Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann"

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Editorische Notiz

Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt dem Erstdruck:

Nachtstücke herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier. Erster Theil. Berlin, 1817 [erschienen Ende 1816]. In der Realschulbuchhandlung. [Der Sandmann S. 1−82.]

Die Orthographie wurde auf der Grundlage der gültigen amtlichen Rechtschreibregeln bei Wahrung des Lautstands und sprachlich-stilistischer Eigenheiten behutsam dem heutigen Gebrauch angeglichen. Die Interpunktion blieb gewahrt. Seitenzahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe.

An folgenden Stellen wurde die Fassung der Druckvorlage nach dem Manuskript Hoffmanns korrigiert:

15,7 f. dunkle psychische Macht] dunkle physische Macht

19,8 Klimax] Climax

22,19 Geheimnisse nicht] Geheimnisse

23,18 f. aufgegangen] aufgefangen

37,8 Puppendreher] Peipendreher

Zwei längere Passagen der Handschrift wurden vor dem Druck gestrichen.

II Modellinterpretationen

EINLEITUNG

Von der Methodologie zur Literaturtheorie: neue Kontextualisierungen des literarischen Textes

Von Oliver Jahraus

Dieser Band versammelt siebzehn Beiträge zu methodischen und theoretischen Positionen der Literaturwissenschaft und liefert damit einen breiten Überblick über die Grundlagenforschung in der Literaturwissenschaft. Bei der Auswahl der Beiträge kam es darauf an, einen Überblick von den ›klassische‹, neuere und gegenwärtige Ansätze der Literaturwissenschaft›klassischen‹ über die neueren bis zu den gegenwärtigen Ansätzen der Literaturwissenschaft zu bieten. In jedem Beitrag wird eine literaturtheoretische Position vorgestellt, und es wird – am Beispiel von E. T. A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann (1816) – gezeigt, welchen Nutzen eine solche Position für unseren Umgang mit dem literarischen Text haben kann.

Es geht hier nicht – überflüssig zu betonen – um ein vollständiges Abbild der Theorieentwicklungen in der Literaturwissenschaft. Ziel dieses Buches und der Vorstellung eines Reigens an Modellinterpretationen ist es, das Spektrum an traditionellen und gegenwärtigen methodischen Zugängen zum literarischen Text zumindest im Ansatz deutlich werden zu lassen. Der Band will in historischer Perspektivierung und systematischer Entfaltung den state of the art einer theoretisch fundierten und methodisch reflektierten Literaturwissenschaft erkennbar werden lassen.

Warum muss man literarische Texte überhaupt interpretieren?

Im Grunde genommen geht dieser Band auf eigene Erfahrungen im schulischen Literaturunterricht zurück. Textanalyse war nicht dazu angetan, uns Schüler und Schülerinnen wirklich zu fesseln, und schnell bekamen wir den Eindruck, es ginge nicht wirklich um den Text, sondern vielmehr darum, herauszubekommen, was der Lehrer oder die Lehrerin hören wollte. So kam uns die Frage in den Sinn, warum wir denn überhaupt Texte interpretieren sollten. Auch um zu provozieren, behaupteten wir, ein Text oder – in anderer Sprechweise – ein Autor oder eine Autorin, die nicht in der Lage seien, selbst zu sagen, was sie sagen wollten, denen könne man dies auch nicht mit einer Interpretation nachliefern. Was wir dabei aber übersahen, war, dass es ein generelles Interesse von Leserinnen und Lesern nicht nur an literarischen Texten gibt, sondern auch an deren Interpretationen, was man beispielsweise bei Autorenlesungen zu spüren bekommt. Wird dann in einem solchen Rahmen bisweilen sehr häufig nach den autobiographischen Grundlagen von Texten gefragt, so zeigt dies nur, dass man hofft, in der Biographie des Autors oder der Autorin dasjenige zu finden, was uns hilft, die Bedeutung des Textes irgendwie herauszufinden.

Tatsächlich war aber unsere Provokation gar nicht so weit hergeholt, auch wenn sie auf einem fundamentalen Missverständnis beruhte. Man muss etwa nur umgekehrt fragen, was man über den Begriff des literarischen Textes erfährt, wenn man von seiner Interpretationsbedürftigkeit als Strukturgesetz literarischer TexteInterpretationsbedürftigkeit ausgeht. Noch bevor man eine Antwort auf diese Frage findet, wird man wohl vermuten dürfen, dass diese Antwort etwas Grundlegendes über den literarischen Text selbst aussagt. Was uns Leserinnen und Leser also dazu bringt, nach der Möglichkeit zu fragen, wie wir einen literarischen Text zu verstehen haben, welche Bedeutung ein literarischer Text hat, welche Bedeutung wir ihm zuschreiben können, kurz: wie wir ihn zu interpretieren haben – das muss ein wesentliches Kennzeichnen jener Texte sein, die wir als ›literarische Texte‹ bezeichnen. In den Texten muss also ein Potential verborgen liegen, das uns dazu bringt, ihn verstehen, ihm Bedeutung zuschreiben zu wollen, die wesentlich über das hinausgeht, was wir gerade gelesen haben. Literarische Texte muss man also deswegen interpretieren, weil sie ihre Bedeutung nicht in sich tragen, sondern erst in einem Akt der Interpretation konstituieren. Deswegen sind sie literarische Texte! Das ist ihr Wesenskern und ihr Strukturgesetz.

In anderen Kommunikationsformen und Textsorten im Alltag (z. B. bei Gebrauchsanweisungen) gilt dies dann nicht, wenn sie gut geschrieben sind: Hier fallen idealerweise Text und Interpretation zusammen. Jeder literarische Text aber wäre somit immer schon über sich hinaus eine Quelle fortgesetzter Auseinandersetzungen, die sich ihrerseits in Gesprächen (Gesprächen über Literatur) oder in weiteren Texten äußern können. Solche Folgetexte können beispielsweise die Funktion haben, literarische Texte an Leserinnen und Leser weiterzuvermitteln (Literaturkritik als Medium der LiteraturvermittlungLiteraturkritik als Medium der Literaturvermittlung) oder aber auf wissenschaftliche Weise Zugänge zum Text selbst zu schaffen (Literaturanalyse als Methode der LiteraturwissenschaftLiteraturanalyse als Methode der Literaturwissenschaft), die in diesem Text eben noch nicht offen zutage liegen, weil solche Texte eben gerade nicht mit ihrer eigenen Interpretation zusammenfallen.

Was ist Literatur? Was ist Literaturwissenschaft? Was ist Literaturtheorie?

Im Fall der Literaturwissenschaft werden die beiden Aspekte »Was ist Literatur?« und »Was ist Literaturtheorie?« systematisch miteinander verbunden: Der literarische Status oder die Eigenschaft eines Textes als Literatur, seine Literarizität, und die Art und Weise, wie wir Zugang zu ihm finden (ihn interpretieren), hängen also aufs Engste miteinander zusammen. Ja, man kann so weit gehen, wie Manfred Frank es in einem Aufsatztitel wunderbar zum Ausdruck gebracht hat, zwischen diesen beiden Fragen einen engen Zusammenhang zu sehen: »Was ist ein literarischer Text und was heißt es, ihn zu verstehen?« (vgl. Frank 1990; Jahraus 2004).

Die Frage, was Literatur sei, ist die Grundfrage der LiteraturheorieGrundfrage der Literaturtheorie. Oder anders gewendet: Literaturtheorie ist die Beantwortung der Frage: Was ist Literatur? Beziehungsweise: Was ist ein literarischer Text?

Diese Frage erscheint ganz eigentümlich, weil wir doch anscheinend schon alle wissen, was ein literarischer Text ist. Literaturtheorie hat aber die Aufgabe, unser Selbstverständnis in dieser Frage zu irritieren und das, was uns in oberflächlichen Bezügen und Routinen der Praxis selbstverständlich erscheint, zu hinterfragen und zu verfremden. Sie soll aufzeigen, dass unser Verständnis von Literatur selbst wiederum auf einer Reihe von historischen und konzeptionellen Voraussetzungen beruht. So kann sie die Möglichkeit eröffnen, das betreffende Phänomen (unsere Erfahrung von und mit Literatur) völlig neu zu konzipieren. Wer einen literarischen Text interpretiert, hat ihn zumeist vor sich liegen, und die Frage, was denn dieser Text als literarischer Text sei, stellt sich gar nicht. Wird also der Status des literarischen Textes selbst in Frage gestellt, macht man also den literarischen Text zum Gegenstand einer Literatur-Wissenschaft, so radikalisiert sich die Grundlagenforschung – ›radikalisieren‹ hier durchaus in der eigentlichen Wortbedeutung: Sie geht zurück zu den Wurzeln, zu dem Ursprung ihres eigenen Tuns. Sie geht hinter ihre eigene Praxis zurück und fragt nach dem, womit sie ohnehin schon immer umgeht. Eben dadurch öffnet sie neue Perspektiven, ermöglicht neue Bestimmungen und verändert so auch die Art des Umgangs mit literarischen Texten fundamental.

Damit werden die historischen Wurzeln unseres heutigen, modernen Literaturbegriffs offenbar. Spätestens im 18. Jahrhundert hatte sich (im deutschsprachigen Bereich) ein LiteraturbegriffLiteraturbegriff entwickelt, der drei wesentliche Kennzeichen miteinander verknüpfte:

1 die Schriftlichkeit,

2 den ästhetischen, den rhetorischen, den semantischen und den semiotischen Charakter sowie

3 die Interpretationsbedürftigkeit des literarischen Textes.

Schriftliche Texte, die nicht mehr in eine Gesprächssituation eingebunden sind, sind potentiell ohnehin interpretationsbedürftig (Eco 1992). Moderne Literatur in diesem Sinne konnte und musste deshalb interpretiert werden, weil Sinngebungsinstanzen (Religion, Gesellschaft, Werte z. B.) außerhalb der Literatur nicht mehr umfassend dafür sorgten, dass jede Leserin und jeder Leser wusste oder wissen konnte, worauf er Literatur zu beziehen hatte, um sie zu verstehen. Vielmehr wurde die Frage nach dem Sinn des Textes selbst zu einem genuinen Bestandteil des Rezeptionserlebnisses.

Literatur kann diese Tendenz so weit radikalisieren, dass sie ihren eigenen literarischen Charakter in Frage stellt. 1969 hat Peter Handke ein Gedicht mit dem Titel Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg am 27. 1. 1968 veröffentlicht, das tatsächlich aus nichts anderem besteht als den Namen einer Mannschaftsaufstellung. Der Text wirft damit implizit die Frage auf, wann wir bereit sind, einen Text als literarisch einzustufen und anzuerkennen.

 

Literaturtheorie hat demnach die Aufgabe, überhaupt erst zu bestimmen, was Literatur ist. Literaturtheorie und LiteraturwissenschaftLiteraturtheorie erfüllt damit eine wesentliche Funktion für die Literaturwissenschaft: Sie bestimmt auch, was Gegenstand der Literaturwissenschaft ist. Sie löst die naive Vorstellung auf, wir wüssten immer schon ganz genau, was Literatur ist, und müssten uns dieser nur wissenschaftlich zuwenden. Stattdessen zeigt sie, dass der Text so komplex ist, dass er uns eine Fülle von Möglichkeiten bietet, wie wir uns seiner annehmen können, ja, mehr noch: Sie zeigt uns, dass wir das, was wir als literarischen Text lesen oder verstehen, überhaupt durch diese Form der Zuwendung erst schaffen. Wir konstituieren das Objekt der Literaturwissenschaft, indem wir einen Text als literarischen lesen. Und ihn als literarischen zu lesen ist selbst Teil seiner Interpretation.

Aus diesem Verständnis von Literaturtheorie heraus hat Niels Werber die Idee entwickelt, die das Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft umdreht. Der Vorstellung, es gäbe keine Literaturwissenschaft ohne Literatur, hält er entgegen: »Es gibt keine Literatur – ohne Literaturwissenschaft« (Werber 1997). Damit ist gemeint, dass Literatur seit ihrem Bestehen immer schon eines Begleitdiskurses bedarf, der Auskunft darüber gibt, wann ein Text als literarischer Text zu lesen und zu verstehen ist und wann nicht. Dies haben lange Zeit Poetologien (also Überlegungen darüber, wie man poetische, also im weitesten Sinne auch literarische Texte schreibt) geleistet,1 bevor die Literaturwissenschaft diese Aufgabe übernommen hat.2

Was ist eine Methode? Was heißt Methodendiskussion?

Die Frage, was Literatur sei, führt uns nicht nur zu der Frage, wie man den literarischen Text interpretiert, sondern zeigt auch, dass die Beziehung zwischen dem literarischen Text und der Interpretation keineswegs festgelegt ist, sondern vielmehr durchaus problematisch sein kann. Denn wenn der literarische Text seine eigene Interpretation nicht schon enthält, so heißt dies auch, dass man nicht Frage nach der richtigen Interpretationnach der richtigen Interpretation fragen kann. Ein literarischer Text muss ein gewisses Maß an semantischer Komplexität besitzen, um überhaupt diesen Prozess der Interpretation in Gang setzen zu können, so dass es viele Ansatzpunkte gibt, ihn zu lesen. Von der Interpretation eines (literarischen) Textes oder gar von der richtigen Interpretation kann man dann nicht mehr reden. Hans Magnus Enzensberger hatte einst gefordert: »Bekämpfen Sie das häßliche Laster der Interpretation! Bekämpfen Sie das noch häßlichere Laster der richtigen Interpretation!« Und Siegfried J. Schmidt hat diese Forderung zum Anlass genommen (und als Titel eines Aufsatzes verwendet), um in den 1970er und 1980er Jahren einen neuen Zugang zur Literatur zu entwickeln (vgl. Schmidt 1979).

Damit sieht sich der LiteraturunterrichtLiteraturunterricht an den Schulen mit einem quasi unlösbaren Problem konfrontiert, denn wie soll man etwas vermitteln, bei dem man gar nicht entscheiden kann, ob das Ergebnis – wie zum Beispiel in der Mathematik – richtig oder falsch ist? Tatsächlich geht es eher darum, Kompetenz im wissenschaftlichen Umgang mit TextenKompetenz im wissenschaftlichen Umgang mit Texten zu entwickeln. Dennoch ist auch die Frage nach der richtigen Interpretation und noch mehr der Zweifel daran eine Herausforderung für das Bemühen, die Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft zu bestimmen. Es gibt also viele Möglichkeiten, einen Text zu interpretieren, ja, man kann sogar die Idee der Interpretation als solche vollständig in Frage stellen, so dass man vielleicht sogar besser von Zugängen zum (literarischen) Text oder von Formen des wissenschaftlichen Umgangs mit (literarischen) Texten sprechen sollte.

Was aber heißt dann Wissenschaft und WissenschaftlichkeitWissenschaft, was Wissenschaftlichkeit? Wenn Wissenschaftlichkeit nicht mehr durch die Sache gerechtfertigt werden kann, dann entweder durch das Verfahren oder durch das Ergebnis selbst. Fragen wie die folgenden würden im Mittelpunkt stehen: Wie kommt man zu den Ergebnissen? Ist dieser Weg nachvollziehbar?

Die Frage, wie man einen Text interpretiert, beziehungsweise auf welchem Weg man solches tut, ist also eine methodische Frage, eine Frage der Methodik, Methodologie, MethodendiskussionMethodik (altgriech. méthodos bedeutet ›einem Weg nachgehen‹, ›verfolgen‹). Die Reflexion über die Bedeutung, Funktion und Leistungsfähigkeit der Methodik, also der Anwendung einer Methode, heißt Methodologie. Und die Überlegungen, in welchem Verhältnis verschiedene Methoden zueinander stehen, ob sie konkurrieren oder sich verbinden lassen, heißt Methodendiskussion. Mit diesem Begriff bezeichnet man heute jedoch weniger eine systematische Abgrenzung unterschiedlicher Zugänge als vielmehr eine historische Phase der Literaturwissenschaft in den 1970er und 1980er Jahren (vgl. Hauff 1985/87), in der das Bewusstsein methodischen Vorgehens bei der Interpretation literarischer Texte vorherrschend war.

Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Die älteste methodische Position in der Literaturwissenschaft ist die HermeneutikHermeneutik. Sie ist wesentlich älter als die Literaturwissenschaft und kann auf eine lange Geschichte als Grundlagentheorie des Verstehens von Texten zurückblicken, vor allem in der Theologie und Jurisprudenz. Dort hat sie sich als System von Regeln zur Auslegung der Heiligen Schrift oder der weltlichen Gesetzestexte entwickelt, bevor sie in die Philologie und später, Ende des 19. Jahrhunderts, dann in die ersten Formationen einer Literaturwissenschaft eingewandert ist.

Die größte Herausforderung für die Hermeneutik bildete wohl der StrukturalismusStrukturalismus, der sich aus dem russischen Formalismus und über linguistische und semiotische Modelle entwickelte. Auch wenn der Strukturalismus im Vergleich zur Hermeneutik relativ jung ist, so kann er doch schon auf eine 100-jährige Entwicklung zurückblicken und ist deswegen sicherlich ebenso zu den Klassikern zu zählen. Der Strukturalismus wollte im Gegensatz zur Hermeneutik den Autor und den Interpreten als Bedingungsfaktoren der Interpretation ausschalten und sich stattdessen ausschließlich auf das konzentrieren, was er als (vor allem: semiotische) Strukturen im literarischen Text identifizierte. Der Gegensatz oder die Konkurrenz von Hermeneutik und Strukturalismus (vgl. Ricœur 1973; Eco 1987) spiegelte sich daher auch in unterschiedlichen Begriffen für den Umgang mit Texten wider. Dem (engeren) hermeneutischen Begriff von Interpretation vs. AnalyseInterpretation wurde der Begriff der Analyse entgegengesetzt (vgl. Jahraus 1994).

Als sich im deutschsprachigen Bereich die RezeptionsästhetikRezeptionsästhetik herausbildete, wollte sie die unterschiedlichen Herangehensweisen von Hermeneutik und Strukturalismus miteinander verbinden und somit diese Unterschiede auch überwinden (vgl. Jauß 1969). Sie ging davon aus, dass die Gegebenheiten (Strukturen) des literarischen Textes und die Möglichkeiten des Lesers sich wechselseitig bedingen (Iser 1970) und dass die Interpretation eines literarischen Textes darauf zu achten habe, wie er rezipiert wird oder zu rezipieren ist. Mit der Rezeptionsästhetik setzte eine umfassende Diskussion über die unterschiedlichen, konkurrierenden Methoden in der Literaturwissenschaft ein, die dann als Methodendiskussion in die Fachgeschichte einging.

Die Überbietung oder Überwindung des Strukturalismus durch den Poststrukturalismus und DekonstruktionPoststrukturalismus bzw. die Dekonstruktion gehörte im deutschsprachigen Bereich sicherlich auch noch zu dieser Methodendiskussion. Auch Positionen, die sich weniger als eigenständige, genuine methodische Option, sondern eher als eine Praxis verstanden haben, wie z. B. die Intertextualitätsdebatte, können in dieses Umfeld gezählt werden. IntertextualitätIntertextualität meint, dass Texte immer auf andere Texte verweisen und daher in einem engeren oder weiteren, potentiell offenen und unendlichen Verweissystem stehen und der Zugang zum Text vorrangig über Textbezüge zu finden sei. Der Poststrukturalismus ging davon aus, dass Texte zwar durch Zeichen-Strukturen geprägt sind, aber diese Strukturen sich unendlich fortsetzen und man daher nie an ein Ende kommen könnte. Daraus entwickelte sich die Idee einer Dekonstruktion von Texten, die die Konstruktion von Bedeutungen in und durch literarische Texte nur nachzeichnet, um die Haltlosigkeit einer Interpretation nachzuweisen, die sich auf solches reduzierte, und diese somit auch wieder destruierte.

Postcolonial Studies und New HistoricismPostcolonial Studies und New Historicism wurden im deutschsprachigen Raum wohl erst zu einem Zeitpunkt eingehend rezipiert, als eine Methodendiskussion schon nicht mehr ganz oben auf der Tagesordnung stand. Die Postcolonial Studies gehen auf die Dekonstruktion zurück. Sie rekonstruieren Strukturen in literarischen Texten, die die koloniale Hegemonie, oder abstrakter gesprochen: festgefügte Differenzierungen zum Beispiel zwischen Zentrum und Randgebiet bzw. Peripherie, widerspiegeln, um sie zu entlarven und zu dekonstruieren. Der New Historicism geht davon aus, dass literarische Texte immer im historischen Kontext (der wiederum aus Texten, aber nicht unbedingt literarischen Texten, besteht) gelesen werden müssen, weil Text und Kontext in einem produktiven Austauschverhältnis stehen.

Damit kommt ein neuer Gedanke ins Spiel: Gingen ältere Positionen noch davon aus, dass die Auseinandersetzung mit dem Text selbst, wie immer sie auch gestaltet war, den Zugang zum Text schafft, geht es nunmehr darum, den Zugang über den Kontext zu finden, also methodisch gesprochen: indem man den Text kontextualisiert. Im Falle einiger anderer Positionen wie z. B. der Psychoanalyse, der Diskursanalyse oder der (historischen) Anthropologie kann man diese Entwicklung nachverfolgen. Dabei kann man dann erkennen, wie sich bestimmte Positionen wie die der Psychoanalyse oder der Postcolonial Studies weiterentwickelt und neue Perspektiven z. B. auf eine Ethnographie der LiteraturEthnographie der Literatur oder auf die TraumatheorieTraumatheorie eröffnet haben. Und schließlich finden sich in dem Band auch Beiträge zu neueren Positionen, wie z. B. den Visual StudiesVisual Studies (die aus einer medientheoretisch orientierten Literaturwissenschaft hervorgegangen sind), die Soziologien der Literatur oder die Akteur-Netzwerktheorie (die traditionelle sozialgeschichtliche Ansätze der Literaturwissenschaft durch einen Import und eine Adaptation neuerer soziologischer Theorien hinter sich gelassen haben), daneben auch die Raumtheorie oder die Biopoetik.

Beiträge zu einer Methodendiskussion haben sich aus der Literaturwissenschaft verabschiedet, was ein bemerkenswertes, aber dennoch kaum intensiver reflektiertes Faktum der Fachgeschichte und Theorieentwicklung darstellt. Denn indem die Frage nach der Methode im Umgang mit literarischen Texten in den Hintergrund tritt, verliert auch die Kennzeichnung dieses Umgangs mit literarischen Texten an Bedeutung, sei es nun als Interpretation oder Analyse. Andererseits kann man anhand entsprechender Literaturverzeichnisse und Neuerscheinungskataloge feststellen, dass zwar die Methodologie der Literaturwissenschaft in den Hintergrund rückt, nicht jedoch die Literaturtheorie.

Daran lässt sich ablesen, dass sich das gesamte Feld einer Grundlagenforschung der Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten und Jahren stark gewandelt hat. Das Schwergewicht verlagert sich von der Methodologisierung zur Literaturtheorievon der Methodologisierung auf die Literaturtheorie, also weg von der Frage, wie man einen literarischen Text analysiert oder interpretiert, hin zu der Frage, wie man denn überhaupt bestimmen kann, was ein literarischer Text sei und insbesondere welche Kontexte dabei heranzuziehen seien. Beide Fragen kann man analytisch voneinander trennen, doch in der Praxis gehören sie zusammen, wie ungleichgewichtig die Schwerpunkte auch verteilt sein mögen.

Neuere literaturtheoretische Positionen wollen keine Interpretationstheorie mehr sein und verlegen sich daher auch nicht auf eine methodische Reflexion des Umgangs mit Texten. Eine Gelenkstelle nimmt sicherlich die Dekonstruktion ein, weil die Ansätze, die unter diesem Namen firmieren (Derrida und Paul de Man) am entschiedensten methodische Festlegungen unterlaufen wollten, dazu aber immer noch das Begriffsinventarium von Methoden verwendeten; der ZeichenbegriffZeichenbegriff und seine Wandlung vom Strukturalismus (Identität von Bezeichnendem und Bezeichnetem) zu Poststrukturalismus/Dekonstruktion (Differenz von Bezeichnendem und Bezeichnetem) mag dies besonders sinnfällig werden lassen. Daher ist es nicht ungerechtfertigt, der Dekonstruktion auch ein methodisches Problembewusstsein zu unterstellen, und zwar auch und gerade dort, wo sich ihre Positionen einer Methodologisierung verweigerten. Neuere Positionen nutzen das Potential einer dekonstruktiven Literaturtheorie, also Literatur immer wieder neu zu bestimmen, ohne dabei dies methodische Problembewusstsein mitzuführen. Man könnte in diesen Fällen von einem vergessenen Erbe der Dekonstruktion sprechen.