Buch lesen: «Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung»
Frank Ahland (Hg.)
Zwischen Verfolgung und SelbstbehauptungSchwul-lesbische Lebenswelten an Ruhr und Emscher im 20. Jahrhundert
Impressum
Die Titelabbildungen zeigen von links nach rechts: Stolperstein Otto Meinecke (Foto privat), Ernst August Papies 1945 (Foto privat), Helene Wolff, Margarete Herz (Privatarchiv Diane Herz), Cover der Rosa Zone Juni 1995 (Rosa Zone), Rosenmontagszug 1936 (Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, RWB 29036), Flyer einer Lesbengruppe im Bochumer Frauenladen (Frauenarchiv ausZeiten), Michael Jähme, Günter Müllenberg (Foto privat), das Dortmunder Polizeigefängnis Steinwache (Stadtarchiv Dortmund), Cover der Rosa Zone Juni 1994 (Rosa Zone), Cover der Rosa Zone Januar 1995 (Rosa Zone), Polizeirevier und Sitz der Gestapo für den den Regierungsbezirk Arnsberg um 1938 (Foto Stadtarchiv Dortmund), Cover der Rosa Zone April 1995 (Rosa Zone), Ernst August Papies 1965 (Foto privat), Cover der Rosa Zone Februar 1995 (Rosa Zone), Porträtaufnahme Hilde Radusch (Foto FFBIZ), Cover der Rosa Zone Oktober 1994 (Rosa Zone), die erste Ausgabe der Zeitschrift IHRSINN Januar 1990 (IHRSINN), Informationsstand der Aids-Hilfe in der Kamener Fußgängerzone, ca. 1987/1988 (Foto privat)
Beiträge der Dortmunder Tagung gleichen Titels vom 14. November 2015, einer Veranstaltung des Arbeitskreises Schwule Geschichte Dortmunds im
in Kooperation mit dem
gefördert von
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-86408-213-9
© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2016
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.
Inhaltsverzeichnis
Grußworte
Erkundungen in der logischen Familie
Umrisse einer homosexuellen Geschichte des Ruhrgebiets
Teil 1 – Entrechtung und Verfolgung
„Alle sind nach meiner Meinung typische Homosexuelle”
Der Essener Theaterskandal 1936
Schwulenverfolgung in Dortmund im Nationalsozialismus
Vorläufige Ergebnisse neuerer Forschungen
Seitenwechsel – Spurensuche auf der Täterseite
Werkstattbericht zur Dokumentation der Verfolgung
„So zerpitzelte er die Vergangenheit in kleinste Fetzen und opferte sie dem Gully.”
Das Zeitzeug_innen-Projekt zu Biografien in der frühen Bundesrepublik
Teil 2 – Erinnern und Gedenken
Mehr als Stolpersteine
Eine persönliche Annäherung an das Gedenken homosexueller Männer
Der Gedenkort Hilde Radusch
Eine queer-feministische Intervention in andronormative Gedenkpolitiken
Perspektiven in einer neuen Dauerausstellung
Homosexuellenverfolgung als Teil der Gedenkkultur am Beispiel der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache
Teil 3 – Stationen der Selbstbehauptung
Leben, Lieben und Arbeiten im Ruhrgebiet
Ein feministisches Netzwerk um 1900
Im Dazwischen
Zur paradoxen Situation von Lesben in den Neuen Sozialen Bewegungen (Homosexuellen- und Frauenbewegungen)
Blitzlichter, Dauerbrenner und Sehnsuchtsmomente
Lesbenzeiten, Lesbenorte, Lesbenleben – Lesbenbewegung im Ruhrgebiet
AIDS-Shock goes Ruhr
HIV und AIDS im Ruhrgebiet in den 1980er Jahren
Queere Körperbilder im Revier?
Männlichkeits- und Körperdiskurse in Zeitschriften für nicht-heterosexuelle Männer am Beispiel der Rosa Zone
Anmerkungen
Autorinnen und Autoren
Dieses Buch wurde ermöglicht über eine Crowdfundingaktion auf www.startnext.de und die Unterstützung von:
Bodo Busch, Nina Schuster, Claudia Tekampe, Josef Jürgens, Christian Köther, Jochen Fischer, Michael Jähme, Markus Willeke, Manfred Buhl, Manuel Izdebski, Volker Borchers, Eugen Furch, Rainer Clauss, Pia Honikel, Michael Meyer, Dr. Axel Wippermann, Gerben van der Linden, Käthe Hientz, Andreas Boscher, Christoph Kremer, Ralf Wahlenmaier, Nico Olejniczak, Malte Kloeckner, Thomas Maschek, Reinhard Wiesemann, Daniel Thäsler, Peter Stukenborg, Jan Villwock, Uwe Rentrop und zahlreiche anonyme Spender.
Grußworte
Manfred Sauer
Grußwort des Bürgermeisters der Stadt Dortmund
Am 5. November 2015 ist mit Hans Mommsen einer der wichtigsten Historiker der NS-Zeit gestorben. In einem Nachruf hat die Süddeutsche Zeitung seine „unbequemen Blicke auf die Vergangenheit” gewürdigt und an sein historisches Credo von 1964 erinnert: Zeitgeschichte, so Mommsen, dürfe „nicht dabei stehen bleiben, eine Kritik der Vergangenheit zugunsten der gelebten Gegenwart zu liefern”, sondern müsse „die Geschichte der jüngsten Vergangenheit von den Fragen her neu durchdenken, die von ihr her über Tage oder unterirdisch auf das gegenwärtige Handeln einwirken”.1 Diesem Ansatz wird auch die heutige Veranstaltung gerecht, denn sie gibt nicht nur Zeugnis über die „schwul-lesbischen Lebenswelten an Ruhr und Emscher im 20. Jahrhundert”, sondern setzt diese auch in Verbindung mit der „Jetztzeit”.
Diese Tagung nimmt sich zudem eines Themas an, das zeigt, dass sich Geschichte meist nicht zum Besseren verändert: Während die Antike keinen Unterscheid zwischen hetero- und homosexueller Veranlagung kannte, ist bereits im Alten Testament nachzulesen: „Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau, es ist ein Gräuel.” (3. Buch Mose) Im Spätmittelalter wurde gleichgeschlechtlicher Liebe auf dem Scheiterhaufen ein Ende gesetzt – und selbst im 19. und 20. Jahrhundert wurde eine homosexuelle Liaison noch mit Gefängnis bestraft. Nachdem das Reichsstrafgesetzbuch 1871 den sexuellen Akt zwischen Männern als „widernatürliche Unzucht” definierte und einflussreiche Psychiater Homosexuellen eine angeblich erbliche neuropsychologische Störung attestierten, war der Boden für eine erneute Radikalisierung strafrechtlicher Verfolgung bereitet. Heute sind wir in einer Gedenkstätte versammelt, die als eine der ersten in Deutschland die Verfolgung homosexueller Männer und Frauen zum Thema gemacht hat. Heute wissen wir, dass während der NS-Zeit an diesem Ort 650 homosexuelle Männer inhaftiert waren – weit mehr als bisher bekannt.
Hinter diesen erschreckenden Zahlen stehen die persönlichen Schicksale einer Häftlingsgruppe, die in der Wahrnehmung der Nationalsozialisten am unteren Ende der Hierarchie aller Inhaftierten rangierten. Es sind Geschichten wie die von Louis Schild, die uns nahegehen – einer von mehreren hundert Männern aus dem Ruhrgebiet, die das nationalsozialistische Terrorregime aufgrund ihrer Homosexualität ermordete. Am 18. November 2015 jährt sich zum 80. Mal der Todestag dieses Dortmunder Bürgers, der am Dortmunder Westenhellweg in eine deutsch-jüdische Kaufmannsfamilie hineingeboren wurde. Wir erinnern uns heute an Schicksale wie das von Otto Meinecke, der in Dortmund als Feilenfabrikant arbeitete, und der Ende der 1930er Jahre von der Kriminalpolizei in das Polizeigefängnis Steinwache eingeliefert wurde. Er wurde 1942 in das KZ Sachsenhausen verschleppt und bei einem angeblichen Fluchtversuch getötet. Tatsächlich war sein Tod Teil einer groß angelegten Mordaktion an homosexuellen Männern.
Als Erinnerung und Mahnung zugleich liegen für Louis Schild in Essen und für Otto Meinecke in Dortmund sogenannte Stolpersteine. In wenigen Monaten wird bei uns in Dortmund eine Straße zwischen den neuen Berufsschulen am U und dem Bahndamm den Namen von Otto Meinecke tragen: Dann wird zum ersten Mal in Deutschland ein Straßenname an einen wegen seiner Homosexualität ermordeten Mann erinnern.2 Das ist nur ein kleines Zeichen der Stadt für großes Unrecht – aber es ist ein Zeichen.
„Ohne Erinnerung gibt es weder Überwindung des Bösen noch Lehren für die Zukunft”, hat unser ehemaliger Bundespräsident Roman Herzog einmal gesagt. Daher ist es ausdrücklich zu loben, dass diese Tagung daran erinnert, was am Anfang der Verfolgung von homosexuellen Menschen in der NS-Zeit stand: Hass, Verachtung und die Ignoranz vieler Bürger, die einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollten, was mit gleichgeschlechtlich orientierten Menschen in ihrer Nachbarschaft geschah. Hass, Verachtung, Ignoranz, aber auch Angst waren der Boden, auf dem der Nationalsozialismus gedeihen konnte. Und leider kommt auch heute diese „unheilvolle Allianz” wieder gegenüber allem „Fremden” auf, die es zu überwinden gilt – auch, um den Auftrag zu erfüllen, der sich aus dem Erinnern ergibt: dem Schutz und der Bewahrung der Mitmenschlichkeit. Die Gemeinschaft, in der wir alle leben wollen, wird nur dort gedeihen, wo die Würde des Einzelnen geachtet und Solidarität gelebt wird.
Die heutige Veranstaltung ist ein guter und wichtiger Schritt, diesen Weg zu gehen, und ich hoffe, dass das Zeichen, das heute von der Steinwache ausgeht, in Dortmund – aber auch über unsere Stadtgrenzen hinaus – gehört wird.
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Markus Günnewig
Grußwort der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache
Ich freue mich sehr, dass die Tagung „Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung – schwul-lesbische Lebenswelten im 20. Jahrhundert” in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache stattfinden konnte. Mein großer Dank gebührt den Organisator_innen vom Arbeitskreis Schwule Geschichte Dortmunds und dem Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher.
Dass die Steinwache mit ihrer Geschichte als Polizeigefängnis in Demokratie und Nationalsozialismus der passende Ort für eine solche Tagung ist, haben die jüngsten Forschungen von Frank Ahland ein weiteres Mal deutlich unterstrichen. Etwa 650 Männer wurden auf Grundlage des § 175 StGB in diesen Jahren verschärfter Verfolgung hier eingeliefert, weil Staat und Gesellschaft meinten, sich in ihr Privatleben einmischen zu dürfen oder zu müssen. Viele kamen von hier aus vor Gericht und in Justizgefängnisse, Zuchthäuser oder wurden direkt in Konzentrationslager deportiert und bezahlten den Hass oder das verquere Pflichtbewusstsein ihrer Verfolger nicht selten mit dem Leben. Bei der Aufarbeitung dieses Verfolgungsgeschehens stehen wir für Dortmund und für das Ruhrgebiet immer noch weitgehend am Anfang.
Aber natürlich geht es nicht nur um die NS-Zeit, wenn wir über homophobe Verfolgung durch Staat und Gesellschaft sprechen. Der nationalsozialistische Staat hat mit seiner Verschärfung des § 175, der radikalen Ächtung und Verfolgung letztlich nur das zugespitzt, was bis heute virulent ist, nämlich den immer wieder auch gewalttätigen Hass auf sexuelle Differenz. Dieser fordert weiterhin überall auf der Welt zahlreiche Opfer. Denn auch wenn wir mittlerweile in der liberalsten Gesellschaft leben, die es je auf deutschem Boden gegeben hat, sind wir doch auch hier weit davon entfernt, dass Menschen öffentlich, zu jeder Zeit und an jedem Ort ohne Angst verschieden sein können.
Es ist ein elementarer Bestandteil der Liberalisierung einer Gesellschaft, die eigene Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Dazu gehört in unserem Fall auch, dass wir das historische Verfolgungsgeschehen, seinen Kontext und seine Ursachen aufarbeiten, analysieren und nicht zuletzt versuchen, den Opfern posthum ihre Würde zurückzugeben.
Dabei ist Forschung immer der erste Schritt, um zunächst aufzuarbeiten, was passiert ist. Gleichzeitig braucht es aber auch ein öffentliches Thematisieren und Diskutieren dieser Vergangenheit, sei es durch Ausstellungen, Veranstaltungen, Tagungen wie diese, Texte etc. Dadurch tragen wir zur gesellschaftlichen Diskussion über die unabgeschlossene, bis in die Gegenwart reichende Vergangenheit bei und gestalten eben auch das Selbstverständnis unserer Gesellschaft mit. Dies werden wir versuchen, im Rahmen der Neukonzeption der Steinwache aufzugreifen und umzusetzen. Hier wird es auch darum gehen, nicht nur die genuin nationalsozialistische Verfolgung zu thematisieren, sondern auch Kontinuitäten der Zeit vor 1933 und nach 1945, also die Fragen nach einem Wandel sowie nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden aufzuwerfen und zu beantworten. Dabei wird es nicht nur um das Wirken der Polizisten, die Festnahmen aufgrund von § 175 vornahmen, und ihre Opfer gehen. Die unmittelbaren Verfolger der Dortmunder Kriminalpolizei handelten ja nicht isoliert, sondern waren genau wie heute eingespannt in ein gesellschaftliches Netzwerk, waren angewiesen auf die Kooperation weiterer staatlicher Institutionen, wie beispielsweise der Justiz, deren Staatsanwälte Homosexuelle anklagten und deren Richter sie verurteilten. Gleichzeitig waren es aber auch unterschiedliche Teile der Gesellschaft, die am Verfolgungsgeschehen teilnahmen. Es waren Anzeigen, die einen Verfolgungsvorgang initiierten und Menschen in die Hände der Polizei brachten. Es war eine Gesellschaft, die das Verfolgungsgeschehen zumindest tolerierte, wenn nicht gar forcierte und weder 1933 noch 1945 ausgetauscht wurde. Somit ist der Blick ausschließlich auf die Staatsorgane genauso wie ausschließlich auf die NS-Zeit ein verkürzter.
Ich hoffe, dass die hier vorgestellten Forschungsergebnisse erst der Anfang sind, dass von ihnen Impulse für weitere Forschungen ausgehen und die entsprechenden Kooperationen weiterhin fruchtbar sein werden. Gleichzeitig ist es wünschenswert, dass sie auch in möglichst vielfältiger Weise Anstoß für weitere gesellschaftliche Diskussionen sein werden.
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Jörg Litwinschuh, Andreas Pretzel
Grußwort der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
Wie wohl die meisten von Ihnen wissen, wurde die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld im Oktober 2011 von der Bundesregierung ins Leben gerufen. Sie ging aus Bestrebungen hervor, eine Form der Kollektiventschädigung für das Unrecht auf den Weg zu bringen, das Homosexuellen während der NS-Zeit angetan wurde und für das es nach der NS-Zeit in beiden deutschen Staaten keinerlei Wiedergutmachung oder Entschädigung gegeben hat. Die Bundesstiftung hat deshalb die Aufgabe übertragen bekommen, Bildung, Wissenschaft und Forschung zu fördern, um – wie es in der Satzung bestimmt wurde – zum einen „die nationalsozialistische Verfolgung Homosexueller in Erinnerung zu halten”, zum zweiten „das Leben und die gesellschaftliche Lebenswelt homosexueller Männer und Frauen, die in Deutschland gelebt haben und leben, wissenschaftlich zu erforschen und darzustellen” und zum dritten „einer gesellschaftlichen Diskriminierung homosexueller Männer und Frauen in Deutschland entgegenzuwirken”.
Ihre Tagung, die sich schwul-lesbischen Lebenswelten an Ruhr und Emscher im 20. Jahrhundert widmet, dazu Forschungsergebnisse und Gedenkaktivitäten vorstellt und nicht zuletzt weitere Forschungsimpulse vermitteln und Anstöße zur Vernetzung der Forschungen geben möchte, entspricht den Aufgabenstellungen der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Deshalb war es uns eine Freude, dass der Förderantrag zur Veranstaltung dieser Tagung auch vom Fachbeirat und dem Kuratorium der Bundesstiftung Zustimmung erfuhr und die Stiftung diese Tagung finanziell unterstützen konnte.
Die Tagung leistet einen bedeutsamen Beitrag für die weitere Forschung und Erinnerungspolitik. Sie zeigt – oder wird zeigen –, was mit intensiver Recherche ans Licht gebracht werden kann und lohnend ist, in Erinnerung gerufen und im kollektiven Bewusstsein bewahrt zu werden. Die Tagung vermag einen Eindruck davon zu vermitteln, welche Quellen in diversen Archiven gehoben werden können, und zugleich, dass es möglich ist, selbst Quellen zu schaffen, etwa das angestrebte Zeitzeug_innenarchiv der ARCUS-Stiftung zu Erfahrungen von Lesben, Schwulen, Bi-, Inter- und Transsexuellen in der frühen Bundesrepublik. Auch hierzu gab es eine Unterstützung durch die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, die mit ihrem eigenen Zeitzeug_innenprojekt, dem „Archiv der anderen Erinnerungen”, Impulse und Know-how vermitteln konnte.
Die Vorträge dieser Tagung nehmen lesbisch-schwule Netzwerke und Protagonisten, Verfolgte und Verfolger, emanzipationspolitisch Bewegte und ihre Bewegungszeitschriften zur Selbstverständigung, auch über Emanzipationsziele, in den Blick – ein vielfältiges und auch vielversprechendes Tagungsprogramm. Der Tagungstitel „Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung” greift zudem eine Forschungsperspektive auf, mit der in den letzten Jahren dafür plädiert wird, die herkömmlichen Blickwinkel auf Verfolgung und Unterdrückung, Diskriminierung und Fremdbestimmung zu erweitern und auf bislang unbeleuchtete Aspekte auszudehnen. Und das heißt: Homosexuelle auch als Akteurinnen und Akteure wahrzunehmen, den Formen ihrer Selbstbehauptungen, ihren unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten und differierenden Erfahrungen nachzuspüren. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld freut es sehr, dass diese Tagung ein solches Plädoyer, wie es auf dem ersten Wissenschaftskongress der Bundesstiftung 2013 gehalten wurde, aufgegriffen und zum programmatischen Titel erhoben hat. Mit großem Interesse freuen wir uns daher auf die Ergebnisse dieser Tagung.
Frank Ahland, Susanne Abeck
Erkundungen in der logischen Familie
Umrisse einer homosexuellen Geschichte des Ruhrgebiets
Armistead Maupin, der Autor der Stadtgeschichten, die er seit 1974 als junger Journalist für den San Francisco Chronicle schrieb, unterscheidet zwischen seiner biologischen, der Herkunftsfamilie, und seiner logischen Familie, der Gay Community. Maupin lässt keinen Zweifel daran, wo er seine Prioritäten setzt: „Seine logische Familie sucht man sich selbst aus. Das sind die Leute, die man nachts anruft, wenn es einem schlechtgeht. Von denen man weiß, dass sie im Notfall für einen da sind. Vor denen man sich nicht verstellen muss und so sein kann, wie man ist. Viele Schwule wissen sehr genau, wie es ist, wenn man einen großen Teil seiner Persönlichkeit vor der biologischen Familie verbergen muss. Aber das betrifft nicht nur Schwule. Ich glaube niemandem, der behauptet, er könne seiner biologischen Familie wirklich alles so anvertrauen wie der logischen Familie.”3
Vielen Lesben und Schwulen ist ebenso wie Bi-, Trans- und Intersexuellen ein Gefühl der Vertrautheit untereinander, bei gleichzeitiger Entfremdung von ihrer Herkunftsfamilie und der sozialen Umgebung ihrer Kindheit und Jugend wohlbekannt. Ursächlich dafür dürfte die gemeinsame Erfahrung sowohl der Ausgrenzung als auch des Coming-outs sein.4 Dennoch, das zeigt die Erfahrung, bei aller Empathie gegenüber den verfolgten und ermordeten Homosexuellen, gegenüber den Vorreiter_innen5 der Selbstbehauptung, ist die Kenntnis der Geschichte der Homosexuellen und der Homosexualität selbst unter Homosexuellen gering. Dieser Band will dem, bezogen auf das Ruhrgebiet, entgegenwirken. Vor allem aber will er einer breiteren Öffentlichkeit Einblicke in ein einst als „schmutzig” denunziertes Thema6 verschaffen.
Und er will dazu anregen, die ohne Zweifel in jedem Archiv der Region vorhandenen Quellen bekannt und der Forschung zugänglich zu machen. Allen, die in Archiven forschen, werden Zufallsfunde bestens vertraut sein, so wie jener aus dem Wittener Stadtarchiv: Ein Vollziehungsbeamter und Flurschütz der Amtsgemeinde Annen fiel 1895 auf, weil er seinen Dienst betrunken in nichtvorschriftsmäßiger Kleidung versah. Im Rahmen ihrer Erkundigungen stellte die Polizei fest, dass der einfache Beamte während seines Militärdienstes 1879 als Vize-Feldwebel wegen widernatürlicher Unzucht zum Gemeinen degradiert und zu sechs Monaten Gefängnis im Festungsgefängnis Wesel verurteilt wurde. Das war auch der Grund dafür, dass er keinen Zivilversorgungsschein erhielt, der einem ehemaligen Berufssoldaten die bevorzugte Einstellung in den Öffentlichen Dienst ermöglicht hätte.7 Wie oft werden solche Funde schamhaft beiseite gelegt? Wie oft werden sie vielleicht sogar dann unter den Tisch fallen gelassen, wenn sie für das bearbeitete Thema ebenso relevant wie interessant wären? Von wie vielen wegen sogenannter Unzucht angestrengten Hexenprozessen der Frühen Neuzeit erfahren wir nicht, weil selbst in Quelleneditionen die Berichte gekürzt wiedergegeben werden, wenn sie nicht gar gänzlich herausfallen? Wie oft wird in Biografien über Männer und Frauen des Ruhrgebietes noch immer schamhaft verschwiegen, dass sie schwul, dass sie lesbisch waren, weil es Privatsache sei und niemanden etwas anginge? Wie oft heißt es in Darstellungen über die Nazizeit, dass zwar Homosexuelle verfolgt wurden, man aber aufgrund der schlechten Quellenlage dazu nichts sagen könne? Das war bis vor wenigen Jahren auch in Dortmund der Fall und ist es nach unserem Kenntnisstand heute noch in den anderen 52 Städten und Gemeinden des Ruhrgebiets.8
So viel ist sicher: Die Geschichte der Homosexuellen und der Homosexualität im Ruhrgebiet stellt noch immer eines der drängendsten Desiderate in der lokalen wie der regionalen historischen Forschung dar. Damit fällt das Ruhrgebiet auch deutlich ab gegenüber anderen deutschen Ballungsregionen wie Berlin, Hamburg oder auch Köln.9 Noch immer fehlen sowohl ein umfassender Überblick zur Entwicklung in der Region als auch lokale Fallstudien in ausreichender Anzahl und Tiefe. Vereinzelte Initiativen und engagierte Einzelpersonen, die sich des Themas bisher annahmen, konnten der Nichtbeachtung in Archiven und Universitäten der Region, aber auch in den historischen Vereinen nur wenig entgegensetzen. In der etablierten Geschichtswissenschaft, in den kommunalen Archiven und Geschichtsvereinen der Region, ihren Gedenkstätten, in der allgemeinen Erinnerung an das Vergangene ist das Thema offenkundig noch längst nicht angekommen, auch wenn, anders als noch vor wenigen Jahrzehnten, den zum Thema Forschenden in den Institutionen kaum mehr Gegenwind entgegenschlägt.10
Ziel der am 14. November 2015 in der Dortmunder Mahn- und Gedenkstätte Steinwache stattgefundenen Tagung war es denn auch, geltend zu machen, dass Homosexuelle einen Platz in der Erinnerungs- und Geschichtskultur des Ruhrgebiets einnehmen. Zu diesem Zweck galt es, in einem ersten Schritt all diejenigen zusammenzuführen, die zu diesem Themenfeld gearbeitet haben oder aktuell arbeiten. Denn die bisherigen Forschungen zur Geschichte der Homosexuellen und der Homosexualität im Ruhrgebiet blieben unkoordiniert und unverbunden. Zur Besonderheit des Ruhrgebietes gehört es, dass die Region, obwohl als homogener Raum empfunden, vielfach zersplittert und in sich differenziert ist. Trotz der Nähe der Städte zueinander fehlt es oft an Zusammenarbeit und Zusammengehörigkeitsgefühl.
Als Initiator der Tagung hat sich der 2003 von Historiker_innen und Laien gegründete Arbeitskreis Schwule Geschichte Dortmunds das Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher gesucht, ein seit 1992 bestehendes offenes Netzwerk zwecks Erfahrungs- und Informationsaustausch innerhalb der Geschichtsszene des Ruhrgebiets, zum Teil zu wenig bearbeiteten Themenfeldern.11 Gemeinsam wollen sie die Zusammenarbeit lokaler Initiativen zur schwulen und lesbischen Geschichte verbessern und fördern und zugleich den Kontakt zu den Institutionen der Geschichts- und Sozialwissenschaften stärken. Zudem möchten sie Interessierte aus Wissenschaft und Laienschaft anregen, sich mit den umrissenen Themen zu befassen und zu ihnen zu forschen, um die sogenannten weißen Flecken in der Geschichte zu füllen.
Der Tagungsband lässt eine breite Erinnerungskultur um die schwul-lesbischen Lebenswelten an Ruhr und Emscher erkennen, die jedoch der systematischen Erfassung harrt.12 Die Beiträge verdeutlichen, dass die verschiedenen Aspekte der Verfolgung und die Erinnerung daran breiten Raum einnehmen, was zweifellos ein notwendiges Unterfangen ist, wofür auch der Tagungsort stand, die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache.13 Sie erhellen aber zugleich, dass Schwule und Lesben an der Ruhr ihre Lebenswelten, die ihnen die notwendigen Entfaltungsmöglichkeiten zwischen Subkultur und Integration boten, suchten und fanden. Auch wenn der Band nicht alle Themen ausreichend ausloten kann, so zeigt er doch, dass sich selbst bei der oftmals schlechten Quellenlage ein spannendes Bild der Schwulen und Lesben an Ruhr und Emscher zeichnen lässt.
Zu Beginn des ersten Teils über Entrechtung und Verfolgung der Homosexuellen zwischen Nationalsozialismus und Adenauer-Ära erinnert der Essener Historiker Wolfgang D. Berude an den Essener Theaterskandal. Als Otto Zedler, ein beliebter Schauspieler der Essener Bühnen, 1936 als Karnevalsprinz gefeiert wurde, nahm die Gestapo den schon seit längerem der Homosexualität Verdächtigen ins Visier. Mithilfe von Denunzianten gelang es, Zedler mit weiteren am Theater beschäftigten Männern vor Gericht zu stellen. Dennoch musste die Gestapo eine Niederlage hinnehmen, als ein Angeklagter freigesprochen wurde, nachdem ein Belastungszeuge sein zuvor gegenüber der Gestapo gemachtes Geständnis zurückgezogen und ausgesagt hatte, er sei mit Gewalt dazu gepresst worden. Berude gibt eine detaillierte Schilderung der Abläufe aufgrund aufgefundener Akten der Gestapo.
Der Dortmunder Historiker Frank Ahland widmet sich der Schwulenverfolgung in Dortmund im Nationalsozialismus. Anhand der Haftbücher des Dortmunder Polizeigefängnisses Steinwache hat er rund 650 aufgrund homosexueller Handlungen eingelieferte Männer ermittelt. Seine Auswertungen lassen eine intensive nächtliche Verfolgung Homosexueller in öffentlichen Toiletten- und Parkanlagen seitens der Polizei, aber auch einen hohen Anteil denunzierter Männer erkennen. Sie zeigen zudem einen engen, bisher wenig beachteten Zusammenhang des massiven Anstiegs der Verfolgung nach einer Rede Heinrich Himmlers am „Tag der deutschen Polizei” im Januar 1937, in der er in der Homosexualität eine Bedrohung des nationalsozialistischen Männlichkeitskultes erkannt zu haben glaubte. Eine umgehend gestartete Pressekampagne diente der ideologischen Rechtfertigung einer verstärkten Verfolgung durch Polizei, Gestapo und SS. Ahland verweist damit die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts, das 1957 darauf verwies, dass die Verschärfung des § 175 im Jahr 1935 rechtsstaatlich zustande gekommen und daher kein NS-Unrecht sei, ins Reich der Legende.
Einen Seitenwechsel vollzieht der Weetzener Historiker Alexander Wäldner. Anhand von Dortmunder Beispielen begibt er sich auf die Täterseite, die noch immer zu selten in den Fokus genommen wird. Während die meisten wegen homosexueller Handlungen verfolgten Männer ihre Rehabilitierung nicht mehr erlebten und die sehr wenigen noch lebenden Betroffenen bis heute aus Scham dazu schwiegen, konnten die Verfolger in den Reihen der Polizei nach 1945 ihren Dienst weiter versehen und waren teils weiterhin an der Verfolgung homosexueller Männer beteiligt. Wäldner hat die NSDAP-Mitglieder unter den Polizisten, die Männer aufgrund homosexueller Handlungen in das Dortmunder Polizeigefängnis Steinwache einlieferten, ermittelt und einzelne Täterbiografien recherchiert. Nicht ein Richter, Staatsanwalt, Justizbeamter oder KZ-Aufseher wurde bisher für seine Mittäterschaft an der Homosexuellenverfolgung zur Rechenschaft gezogen. Wäldner erkennt darin weiterhin aktives staatliches Unrecht gegenüber den homosexuellen weiblichen und männlichen NS-Opfern.
Der Kölner Sozialpädagoge Michael Jähme berichtet von seiner Arbeit im Facharbeitskreis Zeitzeug_innen der ARCUS-Stiftung, der es sich zur Aufgabe gesetzt hat, Biografien von Schwulen, Lesben, Trans- und Intersexuellen in der frühen Bundesrepublik zu sichern und zu dokumentieren. Gerade weil von Verfolgung bedrohte Männer häufig Fotos, Briefe und andere Erinnerungen an Partner und Freunde vernichten mussten, um sich nicht selbst zu belasten, fehlen der Geschichtswissenschaft Quellen. Mit den Interviews werden daher Quellen geschaffen, um diese Lücken aufzufüllen. Das Projekt soll die Lebenserfahrungen von Menschen dokumentieren, denen eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit aufgrund einer heteronormativen Moral und der gesellschaftlichen Situation kaum möglich war. Erstmals berichtet Jähme öffentlich von den im Rahmen des Projekts gewonnenen Erfahrungen und Eindrücken und davon, wie die Kontakte zu den Zeitzeugen zustande kamen und die Interviews verliefen. Nach seiner Erfahrung sind alte schwule Männer sehr wohl bereit, aus ihrem Leben zu berichten, wenn sie auf echtes Interesse an ihren Erfahrungen stoßen.
Den zweiten, mit Erinnern und Gedenken überschriebenen Teil eröffnet Jürgen Wenke. Der Bochumer Psychotherapeut und langjährige Leiter der Rosa Strippe, einer psychosozialen Beratungsstelle für Lesben und Schwule, gibt einen kursorischen Überblick seines Engagements für die Erinnerung an die von der NS-Diktatur verfolgten und ermordeten schwulen Männer aus dem Ruhrgebiet. Es reicht von der Initiierung von Stolpersteinen in zahlreichen Ruhrgebietsstädten und Gedenktafeln in mehreren KZ-Gedenkstätten bis hin zu Publikationen. Dem ersten Stolperstein in Bochum folgten, stets verbunden mit Archivrecherchen, bisher weitere 19 Stolpersteine. Ruhrgebietsweit hat der Künstler Günter Demnig inzwischen 22, an ermordete Homosexuelle erinnernde Stolpersteine verlegt. Wenke nennt Stolpersteine gewachsene Kunstwerke, die es ermöglichen, die Öffentlichkeit vielfältig einzubeziehen.