungern geduldet als zum Beispiel freundlich begrüßt, so ändert sich das, was die Urlaubs-Männer angeht, schlagartig mit dem ersten Singha. Man prostet mir fröhlich zu und nimmt mich mit offenen Armen in die Gemeinschaft der anonymen Urlaubs-Alkoholiker auf. Auch der tätowierte Herr in Sichtweite mit dem wunderschönen Wildrosengesteck auf der breiten Brust und der gefährlich zischenden Schlange auf dem muskulösen Oberarm, die aus offensichtlich einer anderen Schaffensperiode des Tätowierkünstlers zu stammen scheint, prostet mir aufmunternd zu.

„Well done!“, sagt er und bestärkt mich damit in meiner Entscheidung für ausgerechnet dieses offensichtlich hier sehr beliebte Kaltgetränk. Ich fühle mich gut, eigentlich sogar schon großartig, sehe mich interessiert um und beobachte das bunte Treiben auf und neben den Liegen.

Da stakst der lange Lotze-oder-so heran.

„Darwich Ihnen Chesällschaft laist’n?“, fragt er höflich, und als ich etwas unentschieden, aber dennoch freundlich nicke, setzt er sich neben mich und bestellt sich mit einem Wink zur Hotelbarholzbarackenbude ebenfalls ein Bier.

„Au’ kaine Liege, wonnich?“, fragt er mich bedauernd.

Ich zucke mit den Schultern und sage: „Was soll’s? Ich brauch keine.“

„Ich aunich, un maine Frau is in unsere Bretterbude verschwund’n. Is dat hia nich ’n fuachbares Barack’nlager, hönn’ Se ma? Ham’ Se au’ vierzehn Tage ohne Bewährung? Ha, ha, ha!“

„Jou, zwei Wochen!“, proste ich ihm zu, und wir lachen beide herzlich. Ist doch ’n ganz sympathischer Kerl, dieser Lotze-oder-so. Wo der wohl genau herkommt?

„Prost, ich bin der Pädder aus A''endorn!“, sagt er. A''endorn ohne „t“. „Nachnamen sin ja egal.“

Und ich weiß ja schon, dass er Lotze heißt.

Aus Attendorn, also. Wusste ich’s doch. Sauerland. Ich antworte wahrheitsgemäß mit „Alex“ – Nachnamen sin ja egal – „aus Leckede-Hintersten“.

„Wat? Dat gibbs donnich!“, brüllt er da und dann lassen wir es gluckern.

Zwei Sauerländer im Paradies! Das gibt’s ja nun wirklich nicht.

Tja, Leckede-Hintersten. Wie bin ich da bloß hingekommen? Vorher Köln. Die schöne Stadt am Rhein ist zwar auch nicht gerade die Mega-City, aber es ist schon deutlich mehr Bewegung dort.

In den acht Kölner Jahren war ich Redakteur beim Kölschen Rundblick. Und beim intensiven Rundblicken habe ich neben ’ner ganzen Menge berichtenswerter Dinge auch meine Steffi entdeckt. Meine liebe, tolle, schöne Frau Steffi. Die hat beim Kölschen Rundblick versucht, in der Buchhaltung alles richtig zu machen und ich musste plötzlich oft bei ihr vorbei. Sehr oft. Übertrieben viele Spesenbelege, unzählige Benzinquittungen und bunte Taxirechnungen habe ich ihr dargebracht, wie manche Vogelmänner ihren angebeteten Vogelweibchen farbige, schillernde geklaute Dinge anschleppen, um sie zu beeindrucken. Steffi war beeindruckt und dann haben wir endlich geheiratet, Vogelhochzeit, und ich musste los und voller Vorfreude Wolle für unser Nest suchen.

Naja, als dann unser Küken Max seine Eierschale durchbrach, hat sich das fröhliche Leben der beiden lustigen Vögel Alex und Steffi Knippschild radikal geändert.

Für so einen kleinen Kerl muss man kräftig ranschleppen, leiden und auch Zeit haben, wenn er nun schon mal da ist. Und Max war da. Und wie! Nächte ohne Schlaf, Tage ohne Saft und Kraft. Oft haben wir ihn schreiend aus dem Bettchen genommen – also, geschrien hat er –, schön warm eingepackt und behutsam ins Auto getragen, um dann mit ihm Richtung Holland zu fahren. Holland musste nicht unbedingt sein. Holland interessierte unseren Max eigentlich überhaupt noch nicht. Aber das Motorengeräusch war ein ganz großer Zauber. Max ist immer sofort eingeschlafen, sobald der erste Zündfunke die Kolben in Bewegung setzte. Der Verbrennungsmotor ist eine wunderbare Erfindung.

So eine Tour Richtung Holland dauerte dann schon mal eine oder auch eineinhalb bis zwei Stunden und fand eben mitten in der Nacht statt, wenn die ganze Welt schläft und für die Wachen-den alle Probleme groß und deutlich werden. Und unser Problem war der flotte Dreier, zu dem unsere kleine Schicksalsgemeinschaft ja nun herangewachsen war. Wir waren noch nicht so richtig glücklich. Und das wollten wir unbedingt sein, wir lustigen Knippschildvögel.

Steffi hatte ihren Buchhaltungsjob in der Welt der Neuigkeiten inzwischen aufgegeben, weil sie sich ja um unsere ganz persönliche Neuigkeit, den Knirps, kümmern musste. Und ich steckte immer noch voll drin. Voll.

Bin aber auch selber schuld! Ich knie mich eben immer bis zum Hals rein. Egal in was. Ich kann nicht anders. Aber wenn wir irgendwann nach unserem Beziehungsstatus gefragt worden wären, dann hätten wir eigentlich ein Kreuzchen bei „getrennt lebend“ machen müssen. Das konnte nicht lange gut gehen.

Wenn ich schwer genervt und schwer spät aus der noch brodelnden Redaktion kam wie das Ding aus einer anderen Welt mit aufregenden Berichten aus dem Leben da draußen, dann bekam ich im Austausch die neuesten Windelberichte zu hören. Doch ich wollte beim Thema „wunde Popos“ nicht so recht anbeißen und Muttervogel Steffi interessierte sich nicht für meine korrupten Kommunalpolitiker, die schamlos abkassierten, wenn ihr Jungvogel Dünnschiss hatte und keine Würmer mehr fraß.

Und so beschlossen wir auf einer dieser längeren Holland-Nachtfahrten, etwas zu ändern. Möglichst schnell. Jedenfalls, bevor Max in die Schule kommen sollte.

Und so gingen wir schon bald ins Sauerland.

Da komme ich auch eigentlich her. Ich bin da geboren. Und eines Tages erzählte mir ein alter, zurückgebliebener Freund von dem freien Posten als Redaktionsleiter, also quasi CHEF, dieses kleinen Käseblattes, das ich noch aus meiner Kindheit kannte und auch da schon heftig verachtet hatte. Als ich dann Steffi davon berichtete, waren wir beide nach einer Weile ganz sicher, dass das der schönste Job der Welt sei. Käseblatt hin oder her.

 

Und ich hab den Job bekommen.

Der Verdienst sollte nicht gerade üppig sein, doch dafür schien es das zu geben, was wir dringend brauchten: Zeit. Jede Menge Zeit für uns, für unsere kleine, junge Vogelfamilie. Und ich könnte außerdem wieder weiter an meinem Buch schreiben, dass schon seit Jahren sehnsüchtig auf neue Kapitel wartet.

Und dann das Sauerland selbst. Ein schönes Fleckchen Erde, wenn man an den Misthaufen vorbeiguckt. Ich kenne es ja gut. Tausend Berge, tausend Täler, jede Menge Natur, weit weg von der bösen Stadt … ja, ja, das wollten wir machen. Und so kauften wir ein altes Fachwerkgehöft in Leckede-Hintersten.

Ja, ja, is nich Köln.

„Ooch, ist das schön!“, hauchte Steffi mit fiebrigen Wangen, als wir es zum ersten Mal im Immoscout entdeckten. Bilderbuch. Einfach toll. Als der erregte Makler es uns dann schweißgebadet präsentierte, erklärte sich auch schnell der relativ günstige Preis durch feuchte Wände und morsche Balken … naja, man kann nicht alles haben. Aber darum kümmerte sich händereibend das ortsansässige Bauunternehmen Biggemann und nach ein paar langen Wochen und einem gewaltigen Stapel Rechnungen konnten wir dann tatsächlich unsere paar Möbel zwischen das alte Ständerwerk stellen – und anfangen zu leben.

Natürlich habe ich auch die Arbeit beim anfänglich verachteten Sauerlandbeobachter richtig ernstgenommen. Das kann man wohl auch erwarten.

Der Pädder aus Attendorn holt eine Zigarre aus einem schön ziselierten silbernen Etui und entzündet sie ritualisch. Und dann unterhalten wir uns prima über dies und das – aber nicht über unsere Jobs. Auf keinen Fall. Nein, das gehört hier nicht hin. Ich will auch nicht wissen, was der Pädder so macht und der Pädder wohl auch nicht, was ich mache.

„Ich hol nomma Bier, woll“, sagt Pädder dann und strebt auf die Strandbude zu. Ich halte zwischendurch ein paarmal nach meiner Familie Ausschau.

Verdammt, ich habe ja immer noch nicht angerufen! Meine Güte, was macht dieser Urlaub bloß aus mir? Hastig ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Es hat noch drei Balken.

Ich wähle die Nummer von Ulli, es klingelt ein paarmal … ich warte … aber da fällt mir ein, dass ja heute Weihnachten ist. Naja, da kann ich ja eigentlich nicht stören. Außerdem ist die Redaktion ja auch gar nicht besetzt. Und außerdem (!) ist es jetzt im Sauerland erst Viertel nach fünf morgens. Ach, du lieber Himmel. Schnell drücke ich die rote Taste und lege das Handy kopfschüttelnd weg. Immer noch drei Balken.

Am Strand kann ich Steffi entdecken. Sie ist offensichtlich auf ihrem braunen Paradies-Frottee eingeschlafen, und Max sitzt mit dem Game Boy im dunklen Schatten einer hohen Mauer, die den Bereich des Paradise-Hotelstrandes gegen das unsichere Gelände abgrenzt, auf dem einige echte Eingeborenenhütten mit echten Eingeborenen stehen, die man vom Hotelstrand lieber nicht sehen soll. Alles hat seine Ordnung und Pädder ist mit dem neuem Bier zurück.

Ich trinke eigentlich nie Bier und schon gar nicht um Viertel vor zwölf vormittags, sondern meistens roten Wein, aber den auch erst, wenn es draußen schon dunkel ist. Aber heute trinke ich halt im Hellen mal Bier für sechzig Baht. Es ist ja schließlich ein besonderer Tag. Der erste richtige Urlaubstag, und da ist alles möglich.

Pädder, also Peter heißt er ja sicher, erzählt mir, dass seine Frau diese „schäbbige Baracke hia“ gebucht hätte. Und er sich „eing’klich auch wat Bässeres laist’n“ könnte: „Abba man muss de Kohle ja nich zum Fenster rausschmeißen. Immer schön au’m Teppich bleiben, woll!“

Aber jetzt wäre er nun mal hier und es würde ihm sogar irgendwie gefallen. Hauptsache mal Urlaub. Er wäre ganz zufrieden. Außerdem wäre er hier, um sich mit dem ganzen „Wällness-Quatsch ma so richtich zu befass’n, woll“. Und da hätten die in Thailand ja richtig Ahnung von.

Wellness. Och nä.

Pädder und ich beobachten interessiert und angewidert zugleich einen dicklichen, älteren Herrn, der sich gerade von einer, vielleicht seiner, jungen Thai-Frau von oben bis unten mit Sonnenöl einreiben lässt und es offensichtlich sehr genießt. Sonnenöl, hahaha, das haben wir ganz vergessen, mit an den Strand zu nehmen. Wie lustig. Wir haben ja alles vergessen oder gar nicht erst mitgenommen, weil wir ja nur mal eben so gucken wollten, wie’s am Strand so ist.

Und so ist es: Pädder und ich trinken gemütlich unsere Biere, und die schwarze Wolke, die vor einer Stunde noch weit hinten und ganz ungefährlich über einer anderen kleinen Nebeninsel schwebte, nähert sich mit jetzt schon messbarer Geschwindigkeit. Die Sonne verschwindet beleidigt und die ersten Ausläufer der Wolke sondern schon mal drohend einige noch vorsichtige Tropfen ab, was aber die meisten der anderen gerade noch lässig faulenzenden Strandbewohner veranlasst, augenblicklich aufzuspringen, ihre Habseligkeiten in panischer Eile zusammenzuraffen und den Strand ohne ein Wort des Grußes fluchtartig zu verlassen.

„Waichaier“, sagt Pädder und wir nehmen beide noch einen ordentlichen Schluck Singha.

Habe ich schon fünf Bier getrunken?

Plötzlich steht Steffi vor uns, hat noch ganz verschlafene Augen und irgendwas an ihr erinnert mich an eine fast verglühte Raumkapsel beim Eintritt in die Erdatmosphäre. Es dampft regelrecht, wenn die dicken Regentropfen auf ihre Lobster-like-gerötete Haut platschen, und ich meine auch, es zischen zu hören. Pädder sieht sie mit offenem Mund an.

„Tach zusammen!“, sagt Steffi und: „Is was?“

„Das ist Pädder“, sage ich, ohne die Augen von ihr zu nehmen, mit einem Wink auf meinen neuen, Zigarren rauchenden Freund, aber der interessiert Steffi nicht sonderlich. „Pädder kommt aus Att’ndorn. Kannssu das glaub’n?“

„Wo ist Max?“, fragt sie stattdessen besorgt, ich deute nur stumm, kraft- und fassungslos in Richtung Mauer, und er kommt auch just in diesem Moment angerannt und flucht.

„Scheiß Regen, schon wieder!“, sagt er, als er uns erreicht, sich zu uns unter das kleine Holzdach gesellt und sich wieder in seinen Game Boy vertieft. Er nimmt um sich herum wenig bis nichts wahr.

„Ihr trinkt Bier?“, fragt Steffi, als hätte sie kein, oder zumindest nicht genügend Verständnis für unsere kleine private Feier aus Anlass des ersten Urlaubstages hier vor der Holzhütte der Paradies-Filiale. Wir sehen uns unsicher und schuldbewusst an und Pädder sagt: „Singha! Chanz lecker. Wolln se au ains?“ Dann steht er auf und verbeugt sich leicht und ziemlich altmodisch zu Steffi hin.

„Pädder.“

Auf den fragenden Blick von Steffi hin verbessert er seine nachlässige Aussprache: „Peetäär.“

„Aha“, meint Steffi nur, verrät aber ihren eigenen Namen noch nicht.

Da zuckt ein Blitz in Weltuntergangsgröße über den bereits verdunkelten Strand, und es donnert, dass uns all unsere Sünden einfallen. Ich nehme schnell noch einen letzten Schluck Singha, verabschiede mich von Pädder, der jetzt auch seine Baracke aufsuchen will, und dann rennen wir durch das Unwetter zurück zur Straße, die man gar nicht mehr findet, weil sie sich inzwischen in einen riesigen See verwandelt hat, dessen brodelndes, braunes Wasser uns fast bis zur Hüfte geht. Wir durchschwimmen ihn todesmutig und flüchten völlig durchnässt und erschöpft in die Sicherheit unserer Superior-Hillside-Urlaubsbude.

Erst da wird die ganze Katastrophe des spontanen, auf mein Drängen so ganz ohne Planung und Vorbereitung begonnenen Urlaubsvormittages sichtbar. Max zittert am ganzen Körper, er friert und ihm ist schlecht, außerdem bellt er noch immer wie ein Seehund und hat Temperatur. Steffi schickt ihn sofort ins Bett, wühlt jetzt schon wieder wütend in ihrer Apothekentasche und scheint auch irgend was Fieses gefunden zu haben, das sie ihm unter heftiger Gegenwehr eintrichtert, während sie mir giftige Blicke und ganz üble Schwingungen sendet.