Buch lesen: «LOCKDOWN»

Schriftart:

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des

auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2020 Wörterseh, Lachen

Lektorat: Andrea Leuthold

Korrektorat: Lydia Zeller

Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina

unter Verwendung des Gemäldes »Wilhelm Tell« von

Ferdinand Hodler, 1896/97, © akg-images, Berlin.

Layout, Satz: Beate Simson

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel

Print ISBN 978-3-03763-123-2

E-Book ISBN 978-3-03763-807-1

www.woerterseh.ch

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch

Über die Autoren

Prolog

TEIL I Vor dem Lockdown

TEIL II Im Lockdown

TEIL III Lockerungen

TEIL IV Bilanz

Epilog

Schlüsselpersonen

Zur Entstehung dieses Buches und Dank

ÜBER DAS BUCH

Im Frühjahr 2020 begleiteten 14 renommierte Investigativjournalistinnen und -journalisten besonders exponierte Menschen durch die Coronakrise. Unter anderen unseren Gesundheitsminister Alain Berset, den Epidemiologen Marcel Salathé, eine Spitalapothekerin, drei Geschwister, die innert weniger Tage beide Eltern an Covid-19 verloren, eine Pflegefachfrau, die in einem Altersheim Verstorbene einsargen musste, eine Notfallärztin, die während der Krise Tagebuch führte, aber auch Infizierte – unter ihnen ein Tessiner Gemeindepräsident.

In ihrem Buch »Lockdown« lassen die Schreibenden all diese Menschen erzählen, in welchen Gefühlsstrudel sie das Coronavirus Tag für Tag gerissen hat. Die Aufzeichnungen verweben sie mit vertraulichen Protokollen von über 50 Krisensitzungen in Bundesbern. So ist – innert kürzester Zeit – ein packendes und berührendes Buch entstanden, das einen neuen Blick auf etwas wirft, das achteinhalb Millionen Menschen in der Schweiz hautnah miterlebt haben: Ausnahmezustand. Monatelang. Und auch wenn die wenigsten von ihnen tatsächlich an Corona erkrankten: Jede und jeder hat die Pandemie am eigenen Leib gespürt. Die 14 Journalistinnen und Journalisten wollten das bis dahin Unvorstellbare festhalten, es wurde aber mehr. Sie haben ein ebenso differenziertes wie facettenreiches Bild einer Zeit geschaffen, die uns für immer in Erinnerung bleiben wird.

»Minutiös recherchierte Chronik mit berührend tiefen Einblicken, packend erzählt. Ein wichtiger erster Schritt für die Aufarbeitung einer Krise, wie sie die Schweiz wohl noch nie erlebt hat.«

Fiona Endres, »Rundschau«, SRF

»Als hätte jemand ein Tagebuch für alle geschrieben. Und dabei die Protokolle der Behörden zur Hand gehabt. Und die Notizen zahlreicher Involvierter. Eine einzigartige Mischung aus Annalen und Politthriller – vielschichtige Antworten auf zentrale Fragen der Krise inklusive.«

Sarah Berndt, »Beobachter«

»Die Schweiz und das Virus, das ist die Geschichte einer Unterschätzung – und eines zähen Kampfs mit offenem Ende. Hier wird sie authentisch und umfassend recherchiert nacherzählt. Spannende Pflichtlektüre, nicht nur für HistorikerInnen.«

Thomas Kirchner, »Süddeutsche Zeitung«

ÜBER DIE AUTOREN

Die 14 Autorinnen und Autoren dieses Buches, von denen die meisten beim Recherchedesk der Tamedia arbeiten, sind:

Bernhard Odehnal

Thomas Knellwolf

Simone Rau

Titus Plattner

Fabian Muhieddine

Susanne Anderegg

Sylvain Besson

Catherine Boss

Dominique Botti

Christian Brönnimann

Yann Cherix

Roland Gamp

Kurt Pelda

Oliver Zihlmann

PROLOG

In der Nacht auf Dienstag, den 7. April 2020, verliert Anne-Lise Cornu* im Kantonsspital Freiburg ihren Kampf gegen das Coronavirus. Genau wie ihr Mann Henri-Paul* zwölf Tage zuvor. 50 Jahre lang war das Paar verheiratet, das sich einst in einem Café kennen gelernt hatte, sie als Serviertochter, Henri-Paul als Gast. Die beiden haben über Jahre gemeinsam Pétanque gespielt. Und sie haben – am Fuss des historischen Städtchens Romont – eine Tochter und zwei Söhne grossgezogen.

Für sie und für ihre drei Enkeltöchter wollte die 69-jährige Anne-Lise weiterleben. Nach Hause zurückkehren, wo sie so gern Kreuzworträtsel löste und Bücher las.

Doch gleichzeitig war die Rentnerin und Hausfrau müde, so unfassbar müde. Und sie brauchte derart viel Sauerstoff, dass für Ärztinnen und Pflegefachleute kein Zweifel bestand: Anne-Lise Cornu wird es nicht schaffen.

Um sein Leben kämpft, in derselben Nacht, im selben Spital, auch ihr jüngerer Sohn Didier*. Der 46-Jährige ist ebenfalls an Covid-19 erkrankt. Anfangs traten bei ihm nur leichte Symptome auf, erhöhte Temperatur, Magenprobleme, fehlender Appetit – ausgerechnet bei ihm, der schon als kleiner Junge Koch werden wollte und es heute auch ist. Nun, am Dienstag vor Ostern, wird er ins künstliche Koma versetzt. Er muss über einen Schlauch beatmet werden. Ob Didier Cornu die Karwoche überleben wird, weiss niemand.

In den zwölf Tagen zwischen dem Tod seines Vaters und dem Tod seiner Mutter sterben in der Schweiz weitere 619 Menschen, die sich mit dem Coronavirus infiziert hatten. Das Land ist seit drei Wochen lahmgelegt. Im Lockdown.

Die täglichen schlimmen Nachrichten bedrücken die Bevölkerung, die angehalten ist, in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Niemand kann sagen, was noch kommt. Ob das Virus überhaupt in den Griff zu bekommen ist. Oder ob italienische Verhältnisse drohen, mit Ärzten, die Patienten sterben lassen müssen, weil es nicht mehr genügend Beatmungsgeräte gibt. Mit Kolonnen von Kühllastern, die die Leichen abtransportieren.

Am Abend nach der Nacht, in der Anne-Lise Cornu stirbt, merkt Alain Berset*, dass ihm das Virus selber gefährlich werden könnte. Als Gesundheitsminister steht der Bundesrat im Mittelpunkt der Coronakrise. Gemeinsam mit Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga hat er am 16. März den Lockdown verkündet, hat der Bevölkerung die Schliessungen der Schulen und Geschäfte, den Stillstand des Landes immer wieder erklärt und als alternativlos verteidigt. Nun erfährt er, dass er selbst infiziert sein könnte.

Eine Mitarbeiterin, mit der Berset im selben Sitzungszimmer war, ist positiv getestet worden. Berset schottet sich sofort ab. Der Coronatest wird am nächsten Morgen, am 8. April um 6 Uhr früh, durchgeführt. Das Militär bringt die Probe umgehend ins Labor Spiez.

Es sind dunkle Tage für die Schweiz. Eben erst ist der Bevölkerung schmerzlich bewusst geworden, dass ihr Land trotz seinem Reichtum und seinem sehr guten Gesundheitssystem keineswegs gut auf die Seuche vorbereitet ist. Schlimmer noch: Die Zahlen der Corona-Neuinfektionen und der Toten sind höher als in den meisten anderen Nationen.

Wie konnte das passieren? Wie viele wird es noch treffen? Wie kommt die Schweiz da wieder raus? Die bangen Fragen stellen sich am Anfang der Karwoche viele. Auf den folgenden Seiten werden wir darauf Antworten geben.

Wir, das sind vierzehn Investigativjournalistinnen und -journalisten vom erweiterten Recherchedesk des Verlagshauses Tamedia. Wir begleiteten besonders exponierte Menschen aus der ganzen Schweiz durch ein halbes Jahr Coronakrise – mit dem Ziel, ihr Erleben, ihre Handlungen, ihre Gedanken und Gefühle in den schweren Monaten für die Nachwelt festzuhalten.

Die Tochter und die beiden Söhne des Ehepaars Anne-Lise und Henri-Paul Cornu erzählen uns, was das Virus in ihrer Familie angerichtet hat. Bundesrat Alain Berset gewährt uns Einblick in sein Krisenmanagement und in seine persönliche Betroffenheit. Zu unseren Schlüsselpersonen zählen zudem Menschen wie die Leiterin der Intensivpflege in einem Tessiner Spital. Maria Pia Pollizzi* nahm den ersten Schweizer Covid-19-Patienten auf und begleitete fortan viele auf ihrem Weg zur Genesung – oder beim Sterben. Die Zeugnisse unserer Schlüsselpersonen haben wir mit den Ergebnissen weiterer intensiver Recherchen verwoben.

Dazu gehörte die Auswertung amtlicher Dokumente, die wir uns mit dem Öffentlichkeitsgesetz beschaffen konnten. Dank über 50 Protokollen vertraulicher Sitzungen wird klar, wie die verschiedenen Taskforces und Krisenstäbe des Bundes agierten.

Zudem haben wir mit über 50 weiteren Personen geredet, unter ihnen Politikerinnen, Epidemiologen, Klinikleiter, Parlamentarier und Ärztinnen. Insgesamt führten wir über 200 Stunden Recherchegespräche.

So entstand eine Chronik jenes halben Jahres, in dem die Schweiz in ihrer bislang schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg steckte. Erzählt wird sie von Menschen, die persönlich schwer getroffen wurden. Und von Menschen aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Medizin, die das Virus bekämpfen. Von Menschen wie Ricarda Luzio*, einer Spitalapothekerin aus Luzern.

AB MITTE JANUAR irritiert Ricarda Luzio etwas.

Sie fährt auch im Winter täglich mit dem Velo zur Arbeit. Dies ist zu Beginn des Jahres 2020 weniger beschwerlich als in anderen Jahren, denn der Schnee fehlt im Unterland gänzlich, und die Sonne scheint in der Zentralschweiz so häufig wie nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Ricarda Luzio ist Chefapothekerin in der Hirslanden-Klinik St. Anna in Luzern.

Auf dem Weg von ihrer Wohnung in der Luzerner Neustadt an ihren Arbeitsort überquert die 43-Jährige die stark befahrene Seebrücke, die für gewöhnlich voller Touristen ist. Die Sicht auf den See und die Stadt ist von hier aus bezaubernd.

Ihre Irritation: Hat es weniger chinesische Touristen in der Stadt? Oder täuscht der Eindruck?

In der Pause erzählt eine Mitarbeiterin der Chefapothekerin, der Schwanenplatz, sonst übervoll mit Reisecars, sei leer. Sie reden über dieses »neuartige Coronavirus« in China, über das die Medien schreiben. Alle sind sich einig: Das ist nichts im Vergleich zu einer saisonalen Grippe, denn daran sterben in der Schweiz pro Jahr mehrere Hundert Menschen. Die Diskussion nimmt rasch ein Ende.

Ricarda Luzio debattiert auch zu Hause über das noch unbekannte Virus. Ihr Mann arbeitet als Leitender Arzt am Kantonsspital Luzern, wo bald ein ganzes Stockwerk für Coronapatienten leer geräumt wird. Beide erachten den Erreger in diesen Januartagen als vergleichsweise harmlos, die Angst davor übertrieben. »Das ging, glaube ich, zu Beginn vielen so«, sagt Luzio. »Sogar wir vom Fach haben das Virus unterschätzt.« Wenn ihre Kollegen auf sie zukommen, beschwichtigt sie, wenn Pharmaassistentinnen nachfragen, winkt sie ab. Das Virus ist weit weg – in dieser Riesenstadt namens Wuhan, die im Westen kaum jemand kennt.

AM 16. JANUAR fliegt eine 30-köpfige Touristengruppe aus ebendiesem Wuhan nach Rom. Neun Tage wird sie in Europa verbringen, erst ist die Gruppe in Italien, später in Frankreich und dazwischen zwei Tage in der Schweiz, einen grossen Teil im Kanton Luzern. Schon auf dem Hinflug fühlt sich eine 53-jährige Reiseteilnehmerin kränklich. Sie hustet.

Als die Gruppe mit ihr am 19. Januar in einem gecharterten Bus die italienisch-schweizerische Grenze passiert, kennt Europa noch keine Gesundheitskontrollen, keine Reisebeschränkungen und erst recht keine unüberwindbaren Barrieren. Der Kontinent fühlt sich zu diesem Zeitpunkt sicher vor dem Virus.

Die Reisegruppe aus Wuhan erwartet eine sonnige Schweiz und ein gedrängtes Programm. Die 53-Jährige, die bereits auf dem Hinflug hustete, trägt keine Schutzmaske. In Luzern verlassen die chinesischen Touristen den Bus, steigen in einen Panoramazug. Die »Golden Pass Line« bringt sie über den tief verschneiten Brünig nach Interlaken. Die Fahrt dauert knapp zwei Stunden.

Die Gruppe aus Wuhan übernachtet vom 19. auf den 20. Januar in einem Hotel in Sursee, das ausschliesslich Reisegruppen beherbergt, die schnell nach Luzern oder ins Berner Oberland wollen und dann weiterziehen. In unserem Fall weiter nach Paris.

In der französischen Hauptstadt fühlt sich die kränkelnde Touristin noch immer nicht wohl. Inzwischen hat sie offenbar ihre Tochter angesteckt. Bei der 29-Jährigen zeigen sich am ersten Tag in Paris Symptome, wie sie typisch scheinen für den wenig bekannten Erreger. Die Gruppe besucht die klassischen Touristenattraktionen und fliegt am 24. Januar zurück nach China.

Von den 30 Reisenden erkranken schliesslich fünf in einer ähnlichen Art. Drei davon werden getestet, allerdings erst nach ihrer Rückkehr, als Wuhan bereits unter Quarantäne steht. Alle drei sind Sars-CoV-2-positiv.

* Die Schlüsselpersonen dieses Buches sind, wenn sie das erste Mal erscheinen, mit einem Stern gekennzeichnet und werden ab Seite 323 vorgestellt.

TEIL I Vor dem Lockdown

Jahreswechsel 2019/2020
+ + + »ES GUETS NEUS« AUS DER BÄCKEREI + + + BEUNRUHIGENDES AUS CHINA + + +

Die neue Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga wünscht allen von Herzen »es guets Neus«. Sie tut das aus ihrer Berner Quartierbäckerei, in der sie regelmässig Brot und »die feinen hausgemachten Amaretti« kaufe.

Ihrer Neujahrsansprache räumen Schweizer Medien viel mehr und prominenteren Platz ein als Neuigkeiten aus China. Zwar übernimmt die Schweizer Nachrichtenagentur Keystone-SDA am nachrichtenarmen Neujahrstag eine Meldung mit dem Titel: »Lungenkrankheit in China ausgebrochen – Gerüchte über Sars«. Die Informationen verbreiten aber nur wenige Medien weiter. Dabei steht bereits vieles drin. Vom Ausbruch einer neuartigen Krankheit ist die Rede, von Vertuschung, von Gefahr.

Kaum jemand in der Schweiz erfährt am Neujahrstag also, dass in Zentralchina 27 Erkrankte isoliert worden sind und sieben von ihnen um ihr Leben kämpfen. Dass viele der Infektionen auf einem Grosshandelsmarkt für Fische und Meeresfrüchte in Wuhan erfolgten, wo auch Geflügel, Fledermäuse, Schlangen und andere Wildtiere feilgeboten werden, tot oder lebendig. Und dass die Behörden den Markt geschlossen hatten, um eine gründliche Reinigung vorzunehmen.

Der SDA-Meldung vom Neujahrstag könnte man auch Beunruhigendes entnehmen, würde ihr denn Beachtung geschenkt: In Wuhan hat die Polizei acht Personen festgenommen wegen Verbreitung »falscher Informationen« im Internet »mit negativen gesellschaftlichen Auswirkungen«. Das Parteiorgan »Volkszeitung« trete Gerüchten über einen neuen Ausbruch der Lungenseuche Sars entgegen.

Die Sache, so endet die Depesche zu China, wecke Erinnerungen an die anfangs vertuschte Pandemie vor 17 Jahren mit 8000 Erkrankten, verteilt auf rund 30 Länder und über alle Kontinente. Damals gab es 774 Tote. Das sei eine »der gefährlichsten Infektionswellen der jüngeren Zeit« gewesen.

Nun taucht das damalige »severe acute respiratory syndrome«, kurz Sars, in einer neuen, noch viel gefährlicheren Variante wieder auf: als Sars-CoV-2, das bald jedes Kind als Coronavirus kennen wird.

AM LETZTEN TAG des Jahres 2019 sind an der Avenue Appia 20 in Genf erste Meldungen über eine unbekannte Lungenkrankheit aus China eingetroffen. Am Sitz der Weltgesundheitsorganisation WHO ahnt niemand, wie gefährlich der Erreger ist, der noch nicht einmal einen Namen trägt.

Einige wenige asiatische Länder reagieren bereits ab dem Jahreswechsel kompromisslos. Taiwan und Südkorea führen rigorose Kontrollen bei allen Flugpassagieren aus der betroffenen chinesischen Region durch.

Europa ist früh und detailliert informiert. Doch vorerst erfolgt keine Reaktion. Auch in der Schweiz nicht.

In der Berner Bäckerei hat Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga noch gefragt: »Aber was ist das eigentlich: ein gutes Jahr?« Und gleich selbst geantwortet: »Wenn uns und unseren Liebsten nichts Schlimmes passiert, wenn wir gesund sind und glücklich.«

Donnerstag, 2. Januar, bis Montag, 20. Januar
+ + + ALLES FÄHRT SKI + + + EIN AUGENARZT WARNT + + + DIE GENFER GEHEIMSTRATEGIE + + +

Im Land mit einer der gesündesten und glücklichsten Bevölkerungen weltweit geniessen die Menschen zum Jahresanfang Sonne und Schnee. Das Gedränge in den Bergbahnen ist gross, die Unbeschwertheit ebenso.

Sommarugas Parteikollege im Bundesrat macht gerade Skiferien im Wallis, als auch in Schweizer Medien vermehrt kurze Meldungen über eine »mysteriöse Lungenkrankheit« auftauchen. Alain Berset erinnert sich, wie er am 5. oder 6. Januar einen Zeitungsartikel über ein Virus in China gelesen hat: »Das schien mir sehr weit weg. Ich habe der Sache keine grosse Aufmerksamkeit geschenkt. Viren tauchen auf der Welt regelmässig auf.«

Erst viel später wird dem Gesundheitsminister bewusst werden, dass er in den Walliser Bergen zum ersten Mal von etwas gehört hat, das ihn monatelang beschäftigen wird. Tag und Nacht.

Nach Ferienende erwartet Berset ein arbeitsintensives Jahr, er will die Reformen der AHV und im Gesundheitswesen endlich vorwärtsbringen.

NOCH IST AUS WUHAN kein Todesfall bekannt. Allerdings klagen dort immer mehr Menschen über trockenen Husten, Fieber, Atemnot. Chinesische Forscher haben die Ursache entdeckt: ein neues Virus, eine aggressivere Spielart altbekannter, vielfach harmloser Coronaviren, die wegen ihrer krönchenartigen Fortsätze nach einer Krone benannt sind.

Die WHO reagiert zurückhaltend. Sie lässt am 6. Januar nur verlauten, sie beobachte die Situation. Für Reisende seien »keine besonderen Vorkehrungen« notwendig, entwarnt sie. Dabei weiss man an der Avenue Appia 20 in Genf noch herzlich wenig über den eben entdeckten Erreger. In einer internen Sitzung beschweren sich in der Neujahrswoche Epidemiologen der Weltgesundheitsorganisation, dass die Volksrepublik China nicht genügend gute Daten teile. »Es liegen uns nur sehr minimale Informationen vor«, beklagt sich die Amerikanerin Maria Van Kerkhove, die die technische Leitung in der Virusabwehr übernimmt. »Es ist klar nicht genug für uns, um sauber zu planen.«

IN WUHAN wird ein Augenarzt namens Li Wenliang in ein Sicherheitsbüro zitiert. Dort wirft man ihm vor, er habe falsche Gerüchte verbreitet.

Der 33-jährige Mediziner am Zentralspital der Elf-Millionen-Metropole hat bereits am 30. Dezember frühere Studienkollegen vor einem möglichen neuen Sars-Ausbruch gewarnt: Sie sollten sich und ihre Angehörigen gut schützen. Seine Zeilen aus dem privaten Chat finden schnell den Weg ins Internet und lassen sich nun nicht mehr zensieren.

Im Sicherheitsbüro wird der Augenspezialist gezwungen, ein Dokument zu unterzeichnen, in dem er zugibt, »falsche Bemerkungen« gemacht und »die soziale Ordnung gestört zu haben«. Li Wenliang verpflichtet sich, nicht weiter über die Krankheit zu sprechen, doch daran hält er sich nicht.

AM 10. JANUAR erhält Laurent Kaiser, Chefarzt am Nationalen Referenzzentrum für neu auftretende Virusinfektionen am Universitätsspital Genf, die volle genetische Sequenz des neuen Virus. Die chinesischen Kollegen haben die Erbinformationen mit führenden Labors weltweit geteilt. Sechs Tage später haben der Professor aus Genf und sein Team einen funktionierenden Test entwickelt, einen der ersten weltweit.

IN DER ZWISCHENZEIT sind aus Asien beunruhigende Nachrichten eingetroffen. Am 11. Januar, es ist ein Samstag, meldet Wuhan den ersten offiziellen Toten, einen Besucher des Fischmarkts, auf dem das Virus wenige Wochen zuvor zum ersten Mal aufgetaucht war. Der 61-jährige Mann kam mit Atembeschwerden und einer schweren Lungenentzündung ins Spital. Er starb, weil sein Herz versagte.

NUN BERICHTEN SCHWEIZER MEDIEN regelmässig über das »neuartige Coronavirus«. Beunruhigt ist aber kaum jemand. »Das sieht zurzeit wohl nicht so aus, als ob wir uns grosse Sorgen machen müssen«, sagt SRF-Experte Gerald Tippelmann in der »Tagesschau am Mittag« zur Todesnachricht aus China. Erst bei Übertragungen von Mensch zu Mensch bestünde Grund dazu.

Mit dieser Einschätzung ist der Gesundheitsfachmann des Fernsehsenders in bester Gesellschaft. Die Weltgesundheitsorganisation verbreitet einen verhängnisvollen Tweet: »Vorläufige Untersuchungen von den chinesischen Behörden haben keinen klaren Beweis ergeben, dass sich das neue Coronavirus zwischen Menschen überträgt.« An einer Pressekonferenz in Genf ergänzt die WHO, dass eine solche Übertragung zwar »immer eine Sorge« sei. Aber sie stützt China, das behauptet, alles sei unter Kontrolle.

AM SAMSTAG DER TODESNACHRICHT aus Wuhan diskutiert der Epidemiologe Marcel Salathé* elektronisch mit seinem Doktoranden Martin Müller über das wenige, was man aus Zentralchina von diesem Virus erfährt. Zu diesem Zeitpunkt ist Salathé ein über Fachkreise hinaus kaum bekannter Professor für digitale Epidemiologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne, der EPFL. Der 44-Jährige hat eine Methode entwickelt, mit der die Ausbreitung einer Krankheit dank sozialen Medien nachgezeichnet werden kann. Damit hat er unter Forschern Aufsehen erregt.

Salathé und sein Doktorand Müller entscheiden, das Coronavirus online zu verfolgen. Sie wollen Twitter-Nachrichten dazu tracken, also nachverfolgen.

AM SELBEN TAG, dem 11. Januar, tritt in den Schweizer Medien ein Experte auf, dessen Entscheide oder Äusserungen Marcel Salathé in den kommenden Monaten mehrfach scharf kritisieren wird. Ein gewisser Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) gibt zur noch kaum erforschten Krankheit Auskunft. Der Arzt und frühere Rotkreuz-Koordinator hat dasselbe in den Monaten und Jahren zuvor zu anderen Fachthemen wie Zeckenstiche oder HIV getan. Trotzdem ist der Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten im BAG für den Grossteil der Schweizer Bevölkerung Anfang 2020 ein Unbekannter.

Doch nun, am Anfang einer steilen Medienkarriere, macht er das, was zu dem Zeitpunkt viele tun. Und was er fortan oft tun wird: Er beruhigt. Die Situation lasse sich nicht mit Sars vergleichen, zeigt Koch sich überzeugt, die Kontrollen seien besser: »Seither haben die Chinesen die Überwachung stark hochgefahren.« Der hohe Schweizer Gesundheitsbeamte vertraut auf die Experten der Weltgesundheitsorganisation, deren Kommunikation mittlerweile verbessert sei: »Sie sind da drin, und die Kanäle funktionieren bestens.«

Wie Koch denken in Europa viele, dass man in Fernost nur wegen des Sars-Traumas so hektisch auf die neue Lungenkrankheit reagiere. Entsprechend entspannt gibt man sich im Januar noch. Nicht einmal von Reisen nach Wuhan rät Koch ab, als er zum ersten von unzähligen Malen öffentlich über das Virus spricht. So oft, dass er bald »Mister Corona« genannt wird. Es reiche, wenn man sich nach der Rückkehr beim Arzt melde, sollten Atemprobleme auftreten. Aber vollständige Entwarnung gibt auch er nicht. Vielmehr sagt Koch: »Man weiss momentan einfach noch zu wenig, um angemessen reagieren zu können.«

IN LAUSANNE an der EPFL hat Marcel Salathé im Eiltempo die Erlaubnis der internen Ethikkommission erhalten, die er und Doktorand Müller für das Sammeln von Personendaten brauchen. Am 13. Januar verfolgen die beiden auf ihrer Plattform Crowdbreaks.org, wie sich das neuartige Virus verbreitet. Zum Auftakt registriert ihre Software täglich nur ein paar Hundert Tweets. Dann geht es schnell. Die Zahl wächst exponentiell. Das Virus ist nun auch in Thailand, Japan, in Südkorea angekommen.

MITTE JANUAR informiert das Bundesamt für Gesundheit die Kantonsärztinnen und Kantonsärzte zwar über die aussergewöhnliche Häufung von Lungenentzündungen in China, verursacht durch ein bisher unbekanntes Coronavirus. Aber es schätzt das Risiko einer Einschleppung nach Europa als gering ein. Dabei stützt sich das Amt auf das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) mit Sitz im schwedischen Solna.

Die Europäer wiederum orientieren sich an der WHO, die China in der Anfangsphase für das Vorgehen bei der Eindämmung der Krankheit lobt. Was zu diesem Zeitpunkt nur die wenigsten wissen: Um die fragile Zusammenarbeit mit China nicht zu gefährden, kaschiert die internationale Gesundheitsorganisation in Genf, dass auch sie unzufrieden ist mit dem Fluss der Informationen aus Peking und Wuhan. Das Lob soll der WHO helfen, möglichst schnell möglichst viel zu erfahren. Das Problem dabei: Es wiegt die Welt in falscher Sicherheit. Auch die Schweiz.

€19,99