Buch lesen: «LOCKDOWN», Seite 3

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Samstag, 25. Januar
+ + + CORONA FLIEGT HIN UND HER + + + »HOT TOPIC« IN GRINDELWALD + + + MARCEL SALATHÉ WIRD NERVÖS + + + DAS JAHR DER RATTE BEGINNT SCHLECHT + + +

Wuhan ist zwar dicht, doch das Virus fliegt zwischen Asien und Europa hin und her. Die Reisegruppe aus Wuhan hat Plätze für einen Nachtflug nach Guangzhou ergattert, wo sie früh am 25. Januar landet. Von dort aus wären es noch nicht ganz 1000 Kilometer in die seit knapp zwei Tagen abgeschottete Heimatstadt, immer nordwärts.

Das Virus ist da aber schon wieder in der Gegenrichtung unterwegs. Von Asien nach Europa, ja in die Schweiz: Ein Engländer namens Steve Walsh ist von Singapur aus, mit einem kurzen Zwischenstopp in London, nach Genf geflogen. Zuvor hat er sich im Stadtstaat angesteckt, an einer Konferenz im Hotel Grand Hyatt. Davon bemerkt er nichts, als er in die Ferien in die Alpen unterwegs ist.

Der Fall des 53-Jährigen aus dem südenglischen Brighton wird später ebenso minutiös rekonstruiert wie jener der Reisegruppe aus Wuhan. Durch die Analysen erfährt die Wissenschaft mehr über die rätselhafte Krankheit. Ein schlimmer Verdacht wird sich erhärten: Auch Personen ohne oder mit nur leichten Krankheitssymptomen geben das Virus weiter. Das erschwert die Eindämmung ungemein.

Steve Walsh, der Passagier aus Singapur, reist vom Genfer Flughafen 84 Kilometer weiter nach Saint-Gervais im Mont-Blanc-Gebiet. Im französischen Skiort verbringt er den Abend mit Freunden. Erst jetzt spürt er sehr milde erste Krankheitszeichen. Seine Ferien mag er nicht abbrechen.

Zu diesem Zeitpunkt weiss noch niemand genau, wie sich das Virus verbreitet: höchstwahrscheinlich über Tröpfchen, die insbesondere mit Husten oder Niesen bis zu zwei Meter durch die Luft fliegen. Befürchtet werden auch Schmierinfektionen, zum Beispiel über Türfallen oder Haltegriffe im öffentlichen Verkehr. Deshalb wird bald schon fleissig desinfiziert, aber diese Art der Übertragung wird sich mit der Zeit als selten herausstellen. Stattdessen kristallisiert sich immer mehr heraus, dass Aerosole gefährlich sind. Minipartikel, die nicht wie beim Husten oder Niesen ausgestossene Tröpfchen rasch zu Boden sinken, sondern länger in der Luft schweben. Erst recht in geschlossenen Räumen in der Luft. Dadurch sind insbesondere alle gefährdet, die mit Infizierten unter demselben Dach leben.

So wie Steve Walsh’ Freunde, mit denen er ab dem 25. Januar im französischen Skigebiet Les Contamines ein Chalet teilt und dort, aber auch unterwegs, innert weniger Stunden höchstwahrscheinlich elf andere Briten ansteckt.

EBENFALLS IN DIE BERGE gereist ist am 25. Januar Daniel Koch, er allerdings nur bis Grindelwald. Am Fuss des Eigers versammeln sich Schweizer Fachleute in Virenkunde und auch ein paar internationale Koryphäen zum alljährlich stattfindenden Kongress »Challenge in Virology«. Er findet im Hotel Sunstar statt, einem überdimensionierten Chalet. Eigentlich hätte Daniel Koch Ferien gehabt, aber dafür bleibt jetzt keine Zeit. »Es war klar, dass das die Gelegenheit ist, um über das neue Virus zu reden«, sagt Daniel Koch.

Pünktlich zur Veranstaltung in Grindelwald ist aus Genf eine Schocknachricht gekommen. Die WHO beschreibt in einem Situationsbericht ein Szenario, das sie unbedingt verhindern wollte: Vietnam hat jetzt eine Infizierung mit dem Coronavirus bei einem Mann bestätigt, der zuvor nicht in China war.

Was ebenso geahnt wie befürchtet wurde, ist nun eine Tatsache: Das Virus verbreitet sich selbständig ausserhalb Wuhans. Damit ist Sars-CoV-2 entscheidend gefährlicher als andere Viren wie zum Beispiel Mers.

Und wie reagiert die Schweiz? Das Bundesamt für Gesundheit beobachtet, wie es selber sagt, die Situation aufmerksam. Seine vorerst einzige ersichtliche Reaktion bleibt das Aufschalten von Informationen zum Ausbruch in China auf seiner Website.

In Grindelwald an der »Challenge in Virology« werden die Teilnehmer willkommen geheissen von jenem Laurent Kaiser, der bereits vor über einer Woche einen Test für das neue Virus entwickelt hat. Er gehört zu den Organisatoren, die kurzfristig ein »hot topic« ins Programm aufgenommen haben. Zuerst präsentiert deshalb die Leiterin des Zentrums für neu auftretende Viruserkrankungen an der Universität Genf, Isabella Eckerle, den Forschungsstand zum Coronavirus. Es sei »hochansteckend und schwer einzudämmen« und könne gigantische wirtschaftliche Schäden anrichten. Es sei Zeit zum Handeln.

Für Daniel Koch und seine »Empfehlungen des Bundesamts für Gesundheit« sind ganz am Schluss des Kongresses zehn Minuten vorgesehen. Die anschliessende Diskussion verlagert sich schnell ans Buffet. Dresscode: casual.

AN DER EPFL, der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne, beginnen am 25. Januar die »Applied Machine Learning Days«. Fünf Tage, 60 Veranstaltungen und Vorträge über maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz. Das Budget beläuft sich auf über eine Million Franken. Finanziert wird es von Sponsoren wie den Schweizer Unternehmensriesen Swiss Re, Roche oder Novartis und Techgiganten wie Google und Microsoft. Angekündigt sind »Top-Referenten aus der ganzen Welt«. Mehr als 2000 Teilnehmer, ein Dutzend aus China.

Für Marcel Salathé, den Professor für digitale Epidemiologie, ist der Anlass der frühe Höhepunkt des Jahres. Er verfolgt aber schon seit zwei Wochen mit seinem Twitter-Tracking, wie sich das Virus in der Welt ausbreitet. Mit zunehmender Sorge. Er fürchtet, dass jemand das Coronavirus einschleppt.

Doch eine Absage der Grossveranstaltung in letzter Minute kommt nicht infrage, das verstünde niemand. Es wäre zu diesem Zeitpunkt »übervorsichtig« gewesen, sagt Salathé. Und zudem ein halbes Jahr Vorbereitung für die Katz.

So treffen an diesem Samstagmorgen Gäste aus aller Welt im riesigen SwissTech Convention Center ein. Die Vorfreude ist gross, doch das ungute Gefühl beim Gastgeber wächst. Was, wenn ausgerechnet die Konferenz der Anlass wäre, der das neue Virus in die Schweiz bringen und dann via Europa über den ganzen Globus verteilen würde? »Superspreading Event« heisst das im Fachjargon. Das Risiko ist klein, das weiss der 44-Jährige, aber als Epidemiologe stünde er wirklich schlecht da. Vielleicht würde es sogar das Ende seiner Karriere bedeuten. Das ungute Gefühl nimmt während der ersten Vortragsrunde überhand.

Marcel Salathé will Masken kaufen. Aber die Apotheke auf dem Campus hat keine mehr. Bleibt nur der Online-Handel. Die ersten Sessionen sind kaum zu Ende, da hat er die Bestellung schon abgeschickt: drei Mal 20 FFP3-Masken, das sind die sichersten. Die 60 Stück kosten 106 Franken, was sich als Schnäppchenpreis erweisen wird. Bald wird ein Vielfaches verlangt. So viel, dass die Polizei in mehreren Kantonen gegen Wucherer ermitteln wird, die aus der Krise Kapital schlagen wollen. Glücklich wird sich dann schätzen, wer überhaupt noch Schutzmaterial in einigermassen guter Qualität bekommt – und werde er dabei übers Ohr gehauen. Die Lieferfristen sind auch bei seriösen Anbietern extrem lang.

Die 60 Masken sollen in drei bis fünf Tagen bei Salathé ankommen, selbst im besten Fall also erst gegen Ende des Kongresses. Und ausreichen würden sie sowieso nur für ihn und seine engsten Mitarbeiter. Seine Sorgen ist der Professor also nicht los.

IN ASIEN ist das Jahr des Schweins zu Ende gegangen. Das Jahr der Ratte hat begonnen. Am chinesischen Neujahrstag, dem 25. Januar, trifft die Reiseführerin der Gruppe aus Wuhan in Taiwan ein. Die 55-Jährige stammt von dort. In Taipeh werden Einreisende bereits seit Ende Dezember streng kontrolliert. Südkorea schickt bereits seit der ersten Januarwoche alle Personen in Quarantäne, die aus der Provinz Hubei einreisen.

In der Schweiz gibt es nach wie vor keine ähnlichen Massnahmen. Immerhin rät der Bund ab jetzt von Reisen in die Gegend um Wuhan ab, die seit dem Lockdown, eine halbe Woche früher, ohnehin unerreichbar ist. Für das übrige China mahnen die Schweizer Behörden zu Vorsicht.

Am Flughafen in Taipeh erzählt die Reiseführerin den Gesundheitsbehörden, dass sie seit vier Tagen Husten hat. Umgehend wird sie in ein Krankenhaus gebracht, das auf Corona-Verdachtsfälle spezialisiert ist. Sie wird getestet.

Sonntag, 26. Januar
+ + + DIE WELT BLICKT STAUNEND NACH WUHAN + + + PATRICK MATHYS WARNT + + +

Am Sonntag, 26. Januar, liegt das Resultat vor. Die Reiseführerin ist Sars-CoV-2-positiv. Obwohl ihr die Krankheit nicht schwer zusetzt, muss sie über zwei Wochen im Spital bleiben. Taiwan setzt auf konsequente Isolation und kann die Krankheit so gut eindämmen.

In China fühlen sich am Tag nach der Rückkehr zwei weitere Teilnehmerinnen der Reisegruppe, die zu Wochenbeginn noch in der Schweiz war, erstmals unwohl – eine davon ist die Frau, die im Pariser Hotelzimmer zwischen dem lokalen Arzt und der erkrankten Mutter und Tochter übersetzt hat. Die zweite Frau bekommt kurz darauf Durchfall, Husten, Fieber und sogar Lähmungserscheinungen im Gesicht. Jetzt sind es schon fünf Erkrankte aus der Gruppe.

China befinde sich in einer »ernsten Lage«, sagt Präsident Xi Jinping am 26. Januar. Alle Ebenen von Partei und Regierung müssten dem Kampf gegen das Virus »höchste Priorität« einräumen, mahnt er.

In Wuhan werden wegen Corona gleich zwei Spitäler aus dem Boden gestampft. Die Welt staunt, dass diese schon in zehn Tagen 1000 Coronapatienten aufnehmen sollen.

DIE SORGEN WACHSEN. Nun auch in Bern. »Die Folgen der Krankheit, verursacht durch das Coronavirus, darf man auf keinen Fall unterschätzen«, warnt Kochs Stellvertreter Patrick Mathys am 26. Januar in einem Interview. »Das Risiko einer Ansteckung in der Schweiz ist unmittelbar noch gering. Was sich allerdings im schlimmsten Fall rasch ändern kann. Das Virus hält sich bei der Reisetätigkeit nicht an Grenzen und Kontinente. Die Dynamik des Virus ist gegenwärtig eher beunruhigend.«

Montag, 27. Januar
+ + + WUNDERMITTEL IM EINSATZ + + + NOTFALL IN LAUSANNE + + + SCHLECHT INFORMIERTER »MISTER CORONA« + + + LI WENLIANG MISSACHTET EIN VERBOT + + +

In Taiwan ist die erkrankte Reiseführerin sofort und intensiv zu ihren Kontakten und Bewegungen in den vergangenen Tagen und Wochen befragt worden. Auch zu ihrem Aufenthalt in der Schweiz. Spezialisten in Fernost beginnen, die Reise des Coronavirus im Car durch Italien, im Zug über den Brünig und in der Pariser Metro zu rekonstruieren. Über soziale Medien wird hierfür der Rest der Gruppe kontaktiert.

Taiwan setzt neben den rigorosen Kontrollen und Flugverboten auf eine Methode, die das breite Publikum im Rest der Welt erst kennen lernen wird: auf Contact-Tracing, das Rückverfolgen der Infektionsketten. Dank der Methode können gefährliche Krankheiten in Schach gehalten werden. Wichtig ist nur, dass sie schnell und möglichst grossflächig angewendet wird.

In Taiwan gibt es staatliche »Centers for Disease Control«. Man hat hier schmerzliche Erfahrungen mit Infektionskrankheiten gesammelt. Sars breitete sich 2003 von China und Hongkong auf den Inselstaat aus. Die Republik ist spätestens seither gewappnet für Katastrophen wie jene, die sich nun anbahnt – und von Taiwan weitgehend erfolgreich abgewehrt wird. Wie das Land dies bewerkstelligt, beobachten nun Fachleute weltweit. Auch in Bern.

AM TAG nach dem positiven Testresultat bei der Reiseführerin, am Montag, dem 27. Januar, informieren die taiwanesischen Spezialisten die Kollegen vom BAG über den Fall und ihre Erkenntnisse. Am selben Tag tritt im Campus Liebefeld die Taskforce 2019-nCoV zusammen.

Nach der Begrüssung durch Patrick Mathys kommen die Gesundheitsbeamten unmittelbar auf das »entry system« zu sprechen. Auf die Gesundheitskontrollen bei Einreisenden, die Taiwan längst aufgezogen hat. Vier Wochen nach der Einführung von Massnahmen wie Fiebermessen bei Fluggästen in Fernost will die BAG-Taskforce aber nichts Ähnliches in Angriff nehmen. In ihrem »Protokoll Krisensitzungen« hält sie fest, dass an schweizerischen Flughäfen – wie an den europäischen auch – »im Moment kein Entry-Screening nötig« sei.

DIE SCHWEIZ lässt sich vorerst also nicht von den taiwanesischen Massnahmen inspirieren. Erst fünf Monate später beginnt der Bund damit, Einreisende zu kontrollieren – aus einem einzigen Land: Schweden.

Passiert da in der Schweiz im Januar gerade ein gravierender Fehler? Jedenfalls werden sich in Taiwan mit seinen 23 Millionen Einwohnern in einem halben Jahr nur rund 50 Menschen mit dem Virus anstecken, rund 350 weitere reisen bereits infiziert ein. Gerade mal sieben Personen sterben. Einen Lockdown braucht es nicht.

Der Inselstaat Taiwan hat es in der Seuchenabwehr einfacher als ein Binnenland wie die Schweiz. Zudem befolgt die Bevölkerung die Vorschriften ihrer Regierung zur Seucheneindämmung gut, auch weil die Sars-Erfahrung vielen in den Knochen steckt. Und China ist nah. Wer nach Taiwan einreisen will, muss zwei Wochen in Quarantäne. Eine App auf dem Handy hilft schon bald, zu kontrollieren, ob Eingereiste auch tatsächlich daheimbleiben. Ausschalten bringt nichts. Selbst wenn nur der Akku leer ist, steht die Polizei bald vor der Tür.

Andere taiwanesische Massnahmen wie eine strikte Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln werden viele Staaten ebenfalls einführen, allerdings teilweise erst nach Wochen oder gar Monaten. Auch hier wird die Schweiz lange nicht mitziehen.

Um das Coronavirus einzudämmen, setzen die Schweizer Behörden anfangs praktisch ausschliesslich auf Contact-Tracing. Das Bundesamt für Gesundheit schaltet nun die Zuger, Luzerner und Berner Kantonsärzte ein. In deren Gebieten war die 30-köpfige Reisegruppe aus Wuhan unterwegs.

AM TAG, an dem die Schweizer Gesundheitsbehörden – noch durchaus zuversichtlich – das erste grosse Corona-Contact-Tracing starten, macht das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL), was es drei Tage zuvor in der geheim gehaltenen ersten Bundesstab-Sitzung angekündigt hat: Es verschickt ein Rundschreiben. Darin empfiehlt es den Spitälern, ihre Bestände an Hygiene- und Atemschutzmasken zu überprüfen und gegebenenfalls aufzustocken.

Das BWL, angesiedelt in Guy Parmelins Wirtschaftsdepartement, hat Lehren aus der Sars-Epidemie gezogen. Nun gibt es diese weiter: In den Jahren 2002 und 2003 sei die Versorgung mit Schutzmaterial rasch zum Erliegen gekommen, da China einer der wichtigsten Lieferanten sei. Das Amt schreibt, das könne nun wieder eintreffen, und zwar selbst dann, wenn Europa und die Schweiz nur marginal vom neuen Virus betroffen sein sollten.

DOCH FÜHRENDE VERSANDHÄNDLER in der Schweiz verkaufen nun, Ende Januar, ein Vielfaches an Desinfektionsmitteln und Schutzmasken. Viele Privatpersonen haben bereits vorgesorgt – wie Marcel Salathé.

Tatsächlich passiert genau auf dem Höhepunkt seines Kongresses, den »Applied Machine Learning Days«, etwas Beängstigendes. Es ist der Montag, 27. Januar, kurz nach 22 Uhr. Geheimdienst-Whistleblower und IT-Sicherheitsexperte Edward Snowden, aus Moskau als Stargast zugeschaltet, hat gerade über Risiken der künstlichen Intelligenz gesprochen. 1200 Leute sind im Saal. Marcel Salathé geht kurz raus in die Winternacht, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Da sieht er eine Ambulanz mit Blaulicht. Viel zu erkennen ist nicht. Schnell kursieren Gerüchte. Mehrere Kongressteilnehmer seien erkrankt. Das stellt sich als wahr heraus. 30 Personen hat es erwischt.

Ist es das neue Virus? – Nein. Wahrscheinlich ein Durchfallerreger, nicht allzu ernst. Kein Coronavirus an den »Applied Machine Learning Days« – Marcel Salathé wird also nicht zum grössten Pechvogel unter den Epidemiologen der Welt.

Der Schock sitzt trotzdem tief in Lausanne. Die EPFL-Führung weiss natürlich, wie leicht sich ein Virus in einem international vernetzten Betrieb verbreiten könnte. Und sie gehört zu den Ersten in der Schweiz, die nun handeln.

DAS NEUE VIRUS sei weniger dramatisch als jene Viren früherer Epidemien, etwa Sars, behauptet Daniel Koch noch am 27. Januar in den Medien. Es sei nicht mit schweren Krankheitsverläufen verbunden, sondern äussere sich mit Symptomen wie Husten, Niesen und laufender Nase. Der künftige »Mister Corona« ist noch schlecht über Corona informiert. Tatsächlich ist nur Husten häufig, Niesen und laufende Nase jedoch nicht. Dafür ist das neue Virus sehr wohl mit schweren Krankheitsverläufen verbunden, wie etwa Lungenentzündungen.

Mehr über die Krankheit erfahren hat ein anderer Arzt, und zwar am eigenen Leib. Der Augenarzt Li Wenliang, der als einer der Ersten vor dem Virus gewarnt hat, ist inzwischen wieder dort, wo er arbeitet, aber als Patient: im Zentralspital in Wuhan. Er liegt auf der Intensivstation, isoliert.

Er hatte Anfang Januar einen Verkäufer vom Fischmarkt behandelt. Der Patient war hochinfektiös, aber das stellte sich erst heraus, als mehrere Kontaktpersonen Fieber und Husten bekamen.

Nun geht es Li Wenliang so schlecht, dass er beatmet werden muss – aber er will weiterhin über die Krankheit aufklären. Da er kaum mehr sprechen kann, tauscht er sich am 27. Januar via Chatnachrichten mit einer chinesischen Zeitung aus – das Verbot der lokalen Sicherheitsbehörden ignoriert der Todgeweihte.

Dienstag, 28. Januar
+ + + EIN NOTFALLARZT BEKOMMT FIEBER + + + 35 WENIG ÜBERZEUGENDE MINUTEN + + + ASTRONAUTEN IN STEINHAUSEN + + +

Am 28. Januar fühlt sich jener Pariser Notfallarzt schwach, der fünf Tage zuvor in einem Hotelzimmer bei den zwei Touristinnen aus Wuhan, die durch die Schweiz gereist waren, eine Erkältung diagnostizierte. Er hat Kopfschmerzen, und seine Körpertemperatur ist auf 38 Grad gestiegen. Sofort begibt er sich in ein Spital, das Corona-Verdachtsfälle behandelt. Dort bekommt er die Bestätigung: Er ist am Virus erkrankt.

Über die Infektion werden auch die Schweizer Gesundheitsbehörden rasch informiert. Im BAG und bei den Kantonsärzten in Zug, Luzern und Bern weiss man nun: Hätten die erkrankte Mutter und Tochter statt in Paris ein paar Tage früher in der Schweiz eine Notrufnummer gewählt, hätte sich eine Ärztin oder ein Arzt in Sursee, Luzern oder Interlaken mit dem Coronavirus infizieren können.

WÄHREND DIE CONTACT-TRACER in den Kantonen nun unter Hochdruck nach Personen suchen, die mit der Gruppe aus Wuhan in Kontakt standen, kommt es in Bern zu einer weiteren Corona-Premiere: die erste von vielen Medienkonferenzen in der Schweiz zum Thema. Sie dauert, Fragerunde inklusive, gerade einmal 35 Minuten. Doch die knappe Zeit reicht für mehrere falsche Angaben und amtliche Fehleinschätzungen.

Patrick Mathys verkündet vom Podium im Medienzentrum des Bundes die »einzige gute Nachricht« dieses Morgens. Er, der Leiter der Sektion Krisenbewältigung und internationale Zusammenarbeit im BAG, behauptet, dass alle bekannten Ansteckungen mit dem neuen Virus in China stattgefunden hätten. Doch das fliegt ihm sogleich um die Ohren.

Christian Althaus, der den Auftritt der Spezialisten des Bundes gebannt verfolgt, reagiert schnell, wie schon bei seinem Aktienverkauf eine Woche zuvor. »Leider falsch«, schreibt der Berner Epidemiologe noch während der Pressekonferenz auf Twitter. Minuten später setzt Althaus einen zweiten Tweet ab: »Erschreckend, wie schlecht Patrick Mathys vom @BAG_OFSP_UFSP informiert ist. Die @WHO hat bereits am 24. Januar eine Sekundärinfektion in Vietnam bestätigt. Weitere Fälle in Deutschland und Japan.«

Die beiden scharfen Tweets lösen vorerst wenig Echo aus. Eine Handvoll Fachkollegen retweeten oder liken sie, darunter Marcel Salathé oder der Basler Forscher Richard Neher. Und doch ist am 28. Januar kurz nach 11 Uhr, fast unbemerkt, ein Konflikt ausgebrochen, der die Bekämpfung der Seuche in der Schweiz nachhaltig beeinflussen und auch beeinträchtigen wird. Der Kleinkrieg zwischen den eher jungen Wissenschaftlern und den eher älteren Fachleuten des BAG wird fortan intensiv und oft öffentlich ausgetragen. Just in einer Zeit, in der Wissenschaftler und Behörden Hand in Hand arbeiten sollten. Und der Streit wird in einer Personalisierung ausgetragen, die eigentlich niemand will.

Die Vertreter des Bundes agieren von der ersten Minute an aus der Defensive. Denn Althaus’ Tweet ist inhaltlich so korrekt wie Mathys’ Aussage falsch. Die Weltgesundheitsorganisation hat bereits vier Tage vor der Medienkonferenz tatsächlich über die Ansteckung eines Vietnamesen informiert, der sich nicht in China aufgehalten hatte. Zudem ist relativ kurz vor der Konferenz die Erkrankung eines Mitarbeiters des deutschen Autozulieferers Webasto bekannt geworden, der durch eine Frau aus China geschult und dabei angesteckt worden war – in Stockdorf bei München, keine zwei Stunden Autofahrt von der Schweiz entfernt. Parallel geht die Nachricht einer bestätigten Infizierung in Japan um den Globus. Dort hat es einen Buschauffeur erwischt, der eine Reisegruppe aus Wuhan durch das Land der aufgehenden Sonne fuhr.

Mathys hat von diesen Fällen keine Kenntnis, wie er an der Medienkonferenz einräumt.

Ein Journalist merkt an, dass Schutzmasken in Apotheken zum Teil bereits ausverkauft seien, und möchte wissen, ob es hier zu Engpässen kommen könnte. Daniel Koch antwortet. Der Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten beim BAG erklärt, man verfüge eigentlich über ein sehr grosses Lager. Leider sei bei vielen dieser Masken das Verfallsdatum abgelaufen, oder sie hielten nicht mehr lange. Nun werde geprüft, ob das Schutzmaterial doch noch verwendet werden könne. Das Verteidigungsdepartement liefert dann tatsächlich 13,5 Millionen Masken aus einem alten Bestand an die Detailhändler aus. Später muss es sie zurückrufen. Ein Labor hat Pilzbefall festgestellt. Dies geschieht aber erst rund ein halbes Jahr nach der ersten Corona-Medienkonferenz.

Dort wird noch gefragt, ob man nun Angst vor chinesischen Touristinnen und Touristen haben müsse. Daniel Koch verneint und verweist darauf, dass für eine Übertragung des Virus ein Kontakt von unter einem Meter Distanz nötig sei, und dies »eine Zeit lang«. Das wird sich, so absolut ausgedrückt, ebenfalls als falsch herausstellen.

Koch sitzt vorne fast Schulter an Schulter mit seinem Stellvertreter Patrick Mathys und der Genfer Virologie-Professorin Isabella Eckerle, die zusammen mit Koch bereits am Kongress in Grindelwald für das »hot topic« Covid-19 verantwortlich war. Es gibt noch keine Abstandsregeln. In der Schweiz, in ganz Europa kennt man diese Massnahme noch nicht.

Auch in den kurzen Live-Interviews gleich nach dem Auftritt auf dem Podium äussern sich die Vertreter des Bundesamts für Gesundheit nicht viel präziser. Daniel Koch beispielsweise schickt zwar voraus, vieles sei im Moment ungewiss und im Fluss angesichts der »dramatischen Lage in China«, wo »die Fallzahlen explodieren«. Er stellt Corona allerdings als nach wie vor chinesisches Problem dar – was es in Wirklichkeit bereits nicht mehr ist. In seiner ruhigen, aber bestimmten Art, die bald die ganze Schweiz kennen lernt, sagt Koch: »In der Schweiz besteht kein Risiko oder ein theoretisches Risiko, sich mit dem Virus zu infizieren, weil das Virus noch nicht in der Schweiz ist.«

Dabei hat das Bundesamt für Gesundheit tags zuvor erfahren, dass Sars-CoV-2 in der Vorwoche wohl durch die Voralpen gereist ist. Gerade machen sich die von der 30-köpfigen chinesischen Reisegruppe bereisten Staaten im engen Austausch daran, jene Personen zu ermitteln, die der gemäss BAG »kompakten Gruppe mit wenig Kontakten« nahe kamen. Es spricht bereits einiges dafür, dass sich die Reiseteilnehmer in den eineinhalb Wochen in Europa vor allem untereinander ansteckten.

AM 28. JANUAR, dem Tag der ersten Medienkonferenz des Bundes zu Corona, hat das Virus die Welt noch nicht im Griff, zumindest nicht vollständig. In der Schweiz ist das Thema nicht einmal überall richtig angekommen.

Medizinisches Personal, gut geschützt, Astronauten ähnelnd, kennt man zwar aus dem Fernsehen. Wenn das Bild aber in der Nähe auftaucht, im eigenen Quartier, verstört es. Das zeigt sich im Kanton Zug. In der Gemeinde Steinhausen führt das Zürcher Triemli-Spital bei einem Erkrankten zu Hause einen Coronatest durch, eine in dieser Frühphase noch angewendete Praxis. Das Personal in weissen Schutzanzügen fällt der Nachbarschaft auf. Jemand meldet die seltsame Erscheinung umgehend den Behörden. Die Polizei wird eingeschaltet. Schnell stellt sich die Sache als harmlos heraus. Und noch besser: Niemand ist Sars-CoV-2-positiv.

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