Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann"

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V Claras Verblendung und die Grenzen des Verstehens

Doch ist mit dieser erneuten Zerrüttung der Psyche des Protagonisten noch immer nicht das Ende der Erzählung von »Nathanaels verhängnisvollem Leben« erreicht. Auch aus dieser geistigen Umnachtung erwacht er erneut, diesmal gepflegt und umhegt von seiner Familie. Selbst Clara hat ihm alle Eskapaden verziehen und hofft nach erhaltener Erbschaft, die ein geruhsames Leben auf dem Lande verspricht, auf ein gemeinsames Leben mit Nathanael, denn: »Jede Spur des Wahnsinns war verschwunden« (34/[40]).

Bereits ein gemeinsamer Abschiedsbesuch auf dem Ratsturm der Heimatstadt zerstört aber diese Illusion und beweist, dass sowohl Clara als auch alle anderen Nathanael umgebenden Personen seine Krankheit eigentlich nie verstanden haben. Schon der erneut zufällige Griff nach Coppolas Perspektiv, das sich noch immer in seiner Jackentasche befindet, und ein Blick hindurch auf Clara vitalisiert nämlich den zerrütteten Teil seiner Psyche und lässt diesen zur Lebensgefahr für Clara werden:

»Da zuckte es krampfhaft in seinen Pulsen und Adern – totenbleich starrte er Clara an, aber bald glühten und sprühten Feuerströme durch die rollenden Augen, grässlich brüllte er auf, wie ein gehetztes Tier; dann sprang er hoch in die Lüfte und grausig dazwischen lachend schrie er in schneidendem Ton: ›Holzpüppchen dreh dich – Holzpüppchen dreh dich‹ – und mit gewaltiger Kraft fasste er Clara und wollte sie herabschleudern […].« (35/[41])

Erneut ist es also das Fernglas Coppolas, das eine deviante, jetzt manifest pathologische Wahrnehmung und Handlung in Gang setzt. Die Erinnerung an die verzerrte Perspektive des Fernglases aktiviert die substantielle Verzerrung der Psyche (Freud 2010, 199). Nur dem beherzten Eingreifen Lothars ist es zu verdanken, dass Clara gerettet wird und Nathanael sich durch einen Sprung in den Tod seiner Qualen entledigt. Ohne Zweifel hat nicht nur Clara, sondern haben auch ihr Bruder und Nathanaels Mutter die Zeichen der nur scheinbaren Heilung des gefährlich Kranken verkannt. Erkennbar inszeniert Hoffmann dieses Unverständnis als Produkt ihrer Sehnsüchte nach der Gesundheit des von ihnen geliebten Sohnes, Mannes und Bruders. Dabei wird nicht das Scheitern der Aufklärung schlechthin inszeniert, sondern die Grenzen des Verständnisses für das pathologisch Andere der Vernunft, das sich allerdings des Scheins der Vernünftigkeit bedienen kann, und deren (lebensbedrohliche) Gefahren für die Missverstehenden.

Dieses semantische und systematische Allgemeine zeigt Hoffmann auch an zwei auffälligen und häufig interpretierten einzelnen Motiven: Im Rahmen des Streites zwischen Spalanzani und Coppola, den Nathanael beobachtet, nennt Spalanzani den Konkurrenten doch tatsächlich »Coppelius« (32/[37]), und schon vorher meint der hinzukommende Nathanael, »des […] Coppelius Stimme« vernommen zu haben. Damit würden die zu Beginn brieflich geäußerten Ängste des Traumatisierten Bestätigung finden.

Spalanzani wechselt aber auch wieder zum Gebrauch des Namens Coppola zurück, so dass der Leser nicht vollends entscheiden kann, ob der zutiefst aufgewühlte Nathanael diesen gefürchteten Namen bloß zu hören meinte oder ob der Erzähler ihn tatsächlich selbst verwendet hat: Es bleibt bis zum Schluss der Erzählung ungeklärt, ob die beiden Namen eine oder zwei Personen bezeichnen, so dass auf der Ebene der gesamten Erzählung die angstbesetzte Unsicherheit des Protagonisten reproduziert wird. Die Logik der kranken Seele produziert eben keine semantische Nichtigkeit, also Unsinn, sondern durchaus wahrscheinliche Annahmen, die die Gefahren, die in ihr schlummern, allererst sichtbar werden lassen. Nathanaels Angst vor dem alchemistischen Kinderquäler bleibt bis zum Schluss legitim und daher seine Befürchtung in Bezug auf die prägende Rolle dieser Figur für sein Verhängnis zumindest nachvollziehbar. Es geht Hoffmann also anscheinend nicht um die Objektivität des Glaubens an böse Mächte, es geht ihm um die Gründe für die subjektive Überzeugungskraft solcher Annahmen. Und für diese Absicht – und nicht um sich einem Verständnis abstrakt zu entziehen – wird die Unsicherheit des Protagonisten auf der Ebene der Erzählung wiederholt.

Ähnliches gilt für das zentrale Motiv der Augen, das in unterschiedlichen Varianten und Bedeutungen die Erzählung prägt.11 Als zentrales Organ der Licht in die Welt bringenden Aufklärung ist das Auge von Beginn an für Nathanael gefährdet, insbesondere in der Szene der Entdeckung während des alchemistischen Versuches, in der der Vater seinen Sohn scheinbar vor der Blendung durch Coppelius rettet. Als ›Spiegel der Seele‹, in dem sich beispielsweise die untadelige moralische Gesinnung Claras dokumentiert, ist dieses Organ zugleich das am schwierigsten technisch zu reproduzierende, weshalb Spalanzani auf die Künste Coppolas angewiesen ist und bleibt. Nur durch die Verzerrungen des Ferne nahbringenden Perspektivs zeigen sich für den liebestollen Nathanael die Leidenschaften der toten Puppe Olimpia. In den verschiedenen Formen und Funktionen der Augen spiegelt sich damit letztlich das zentrale Thema der Unvermittelbarkeit von Glauben und Wissen. Denn nur von der augen- und seelenlosen Olimpia fühlt sich der Romantiker Nathanael »ganz verstanden« (31/[36]).

Die vorstehende Interpretation hat versucht, aus den spezifisch literarischen Elementen und Momenten der Hoffmann’schen Erzählung wie u. a. der Gattungsmischung, der Figurenkonstellation und des Plots eine Deutung des impliziten Bedeutungsganzen zu ermitteln. Durch eine dem Text angemessene Kombination des Verstehens offensichtlicher und des Interpretierens zunächst undeutlicher Passagen und Elemente wurde versucht, eine dem Text innewohnende Bedeutungskohärenz zu rekonstruieren. Durch die Berücksichtigung eines spezifischen historischen Kontextes, nämlich des umstrittenen Verhältnisses von Glauben und Wissen, wurde es möglich, den Grund für das von Hoffmann bewusst hergestellte Unbestimmbare, Geheimnisvolle zu ermitteln: Hoffmann gestaltet dieses Thema als einen unlösbaren, tödlichen Konflikt, der auf den Gefahren beider ins Extrem getriebenen Positionen, der Aufklärung wie der Romantik, basiert.

Als ein allgemeines Verfahren zur Behandlung von literarischen Texten ist diese Art von analytischer und kontextualisierender Hermeneutik jeder Methodik zugrunde zu legen.

Literaturhinweise

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Neymeyr, Barbara: Narzißtische Destruktion. Zum Stellenwert von Realitätsverlust und Selbstentfremdung in E. T. A. Hoffmanns Nachtstück »Der Sandmann«. In: Poetica 29 (1997) S. 499–531.

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Reuchlein, Georg: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur. Zur Entwicklung der Wahnsinnsthematik in der deutschen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. München 1986.

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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803.

Schmidt, Jochen: Die Krise der romantischen Subjektivität: E. T. A. Hoffmanns Künstlernovelle »Der Sandmann« in historischer Perspektive. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. FS für Richard Brinkmann. Hrsg. von Jürgen Brummack [u. a.]: Tübingen 1981. S. 348–370.

Schubert, Gotthilf Heinrich: Die Symbolik des Traumes. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1814. Mit einem Nachwort von Gerhard Sauder. Heidelberg 1968.

Tepe, Peter / Jürgen Rauter / Tanja Semlow: Interpretationskonflikte am Beispiel E. T. A. Hoffmanns »Der Sandmann«. Würzburg 2009.

Weimar, Klaus: Was ist Interpretation? In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2 (2002) S. 104–115.

STRUKTURALISMUS/LITERATURSEMIOTIK

Zeichenordnungen und zeichenhafte Täuschungen in Der Sandmann

Von Stephanie Großmann und Hans Krah

I Methodisches Selbstverständnis

Im Folgenden geht es nicht um eine historische Skizze des Strukturalismus als philosophische Denkrichtung, wie sie sich im 20. Jahrhundert etabliert hat, und nicht um die Aufarbeitung der damit verbundenen Diskussionen und Auseinandersetzungen (vgl. dazu Titzmann 1980, 2010; Müller 2010). Vorgestellt werden soll der gegenwärtige State of the Art. Wichtige Impulse hierzu hat insbesondere die Rezeption von Jurij M. Lotmans Konzeptionen geliefert. Mit diesen avancierte der Strukturalismus zur Literatursemiotik, die sich als integrativ, offen und anschlussfähig versteht und durch ihre Methodik eine Ausweitung vom Gegenstand Literatur auf andere Formen ästhetischer Kommunikation ermöglicht.12

 

Strukturalismus/Literatursemiotik sind eine Methode in dem Sinne, dass sie erstens von bestimmten Grundannahmen ausgehen, was das Verständnis ihres Gegenstandes Literatur und ihres Umgangs damit betrifft, zweitens einen Grundzugang bei der konkreten Analyse favorisieren und sich dabei drittens (auch) spezifischer Beschreibungsinventare und Begrifflichkeiten bedienen.

Strukturalismus/Literatursemiotik verstehen sich hingegen nicht als Theorien, die sich durch spezifische Fragestellungen und fokussierte Themen definieren. Ebenso wenig privilegieren sie einzelne Aspekte des Erkenntnisinteresses. Insofern gibt es Überschneidungen mit anderen Ansätzen, so etwa mit den Gender/Queer Studies, für deren Gegenstände sich auch strukturale Arbeiten interessieren können, oder bezüglich Intertextualität, Narratologie und Raumtheorie, zu denen es aus struktural-semiotischer Perspektive Modellierungsvorschläge gibt. So dürfte die strukturale Erzähltheorie einen wesentlichen Beitrag zur Erzählforschung geleistet haben, der zudem in Lotmans Modell der semantischen Räume und dessen Grenzüberschreitungstheorie dezidiert raumbezogen ist (vgl. Krah 2014); Titzmann (1989, 2003) hat mit seinen Konzepten des kulturellen Wissens und des Denksystems einen Systematisierungsvorschlag vorgelegt, der neben seiner Relevanz für die Intertextualitätsforschung eine Verbindung zu Diskursanalyse/Wissenspoetik herstellt.

II Grundannahmen

Damit der Umgang mit Literatur als ›wissenschaftlich‹ gelten kann, müssen die Spielregeln der analytischen Wissenschaftstheorie anerkannt werden. Insbesondere ist gefordert, dass Aussagen, Ergebnisse, Thesen argumentativ hergeleitet und intersubjektiv nachvollziehbar sind. Diese Grundannahme bedeutet zum einen, dass Analyse und Interpretation von Texten als Operationen verstanden werden, die prinzipiell erlernbar sind und eingeübt werden können, und dass dazu den Akteuren ein Instrumentarium an die Hand zu geben ist, mit dem sie dies auch realisieren können. Zum anderen impliziert diese Annahme auch, dass die Methodik insofern textunabhängig ist, als sich prinzipiell jeder (literarische) Text mit diesem Handwerkszeug interpretieren lässt und sich Unterschiede dann erst als Ergebnis einer Analyse (aufgrund der Spezifik jedes einzelnen Textes) manifestieren.

Denn eine weitere Grundannahme bezüglich des Gegenstandes Literatur zeigt sich in dem Befund, dass jeder literarische Text ein Text ist und damit dessen prinzipiellen Konstruktionsprinzipien unterliegt: Er ist einerseits semiotisch verfasst (basiert also auf Zeichen) und andererseits an eine Kommunikationssituation rückgebunden, aus der heraus er entstanden ist. Dies heißt ganz banal zunächst, dass sich die Bedeutung (auch) eines (literarischen) Textes insofern rekonstruieren lassen muss, als den Zeichen, aus denen ein Text besteht, aufgrund von Kohärenzmechanismen ein semantisches Potential eigen bzw. inhärent ist. Da der Text in einer konkreten, historisch fixierten Kommunikation verankert und an diese rückzubinden ist, darf das semantische Potential wiederum nicht beliebig aufgefüllt werden. Die Spezifik von Literatur ergibt sich insofern, als Literatur als ästhetische Kommunikation verstanden werden kann, mit Lotman (1981) also als ein sekundäres, modellbildendes, semiotisches System. Sie baut auf dem bestehenden semiotischen System der natürlichen Sprache auf und benutzt dessen Codes (d. h. Codes der Syntax, Semantik, Pragmatik). Sie kann aber darüber hinaus eigene Semantisierungen und Strukturierungen vornehmen, die von diesem vorgelagerten System abweichen oder es verändern und modifizieren (dies meint: sekundäres System); immer wird dabei im konkreten Text ein neues System modelliert und damit ein eigener Weltentwurf kreiert (das meint: modellbildendes System).

III Vorgehensweise und zentrale Begrifflichkeiten

Da ein Text zentraler Faktor ästhetischer Kommunikation ist und dessen Semantik über die möglichen Verfahren, deren sich ein Text bedienen kann, erzeugt wird, steht im Fokus von Strukturalismus/Literatursemiotik der (literarische) Text selbst, nicht aber seine Produktion oder seine Rezeption. Genau dieses eigene System eines Textes zu rekonstruieren, ist Ausgangspunkt struktural-semiotischer Vorgehensweise:

1. Es gilt, den Text in seiner Verfasstheit ernst zu nehmen und diese Verfasstheit und sämtliche Textphänomene möglichst präzise zu beschreiben. Als Grundzugang dient hierzu die Unterscheidung von Discours und Histoire, die in jedem Text zu treffen ist. Der Discours bezieht sich auf die konkret vorliegenden Zeichen in ihrer konkret gegebenen Anordnung, wie sie sich im jeweiligen Medium aufgrund dessen Medialität konstituieren. Das ist für Literatur primär die Schrift, ist aber natürlich nicht auf sie beschränkt und kann je nach Gattung unterschiedlich ausgeprägt sein. Die Histoire bezieht sich auf die Semantiken (Propositionen und Signifikate), auf die die Daten des Discours als Signifikanten verweisen; sie stellt also eine Textdimension dar, die nicht konkret auf der empirisch wahrnehmbaren Oberfläche gegeben ist, sondern die es in einem Akt der Abstraktion und Interpretation zu gewinnen gilt.

Dies kann auf paradigmatische oder syntagmatische Weise geschehen. Paradigmatisches Vorgehen löst sich von der Anordnung des Discours und sucht unabhängig hiervon nach semantischen Gemeinsamkeiten, syntagmatisches Vorgehen folgt dem Discours selbst und versucht, die Bedeutung zu eruieren, die dieser Abfolge zugrunde liegt.

2. Auch wenn die Unterscheidung zwischen Discours und Histoire eine traditionelle (formal vs. inhaltlich) aufzugreifen scheint, artikuliert sich hier eine wesentliche, letztlich namensgebende Grundvorstellung des Strukturalismus. Denn Form und Inhalt stehen sich nicht diametral einander gegenüber, sondern bedingen sich als Struktur: Die konkrete formale Gestaltung eines Textes wird zum Träger der Textsemantik funktionalisiert. Strukturalismus/Literatursemiotik bedienen sich dabei durchaus klassischer, traditioneller Beschreibungsinventare, bauen auf ihnen auf oder modifizieren sie, wie etwa das in der Rhetorik bereitgestellte Arsenal an Tropen (Metapher, Metonymie, Synekdoche) und rhetorischen Figuren zur Beschreibung uneigentlicher Sprachverwendung oder der Metrik zur Darstellung von Segmentierungs- und Rhythmisierungsphänomenen. Dies ist aber kein Selbstzweck, sondern bildet die Basis einer darauf aufbauenden Signifikation (Bedeutungszuweisung), auf die hin solche Beschreibungen ausgerichtet sind: Was bedeutet es, dass genau so gesprochen wird, wie gesprochen wird, dass genau so gegliedert ist, wie gegliedert ist, dass genau so erzählt wird, wie erzählt wird etc.?

3. Prägend für die Vorgehensweise ist grundlegend die Vorstellung einer (Aus-)Wahl, einer Selektion der gegebenen Daten aus dem Pool an möglichen Daten. Kein Text als semiotisches, artifizielles Konstrukt muss so sein, wie er ist. Er könnte bezüglich der kulturell jeweils überhaupt zur Verfügung stehenden Alternativen auch anders sein, sprachlich oder in dem, was er darstellt, oder in dem, was er ausblendet. Da nichts in einem Text selbstverständlich (oder gar natürlich) ist, kann auch alles relevant sein und zur spezifischen Bedeutung eines Textes beitragen. Damit kommt auch denjenigen Textdimensionen besondere Bedeutung zu, die zu den Grundlagen von Texten und Kommunikation gehören und deshalb scheinbar notwendig sind. Dazu gehören das Figurenensemble, die räumliche Organisation und zeitliche Situierung, dazu gehören in narrativen Texten aber auch die Handlung und ihr Verlauf. Auch und insbesondere gehört hier die Sprech-/Erzählsituation eines Textes dazu, der Strukturalismus/Literatursemiotik besonderes Augenmerk schenken. Denn die Daten zur Kommunikationssituation in einem Text – wer wem was wann wo wie warum berichtet – sind nicht mit denen der tatsächlichen Textproduktion zu identifizieren, sondern sind von dieser abgekoppelt. Diese textinterne Pragmatik hat wesentlichen Anteil an der Bedeutungsgenerierung und ist letztlich eine Textdimension, an der sich das Merkmal modellbildend augenscheinlich manifestiert.

4. Da die Zeichen eines Textes nicht in der Beziehung zueinander stehen müssen, wie vom benutzten primären Sprachsystem vorgegeben, bedienen sich Strukturalismus/Literatursemiotik der Beschreibung über semantische Relationen, mit deren Hilfe sie die Textkonzepte zu fassen versuchen, um die Grundordnungen eines Textes zu erkennen. Werden Zeichen im Text in Beziehung gesetzt, obwohl sie dies nicht sein müssten, sind sie also korreliert? Werden sie als gleich behandelt, obwohl es durchaus Unterschiede gäbe, sind sie also äquivalent gesetzt? Schließen sie einander im Text aus und negieren sich damit implizit, auch wenn dies durch das Sprachsystem nicht vorgegeben ist, werden sie also als oppositionell gesetzt?

Über diese Relationen wird versucht, die Paradigmen (Leitdifferenzen, Isotopien) eines Textes wie deren Relevanz zu identifizieren. Ordnungsstiftend ist hierbei zudem die Relation der Homologie, die als zentrales deskriptives wie argumentatives Mittel fungiert, indem sie Zusammenhänge unterschiedlicher Textbereiche etabliert und diese in einen Gesamtzusammenhang bringt.

Aufbauend darauf versucht das Konzept der semantischen Räume, die jeweilige Ordnung des Textes zu rekonstruieren. Eine solche modellbildende Ordnung reduziert natürlich immer die Komplexität des Textes. Dies ist aber mit ihrem Erkenntnisgewinn zu rechtfertigen und immer hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit und Adäquatheit bezüglich der jeweiligen Fragestellung zu diskutieren.

5. Dass der literarische Text selbst der Fokus bezüglich des Zugangs ist, bedeutet nicht, den Text absolut und als in sich geschlossen bzw. hermetisch zu setzen. Entscheidend für die textuellen Möglichkeiten ist seine Kulturalität, sind also die Faktoren und Parameter der ursprünglichen Kommunikationssituation, der er angehört und von der er abhängig ist. Diese kulturelle Rückbindung eines Textes bedeutet auch, dass in den Text Wissen dieser Kultur eingeflossen sein kann. Den Text in den Fokus zu stellen, bedeutet also nicht, ihn als vollkommen autonom zu sehen und von jeder Umwelt abzugrenzen, sondern nur, bei den Beziehungen zu relevanten Kontexten vom Text auszugehen. Aus dessen Struktur ist zu untersuchen, welche textuellen Propositionen auf welche kulturellen referieren, deren Kenntnis im Text also für das Verständnis vorausgesetzt wird, oder welche textuellen Propositionen vor der Folie kultureller Diskurse der Zeit erst ihre Relevanz erhalten. Das Spektrum solcher Einbeziehung kulturellen Wissens reicht dabei von der Begriffsklärung einzelner im Text enthaltener Lexeme (d. h. der kleinsten Einheit des Wortschatzes) oder der Identifizierung einer Strophenform über Kenntnis von literarischen Konventionen, Traditionen und Poetologien oder kulturellen Metaphoriken und Konstellationen bis zur Integration in übergeordnete denk- und mentalitätsgeschichtliche, anthropologische Formationen. Strukturalismus/Literatursemiotik reißen den literarischen Text nicht aus seinem Zusammenhang, sondern versuchen ihn in seiner Bedeutung gerade über diesen Bezug zu bestimmen und vor dieser Folie zu verstehen (s. auch Nies 2011).

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