Augusta Theler - Mit dem Hebammenkoffer um die Welt

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Unerwartete Komplikationen

Die Patientin aus dem Simmental ist da. Mit den Händen in den Hosentaschen steht die blonde, schlanke Frau um 19.15 Uhr im Korridor der Geburtenabteilung im Spital Thun. Unter der Bluse zeichnet sich der Babybauch ab. Hinter ihr steht ihr Mann. Augusta Theler bittet sie ins Aufnahmezimmer, wo sie eine erste Untersuchung durchführen wird. Sie will herausfinden, ob die Frau nur Fruchtwasser verloren oder ob sich der Muttermund bereits geöffnet hat. Häufig setzten innerhalb von 24 Stunden nach dem Blasensprung die Wehen ein, erklärt sie. Sei das nicht der Fall, würde man dann in der Regel die Geburt mit Medikamenten einleiten.

Augusta Theler desinfiziert die Hände, während sich die Frau aufs Untersuchungsbett legt. Der Mann setzt sich auf einen Stuhl am Fenster. «Hatten Sie eine normale Schwangerschaft?», fragt die Hebamme und will wissen, ob die Frau die Bewegungen des Kinds gut spüre. Die Patientin, die 40 Jahre alt ist, bejaht beide Fragen und erklärt, am Nachmittag sei ein Schleimpfropfen abgegangen, wonach sie einen Schwall Fruchtwasser verloren habe. Die Wehen spüre sie etwa alle 10 oder 15 Minuten. Augusta Theler tastet den Bauch der Schwangeren ab. Sie führt die sogenannten Leopold-Handgriffe aus, um die Lage des Kinds durch die Bauchdecke zu ertasten. «Ich schätze das Gewicht des Kinds auf eher unter 3000 Gramm. Das Köpfchen sitzt schön im Becken», sagt die Hebamme, bevor sie das CTG-Gerät anschliesst.

Die Frau trägt jetzt eine Art Stoffgurt mit Sensoren um den Bauch. Die Herztöne des Kinds und die Wehentätigkeit werden laufend auf einen Papierstreifen aufgezeichnet. «Das Baby macht es gut, alles im grünen Bereich», hält Augusta Theler fest, setzt sich auf den Bettrand, nimmt die Lesebrille zur Hand und notiert die Ergebnisse ihrer Untersuchung. «Wir warten einfach ab», sagt sie zu den Eltern, die keine Spur von Nervosität zeigen. «Noch sind die Wehen schwach, aber da Sie einen Blasensprung hatten, ist klar: Sie bleiben bei uns.»

Die Hebamme lässt die beiden allein und geht ins Stationszimmer, um sich dort mit der Assistenzärztin zu besprechen. Zusammen kehren sie zurück zum Paar. Da sich die Frau eine Wassergeburt wünscht, kommt eine PDA nicht infrage. Auch starke Schmerzmedikamente, intravenös verabreicht, werden bei einer Geburt in der Badewanne aus Sicherheitsgründen zurückhaltend eingesetzt. Augusta Theler schlägt vor, falls nötig Lachgas zu verwenden. «Sie atmen das Gasgemisch über eine Gesichtsmaske aus Kunststoff ein, die Sie selbst halten», erklärt sie. «Mir haben Frauen gesagt, allein das Halten der Maske habe ihnen während der Geburt geholfen. Und das Lachgas besitzt die Eigenschaft, die Spitze des Schmerzes etwas abzudämpfen.»

Dann geht plötzlich alles sehr schnell. Die Frau verspürt nun Wehen in immer kürzeren Abständen. Die Hebamme versucht, einen Venenkatheter an ihrem Handrücken zu platzieren. Sie muss die Handlung unterbrechen, als eine weitere Wehe die schwangere Frau erreicht. Sie wimmert, der Schmerz wird schlimmer. Es ist höchste Zeit, ins Gebärzimmer zu wechseln.

Eine Stunde nach Eintreffen im Spital liegt die Frau nun, nur noch mit einem T-Shirt bekleidet, im Wasser in der Wanne. Ihre übrigen Kleider sind mit den Schuhen auf einem Haufen am Boden gelandet. Es musste schnell gehen. Eine Lichterkette bringt etwas Helligkeit in den abgedunkelten Raum mit der dunkelrot gestrichenen Wand. Die Vorhänge sind zugezogen, draussen ist es dunkel. Eine Zeitlang ist nichts als das Schnaufen der Frau zu hören. «Schön in den Schmerz atmen.» Augusta Theler wendet sich der Gebärenden zu und spricht mit leiser Stimme. Sie hat sich Gummihandschuhe übergestreift und beugt sich auf der linken Seite über die Wanne. Der Mann befindet sich am Kopfende. «Aber Sie geben mir dann schon noch etwas gegen diese Schmerzen», bittet die werdende Mutter, als sie die nächste Wehe spürt. Die Hebamme reicht ihr die Gesichtsmaske für das Lachgas und fordert sie auf, tief einzuatmen. Erst als sich der Schmerz wieder verzogen hat, geht Augusta Theler zum Lavabo in den anderen Teil des geräumigen Gebärsaals und befeuchtet einen weissen Waschlappen mit kaltem Wasser. Damit kehrt sie zurück zur Gebärenden und legt ihn ihr auf die Stirn. «Ich bin ein wenig geflasht», stellt die Frau fest, bevor sie erneut nach der Gesichtsmaske greift. Die nächste Wehe setzt ein.

Augusta Theler wirkt ganz ruhig, aber voll konzentriert. Sie spricht nun eindringlich zu der Frau: «Wenn das Baby kommt, bleiben Sie mit dem Becken schön unten», sagt sie. «Versuchen Sie, das Kind hinauszuschnaufen und nur vorsichtig mitzuschieben. Wir schaffen das zusammen.» Die Hebamme möchte einen Dammriss vermeiden. In der letzten Phase wird sie den Kopf des Kinds während der Wehen mit den Fingern zurückhalten. Mit geübten Handgriffen wird sie ihn so führen, dass die Geburt für Mutter und Kind möglichst sanft und schadlos erfolgen kann.

Aus der Wanne ist ein schnorchelndes Geräusch zu hören. Der Atem der Gebärenden geht schneller. «Das Baby kommt», kommentiert Augusta Theler und fragt: «Wollen Sie mit dem Finger selbst spüren, wo das Köpfchen ist?» «Nein», antwortet die Frau, sie merke, dass es gleich so weit sei. Die Hebamme beugt sich nun tief zum Kopf der Gebärenden hinunter. Der Sekundenzeiger der Uhr, die an der Wand über der Türe hängt, scheint über die Stunden- und Minutenanzeige zu schleichen. «Die nächste Wehe kommt. Volle Konzentration. Ja, sehr gut, schieben Sie mit. Es ist gleich so weit.»

Die Frau gibt sich ihrem Schmerz nun hin, schreit ihn aus sich heraus. Jetzt steht auch die Ärztin am Rand der Wanne. Die Gebärende atmet lange und tief aus. Die Gynäkologin dreht ihren Kopf zum Gerät, das noch immer die Herztöne des Kinds aufzeichnet. Alles in Ordnung, sagt ihr Blick. Während sie die Wehen wie Wellen überfluten, packt die Frau den Arm der Hebamme mit aller Kraft und hält sich wie eine Ertrinkende daran fest. «Es tut so weh!», schreit sie. Augusta Thelers Gesichtszüge sind härter geworden, ihre braunen Augen glänzen wie zwei dunkle Punkte. In einem strengen Tonfall, aber voller Zuversicht sagt sie: «Wir müssen da durch. Schon bald haben Sie es geschafft. Tief atmen. Das Köpfchen kommt. Sehr gut!»

Die letzten Minuten und Sekunden sind voller Dramatik. Der Mann, der während der ganzen Zeit die Hand seiner Frau gehalten hatte, bleibt mäuschenstill. Nur seine Gesichtsmuskeln sind aufs Äusserste angespannt. Sie verraten, wie ihm zumute ist. Eine Presswehe noch, ein Schmerzenslaut der Frau, dann ist mit einem Mal das Baby da. Augusta Theler hebt es sofort aus dem Wasser, legt es der Mutter auf die Brust und deckt es mit einem Tuch zu. Das Kind – es ist ein Knabe – beginnt zu weinen, ein gutes Zeichen. «Hallo du! Schön bist du da!» Es ist 21.20 Uhr. Die Mutter begrüsst ihr Neugeborenes.

Noch während die Frau im Wasser liegt, nabelt die Hebamme das Baby ab. Die Mutter erhält eine Infusion mit einem Wehenmittel, um die Ablösung der Nachgeburt voranzutreiben. Im Gebärsaal bleibt es einige Minuten andächtig ruhig. Mutter und Vater betrachten stumm den Kleinen, der nun ganz still daliegt. Die Hebamme wickelt das Baby in ein warmes Tuch ein, zieht ihm ein gestricktes Mützchen an und übergibt es dem Vater. Dann hilft sie der Mutter, aus der Wanne zu steigen, hüllt sie ebenfalls in ein frisches Tuch, führt sie hinüber zum Bett und deckt sie zu. Noch fehlt die Nachgeburt; die Plazenta, der Mutterkuchen, sollte austreten. Die Hebamme drückt der Frau leicht auf den Bauch und fordert sie auf zu husten. Derweil hört man das Baby, das in den Armen des Vaters liegt, zufrieden schmatzen. Die Plazenta ist nun da, allerdings ohne die Eihäute, die das Baby in der Gebärmutter umhüllt und die Fruchtblase gebildet hatten. In der Regel werden diese mit der Plazenta ausgestossen. In diesem Fall sind aber vorerst nur Fetzen der Eihaut vorhanden.

Die Ärztin holt aus einem Schrank sterile Klemmen. «Es blutet, wir müssen uns etwas beeilen», sagt Augusta Theler ruhig, aber bestimmt. «Wir müssen schauen, dass nichts mehr zurückbleibt.» Mit den sterilen Klemmen versuchen Ärztin und Hebamme, die fehlenden Teile der Eihäute aus dem Gebärmutterhals zu holen. Bleiben Teile des Mutterkuchens oder der Eihäute zurück, so kann es zu Blutungen kommen. Als anzunehmen ist, dass keine Reste in der Gebärmutter verblieben sind, kontrollieren Ärztin und Hebamme gemeinsam den Damm der jungen Mutter. Da es aus der Vagina leicht blutet, platzieren sie dort einen sterilen Tupfer mit einem Lokalanästhetikum. Der Damm ist unversehrt geblieben. Die Mutter, die nach der unangenehmen Prozedur um die Eihaut fröstelt, wird mit einem weiteren warmen Tuch zugedeckt.

Erst jetzt findet Augusta Theler Zeit und Ruhe, um den Eltern zu gratulieren. Dann lässt sie die drei allein. Die Plazenta mit der Nabelschnur und den Eihäuten hat sie in eine weisse, beschichtete Unterlage gepackt und bringt alles in eines der Arbeitszimmer, wo sie das Päckchen auf eine Ablage legt. Dann tritt die Ärztin dazu, und die blutige Plazenta wird von Auge auf ihre Vollständigkeit geprüft. Sie versorgte das Baby im Mutterleib mit Nährstoffen. Die Plazenta ist von schwammiger Konsistenz, hat einen Durchmesser von etwa 20 Zentimetern und ist ungefähr ein Sechstel so schwer wie das Kind. Sie wird nach dieser Untersuchung in einem Gefrierschrank gelagert und später mit anderen Spitalabfällen verbrannt.

Der Mutterkuchen gehört zum Kind, darum werden die Eltern gefragt, ob sie ihn mit nach Hause nehmen möchten. Hin und wieder machen Eltern von dieser Möglichkeit Gebrauch, um die Plazenta später im Garten zu vergraben und an diesem Ort einen Baum zu pflanzen. Im Internet kursieren Berichte über den Verzehr der Plazenta als Wundermittel. Augusta Theler hat jedoch noch nie Eltern kennengelernt, die ihr von derartigen Absichten erzählt hätten. Bekannt ist auch, dass man in bestimmten Apotheken homöopathische Plazenta-Globuli für Mutter und Kind herstellen lassen kann. Diese sollen die Immunabwehr stärken und diverse gesundheitliche Beschwerden lindern.

 

«Ich muss etwas trinken.» Nur kurz ist der Hebamme nach dieser Geburt anzumerken, dass sie gefordert war. Kaum hat sie sich im Stationszimmer an den Tisch gesetzt, wird sie schon wieder in Gebärsaal 1 gerufen. Die Patientin hat das Gefühl, dass sie vermehrt blutet. Augusta Theler geht nachschauen. Sie erneuert den Tupfer und wird den Verlauf der Blutung verfolgen. Dann nimmt sie dem Vater, der immer noch mit dem Baby im Arm auf dem Sofa sitzt, das Kind ab. Die Hebamme übergibt das Neugeborene der Mutter, die es an die Brust setzt. Trinken will der Kleine noch nicht, er weint leise und schläft dann ein. Während dieser Zeit räumt Augusta Theler das Gebärzimmer auf, trocknet die Überschwemmung neben der Wanne, hebt Tücher vom Boden auf, die in der Eile dort gelandet sind, wirft gebrauchte Gummihandschuhe in den Abfall. Bevor sie das Zimmer wieder verlässt, erfährt sie den Namen des Babys. Der Kleine wird Noah heissen.

Es ist nach 22 Uhr, als die Hebamme ins Zimmer der Frau mit dem Kaiserschnitt zurückkehrt. Die junge Mutter hat das Handy am Ohr, spricht Albanisch, verabschiedet sich nun aber eilig. Der Mann sitzt im Zimmer auf einem Stuhl und scheint vor Müdigkeit immer tiefer zu rutschen. Die junge Frau wird mit dem Baby für die Nacht auf die Wochenbettabteilung verlegt. Mit Unterstützung des Mannes und einer zweiten Hebamme packt Augusta Theler alle persönlichen Sachen zusammen, räumt die Blumen, die der Besuch gebracht hat, auf ein fahrbares Tischchen. Zu zweit stossen die Hebammen das Bett, in dem die junge Mutter liegt, durch den Gang auf die Wochenbettstation, wo ein Platz in einem Zweierzimmer reserviert ist. Das Krankenbett wird in der Nähe der Tür kopfseitig an die Zimmerwand geschoben; der Platz am Fenster ist bereits durch eine andere junge Mutter mit ihrem Baby besetzt. Im Zimmer brennen nur noch die Leselichter. Im Spital ist es still geworden. Augusta Theler misst ein letztes Mal heute den Blutdruck und die Körpertemperatur der Frau, tastet auf der Bauchdecke nach ihrer Gebärmutter, kontrolliert den Verband. Sie blutet nach wie vor nur ganz wenig. Die Hebamme verabschiedet sich und wünscht eine gute Nacht.

Zurück im Stationszimmer, beginnt für Augusta Thehler die Schreibarbeit. Überwachungsblatt, Geburtsverlauf, Formulare für Mutter und Kind. Ein ganzes Bündel Dokumente gehört zu jeder Geburt. Einige Papiere müssen von Hand ausgefüllt und kopiert werden, andere werden am Computer ergänzt. Die Hebamme beugt sich tief über den Schreibtisch und führt den Kugelschreiber flink übers Papier. Das Kopiergerät piepst, während kurz vor 23 Uhr die Kolleginnen der Nachtschicht eintreffen. Es folgt dieselbe Übergabesitzung wie vor acht Stunden, als Augusta Thelers Spätschicht begann. Die Hebammen der Nachtschicht werden über die Geburt von Noah informiert und erfahren, dass im Verlauf des Abends eine weitere schwangere Frau ins Spital eingetreten ist. Die Geburt des Kinds ist überfällig. Die Patientin hat die 40 Wochen Schwangerschaft – ab dem ersten Tag der letzten Menstruation gerechnet – um gut eine Woche überschritten. Man befürchtet, dass das Baby nicht mehr gut versorgt ist. Darum versucht man, die Geburt mit einem Medikament einzuleiten, das vaginal als Zäpfchen verabreicht wird. Es soll die Gebärmutterkontraktionen künstlich anregen.

Augusta Theler widmet sich nach dieser Sitzung weiter den Papieren, die komplett ausgefüllt sein müssen, bevor sie ihre Schicht beendet. Dabei geht es nicht nur um die Dokumentation medizinischer Einzelheiten, sondern auch um die korrekte Abrechnung der Leistungen. Jeder einzelne Posten, von den Medikamenten bis zum benötigten Material, muss detailliert aufgeführt werden. Eine ihrer Kolleginnen verschwindet in der Zwischenzeit in Gebärsaal 1, wo vor gut zwei Stunden der kleine Noah zur Welt gekommen ist. Plötzlich ertönt im Stationszimmer der Alarm, worauf Augusta Theler blitzartig von ihrer Schreibarbeit aufsteht und zusammen mit zwei weiteren Hebammen und der Assistenzärztin aus dem Raum eilt. Die Kollegin in Gebärzimmer 1 braucht Hilfe, denn bei der Patientin hat sich die Blutung deutlich verstärkt. Es ist anzunehmen, dass in der Gebärmutter doch noch Stücke der Eihäute verblieben sind, die zur vermehrten Blutung führen. Kurz vor Mitternacht entscheidet sich die Assistenzärztin nach Rücksprache mit den Hebammen, eine Curettage durchführen zu lassen. Unter Narkose soll durch die Vagina ein Instrument eingeführt werden, mit dem die Gebärmutter ausgekratzt beziehungsweise ausgeschabt wird. Die Ärztin lässt den Operationssaal für den bevorstehenden Eingriff vorbereiten. Die Patientin, die ihr Kind so schnell und problemlos geboren hatte, muss nun doch noch mitten in der Nacht operiert werden. Sie lässt alles mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Als sie im Bett durch den Spitalgang gefahren wird, scheint sie zu dösen. Ihr Mann hatte sich schon eine halbe Stunde vorher im Spital verabschiedet. Er ist nach Hause ins Simmental gefahren, um sich um die zwei älteren Kinder zu kümmern. Die Hebammen werden ihn telefonisch über den Verlauf der Operation informieren.

Mitternacht ist vorbei, als Augusta Theler die fertig ausgefüllten Formulare in ein Sichtmäppchen steckt. Ihre Schicht ist zu Ende, und so tritt sie aus dem Stationszimmer auf den Spitalgang, um sich umziehen zu gehen. Danach kehrt sie kurz ins Stationszimmer zurück und verabschiedet sich von den Kolleginnen der Nachtschicht. Es regnet, als sie vor dem Spital durch die Dunkelheit in Richtung Parkplatz geht, das Auto aufschliesst und einsteigt. Dicke Tropfen prallen auf die Windschutzscheibe.

Magie und Schrecken der Geburt

«Ich erlebe bei jeder Geburt magische, intensive Momente», sagt Augusta Theler. «Jede Geburt hat etwas Bezauberndes und ist etwas Einmaliges. Die Zeit bleibt einen Augenblick stehen.» Sie empfindet es als riesiges Privileg, in diesen Momenten ganz nah dabei zu sein und ein Teil der Geschichte jedes Paars und jedes Kinds zu werden; auch wenn diese sich später nicht mehr an die Hebamme erinnern. «Dieses Ereignis bleibt prägend für die ganze Familie.»

Die Hebamme sagt, sie empfinde höchsten Respekt vor jeder Geburt und habe eine grosse Achtung vor jeder Gebärenden. Sie selbst hat keine eigenen Kinder und besitzt damit auch keine persönliche Geburtsgeschichte, die sie in ihrem Beruf beflügeln oder belasten könnte.

«Ich finde es schön, einen verantwortungsvollen Beruf zu haben», sagt sie. «Aber freilich kann Verantwortung auch belastend sein, wenn es um Leben und Tod geht. Als Hebamme kann ich die Verantwortung nicht einfach abschieben, sondern muss mich in die Situation schicken.» Im Spital ist sie in eine Gruppe von Spezialisten eingebunden und fühlt sich dadurch nie allein. Sie findet, diese Teamarbeit entspreche ihr. «Ich bin ein Rudeltier und kann mir nicht vorstellen, anders zu arbeiten.»

Obschon das Team sie unterstützt, ist die Hebamme bei jeder Geburt mit ihrer ganzen Präsenz gefordert. «Man braucht viel Einfühlungsvermögen, um auf jede Frau individuell eingehen zu können. Und es braucht eine gewisse Spontaneität und Flexibilität, um in unerwarteten Situationen schnell reagieren zu können.» Augusta Theler ist sich bewusst, dass viele Schwangerschaften mit langen, komplizierten Vorgeschichten verbunden sind. Nicht bei allen Paaren klappt es sofort mit dem Kinderkriegen. Manche haben einen Leidensweg voller Bangen und Hoffen hinter sich, bis die Frau endlich schwanger ist. Nicht selten haben die Paare viel Zeit und Energie, manchmal auch viel Geld investiert, bis die Schwangerschaft geglückt ist, etwa durch eine künstliche Befruchtung. «Dann lastet ein doppelter, meist unausgesprochener Druck auf uns Hebammen, dass alles gut geht.»

Die Ansprüche und Erwartungen der werdenden Eltern würden immer grösser, sagt Augusta Theler. «Durch die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik wiegen sich viele Leute in Sicherheit. Die instinktive, natürliche Beziehung mancher Frauen zum werdenden Leben ist damit gestört worden. Bluttests, Chromosomenuntersuchungen und Baby Watching dank Ultraschall vermitteln das Gefühl, jederzeit alles unter Kontrolle zu haben. Doch die absolute Sicherheit gibt es nicht.» Auch romantisch verklärte Vorstellungen von einer sanften Geburt bei Kerzenlicht seien verbreitet, stellt sie fest. «Gebären ist aber ein natürlicher Prozess, der nicht immer nach Plan abläuft. Wenn die Geburt beispielsweise nicht voranschreitet und es dem Kind zunehmend schlechter geht, muss man etwas unternehmen, um den Verlauf zu beschleunigen.» Unter Umständen wird der Arzt mit der Saugglocke oder der Zange nachhelfen, oder es wird ein Notfallkaiserschnitt durchgeführt – nicht das, was sich die Frauen wünschen. «Man darf nicht vergessen, dass die meisten Geburten normal und ohne Komplikationen verlaufen», sagt Augusta Theler. «Hier in der Schweiz bin ich als Spitalhebamme trotzdem froh um die Diagnose- und Operationsmöglichkeiten, die für den Notfall vorhanden sind.»

Ein Notfall mit einem Kampf um Leben und Tod geht ihr noch heute unter die Haut. «Es war 6 Uhr morgens, gegen Ende der Nachtschicht, und es war wenig los im Spital», erinnert sie sich. «Meine Kollegin wollte mich schon heimschicken. Sie meinte, sie käme gut allein zurecht. Ich bestand darauf, bis zur Ablösung zu bleiben, und zog mich ins Stillzimmer zurück, um ein wenig zu schlafen. Ich lag noch nicht lange auf der Couch, da kam die Meldung aus dem Notfall, sie würden eine schwangere Frau zu uns hinaufbegleiten. Die Frau war mit ihrem Mann im Privatauto zum Spital gefahren. Sie konnte nicht selbst aus dem Auto steigen, so schlecht war ihr Allgemeinzustand. Vom Notfall brachte man sie mit der Bahre auf die Gebärabteilung: ein schlechtes Zeichen.

Ich erschrak. Die Frau war fahl im Gesicht und fast nicht mehr ansprechbar. Ich legte ihr die Hand auf den Bauch, um die Spannung der Gebärmutter oder Wehen zu spüren. In diesem Augenblick merkte ich, dass die Bauchdecke weich war wie ein Schwamm. Schlagartig wurde mir der Ernst der Lage bewusst. Ich rief nach der Ärztin und meiner Kollegin. Die Patientin wurde immer fahler und grauer, sie war fast bewusstlos. Ihr Puls war sehr hoch, der Blutdruck sehr tief, alles Anzeichen für einen Schock. Die Herztöne des Kinds waren schwach. Wir brachten die Frau sofort nach unten in den Operationssaal. Notfallsectio. Ich machte mir grosse Sorgen um die Mutter und das Kind. Die beiden Leben hingen an einem seidenen Faden. Es ging alles so schnell, ich hatte nicht einmal Zeit, um dem Mann die Dramatik der Situation zu erklären. Die Gebärmutter war gerissen – eine seltene, lebensgefährliche Komplikation: Der Bauchraum füllt sich mit Blut und Fruchtwasser, und die Versorgung des Kinds wird unterbrochen. Schliesslich überlebte die Frau die Operation, doch für den Säugling kam die Hilfe zu spät. Wir haben noch versucht, das Kind zu reanimieren, konnten es jedoch nicht zurückholen.

Ich musste dem Mann, zusammen mit dem Arzt, die traurige Nachricht überbringen. Tragödien wie diese machen mich sprachlos, es tat mir so weh, dass das Kind gegangen war. Ich konnte meine Ohnmacht und meine Fassungslosigkeit nicht verbergen. In diesen Momenten trauern wir mit den Eltern mit. Aber ich war auch erleichtert, dass die junge Frau überlebt hatte. Sie hatte eine grössere Tochter zu Hause. Diese Geschichte war für mich sehr prägend. Ich bin froh, mich auf mein Gefühl verlassen zu haben; zum Glück war ich nicht nach Hause gegangen und hatte meine Kollegin nicht allein gelassen.» Augusta Thelers Stimme wird brüchig, wenn sie davon erzählt. «Das kennt man ja heute in unseren Breitengraden kaum mehr, extreme Sachen wie einen Gebärmutterriss, der für die Schwangere tödlich ausgehen kann.»

Der Notfall im Spital brachte die Hebamme vollkommen aus der Fassung. Sie haderte mit sich und mit dem Unglück. Die Walliserin sieht sich als starke Person, doch sie sagt, in manchen Situationen wirke sie stärker, als sie sei.

Sie lache gern, sei temperamentvoll, fröhlich und gesellig. Aber sie sei auch ein emotionaler Mensch, manchmal dünnhäutig, mit einer nachdenklichen Seite.